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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

erheben darf. Die allgemeine Volksschule soll ein Minimum, die Einheitsschule
ein Maximum von Bildung geben. Dazu ist eine Umgestaltung unseres
Bildungswesens nötig; sie wird mit folgender Begründung verlangt:

Angesichts der immer größer werdenden Spaltung unseres Volkes in Klassen,
die sich nicht mehr verstehen, hat die Schule die Pflicht, für größeres Verständnis,
größeren Zusammenhalt zu sorgen. Der Staat aber muß im eigenen Interesse
den niederen Schichten, aus denen heute die Begabten wegen ihrer Armut nicht
zur Höhe der Bildung gelangen können, zu Hilfe kommen. Im Namen der
Sozialethik, nicht auf Grund pädagogischer Ausstellungen wird eine Refor-
mierung der Schule verlangt -- so einschneidend, daß sie das historisch Ge¬
wordene völlig über den Haufen wirft.

Es ist nun eine ziemlich schwierige Frage, ob in der Pädagogik überhaupt
derartige Rücksichten als bewegende Ursachen für Reformen in Betracht kommen
dürfen. Die Vertreter des Prinzips von der völligen Abgeschlossenheit der
Schule dem Leben gegenüber, d. h. also der Richtung, die im vorigen Jahr¬
hundert die maßgebende war, werden a priori diese Forderung ablehnen: ihnen
ist die Schule Selbstzweck, die Bildung um ihrer selbst willen da. Aber auch
wenn man diesen Standpunkt nicht teilt und wenn man aus der Erwägung
heraus, daß die Erziehung sozusagen die Selbsttätige Fortpflanzung der menschlichen
Gesellschaft*) ist, den Einfluß des Lebens und damit natürlich auch der sozialen
Rücksichten auf die Pädagogik fordert, fo erscheint es als ein Gebot der Selbst-
erhaltung für alle Erziehung, wenn sie da, wo pädagogische und soziale Gesichts¬
punkte in Widerspruch geraten, die pädagogischen in den Vordergrund stellt.
Es muß hier also gleich im Anfang mit aller Bestimmtheit gesagt werden, daß
es falsch ist, eine soziale oder besser gesagt sozialistische Forderung einzuführen,
wenn die erziehungstechnischen Bedenken so stark sind, daß von diesem Gesichts¬
punkte aus gegen jene Einspruch erhoben werden muß.

Prüfen wir nun zunächst die sozialethische Begründung auf ihre Richtigkeit:
Die Forderung einer Bildung"- oder Geistesaristokratie, die unabhängig von
Abstammung und Besitz die Ämter lediglich den Tüchtigsten zugänglich machen
soll, hat etwas außerordentlich Bestechendes. Noch stärker muß der Wunsch
einleuchten, namentlich während des jetzigen Krieges, daß die ständischen, politischen,
gefühlsmäßigen Scheidewände in unserem Volke fallen und das Bewußtsein der
Zusammengehörigkeit aller so gestärkt aus dieser großen Zeit hervorgeht, daß
die Klassengegensätze verschwinden. Es fragt sich also nur: wie gestaltet sich
der vorgeschlagene Weg, und wird er unter allen Umständen Erfolg haben?

Zunächst soll die gemeinsame Erziehung in der Volksschule nach denjenigen
Verfechtern des Prinzips der Einheitsschule, die sich auf der mittleren Linie
bewegen, sechs Jahre betragen. Sie versprechen sich davon ein Doppeltes:
einmal, daß die gemeinsam Erzogenen sich nicht mehr fremd gegenüberstehen,



") So P. Barth, Die Geschichte der Erziehung. Verlag von Reisland, Leipzig
Zum Problem der sogenannten Einheitsschule

erheben darf. Die allgemeine Volksschule soll ein Minimum, die Einheitsschule
ein Maximum von Bildung geben. Dazu ist eine Umgestaltung unseres
Bildungswesens nötig; sie wird mit folgender Begründung verlangt:

Angesichts der immer größer werdenden Spaltung unseres Volkes in Klassen,
die sich nicht mehr verstehen, hat die Schule die Pflicht, für größeres Verständnis,
größeren Zusammenhalt zu sorgen. Der Staat aber muß im eigenen Interesse
den niederen Schichten, aus denen heute die Begabten wegen ihrer Armut nicht
zur Höhe der Bildung gelangen können, zu Hilfe kommen. Im Namen der
Sozialethik, nicht auf Grund pädagogischer Ausstellungen wird eine Refor-
mierung der Schule verlangt — so einschneidend, daß sie das historisch Ge¬
wordene völlig über den Haufen wirft.

Es ist nun eine ziemlich schwierige Frage, ob in der Pädagogik überhaupt
derartige Rücksichten als bewegende Ursachen für Reformen in Betracht kommen
dürfen. Die Vertreter des Prinzips von der völligen Abgeschlossenheit der
Schule dem Leben gegenüber, d. h. also der Richtung, die im vorigen Jahr¬
hundert die maßgebende war, werden a priori diese Forderung ablehnen: ihnen
ist die Schule Selbstzweck, die Bildung um ihrer selbst willen da. Aber auch
wenn man diesen Standpunkt nicht teilt und wenn man aus der Erwägung
heraus, daß die Erziehung sozusagen die Selbsttätige Fortpflanzung der menschlichen
Gesellschaft*) ist, den Einfluß des Lebens und damit natürlich auch der sozialen
Rücksichten auf die Pädagogik fordert, fo erscheint es als ein Gebot der Selbst-
erhaltung für alle Erziehung, wenn sie da, wo pädagogische und soziale Gesichts¬
punkte in Widerspruch geraten, die pädagogischen in den Vordergrund stellt.
Es muß hier also gleich im Anfang mit aller Bestimmtheit gesagt werden, daß
es falsch ist, eine soziale oder besser gesagt sozialistische Forderung einzuführen,
wenn die erziehungstechnischen Bedenken so stark sind, daß von diesem Gesichts¬
punkte aus gegen jene Einspruch erhoben werden muß.

Prüfen wir nun zunächst die sozialethische Begründung auf ihre Richtigkeit:
Die Forderung einer Bildung«- oder Geistesaristokratie, die unabhängig von
Abstammung und Besitz die Ämter lediglich den Tüchtigsten zugänglich machen
soll, hat etwas außerordentlich Bestechendes. Noch stärker muß der Wunsch
einleuchten, namentlich während des jetzigen Krieges, daß die ständischen, politischen,
gefühlsmäßigen Scheidewände in unserem Volke fallen und das Bewußtsein der
Zusammengehörigkeit aller so gestärkt aus dieser großen Zeit hervorgeht, daß
die Klassengegensätze verschwinden. Es fragt sich also nur: wie gestaltet sich
der vorgeschlagene Weg, und wird er unter allen Umständen Erfolg haben?

Zunächst soll die gemeinsame Erziehung in der Volksschule nach denjenigen
Verfechtern des Prinzips der Einheitsschule, die sich auf der mittleren Linie
bewegen, sechs Jahre betragen. Sie versprechen sich davon ein Doppeltes:
einmal, daß die gemeinsam Erzogenen sich nicht mehr fremd gegenüberstehen,



") So P. Barth, Die Geschichte der Erziehung. Verlag von Reisland, Leipzig
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[0323] Zum Problem der sogenannten Einheitsschule erheben darf. Die allgemeine Volksschule soll ein Minimum, die Einheitsschule ein Maximum von Bildung geben. Dazu ist eine Umgestaltung unseres Bildungswesens nötig; sie wird mit folgender Begründung verlangt: Angesichts der immer größer werdenden Spaltung unseres Volkes in Klassen, die sich nicht mehr verstehen, hat die Schule die Pflicht, für größeres Verständnis, größeren Zusammenhalt zu sorgen. Der Staat aber muß im eigenen Interesse den niederen Schichten, aus denen heute die Begabten wegen ihrer Armut nicht zur Höhe der Bildung gelangen können, zu Hilfe kommen. Im Namen der Sozialethik, nicht auf Grund pädagogischer Ausstellungen wird eine Refor- mierung der Schule verlangt — so einschneidend, daß sie das historisch Ge¬ wordene völlig über den Haufen wirft. Es ist nun eine ziemlich schwierige Frage, ob in der Pädagogik überhaupt derartige Rücksichten als bewegende Ursachen für Reformen in Betracht kommen dürfen. Die Vertreter des Prinzips von der völligen Abgeschlossenheit der Schule dem Leben gegenüber, d. h. also der Richtung, die im vorigen Jahr¬ hundert die maßgebende war, werden a priori diese Forderung ablehnen: ihnen ist die Schule Selbstzweck, die Bildung um ihrer selbst willen da. Aber auch wenn man diesen Standpunkt nicht teilt und wenn man aus der Erwägung heraus, daß die Erziehung sozusagen die Selbsttätige Fortpflanzung der menschlichen Gesellschaft*) ist, den Einfluß des Lebens und damit natürlich auch der sozialen Rücksichten auf die Pädagogik fordert, fo erscheint es als ein Gebot der Selbst- erhaltung für alle Erziehung, wenn sie da, wo pädagogische und soziale Gesichts¬ punkte in Widerspruch geraten, die pädagogischen in den Vordergrund stellt. Es muß hier also gleich im Anfang mit aller Bestimmtheit gesagt werden, daß es falsch ist, eine soziale oder besser gesagt sozialistische Forderung einzuführen, wenn die erziehungstechnischen Bedenken so stark sind, daß von diesem Gesichts¬ punkte aus gegen jene Einspruch erhoben werden muß. Prüfen wir nun zunächst die sozialethische Begründung auf ihre Richtigkeit: Die Forderung einer Bildung«- oder Geistesaristokratie, die unabhängig von Abstammung und Besitz die Ämter lediglich den Tüchtigsten zugänglich machen soll, hat etwas außerordentlich Bestechendes. Noch stärker muß der Wunsch einleuchten, namentlich während des jetzigen Krieges, daß die ständischen, politischen, gefühlsmäßigen Scheidewände in unserem Volke fallen und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller so gestärkt aus dieser großen Zeit hervorgeht, daß die Klassengegensätze verschwinden. Es fragt sich also nur: wie gestaltet sich der vorgeschlagene Weg, und wird er unter allen Umständen Erfolg haben? Zunächst soll die gemeinsame Erziehung in der Volksschule nach denjenigen Verfechtern des Prinzips der Einheitsschule, die sich auf der mittleren Linie bewegen, sechs Jahre betragen. Sie versprechen sich davon ein Doppeltes: einmal, daß die gemeinsam Erzogenen sich nicht mehr fremd gegenüberstehen, ") So P. Barth, Die Geschichte der Erziehung. Verlag von Reisland, Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/323>, abgerufen am 23.07.2024.