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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des Warschauer deutschen Zcitungswesens

Der Unterschied, der zwischen Zeitung und Zeitschrift heute besteht, war
im achtzehnten Jahrhundert schon vorhanden. Während aber gegenwärtig beide
in der Wahl ihrer Stoffe im großen und ganzen übereinstimmen, wenn man
von ausgesprochenen Fachblättern absieht und nur -- was allerdings sehr
wesentlich ist -- die Art der Behandlung verschieden ist, war im achtzehnten Jahr¬
hundert die Verschiedenheit insofern weitergehend, als die Tageszeitungen, auch
wenn sie nicht täglich erschienen, zum größten Teil durchweg die Gegenstände
der Tagespolitik behandelten und alles andere, wie Kunst. Wissenschaft, Literatur,
besonderen Organen überließen. In Deutschland und in Polen war es wenigstens
so, wenn auch hin und wieder Zeitungen auftauchen, die ihren Inhalt nicht
nur politischen Stoffkreisen entnehmen. Ist es nötig, die gelehrt-poetischen
periodischen Veröffentlichungen Gottscheds, der Bremer Beiträge und namentlich
die Bibliotheken Nicolais kennen zu lernen, wenn man sich mit dem deutschen
Zeitungswesen des achtzehnten Jahrhunderts bekannt machen will, so können
wir in Bezug auf Warschau die entsprechenden Organe auch nicht übergehen,
umsoweniger, als Polen schon ziemlich früh über derartige "Bibliotheken" in
deutscher Sprache verfügte.

Ein polnischer Nicolai, aber noch ungleich vielseitiger als dieser, war
Laurentz Mitzler von Kokos, der Typus eines Gelehrten, wie ihn das siebzehnte
und achtzehnte Jahrhundert in Deutschland reichlich hervorbrachte. Ein Polyhistor,
der auf allen Gebieten zu Hause war. zugleich Theologe, Philosoph, Jurist,
Mediziner, Musiker und Poet, ein ungemein beweglicher, aber wie es nicht
anders sein konnte oberflächlicher Geist, der dennoch zweifellos eine künstlerischere
Natur als Nicolai gewesen ist.

Laurentz Mitzler von Kokos wurde am 25. Juni 1711 zu Wettelsheim im
Herzogtum Ansbach als Sohn eines höheren Beamten geboren. Nach Ab¬
solvierung theologischer Studien in Leipzig widmete er sich der Philosophie und
der Musik, um sich danach auch noch der Rechtswissenschaft und der Medizin
zuzuwenden. In Leipzig hielt er bereits 1736 Vorträge über Mathematik,
Philosophie und Musik. Gleichzeitig fing er an. sich schriftstellerisch zu betätigen.
Zwischen 1736 und 1743 gab er philosophische Abhandlungen, Dichtungen mit
Musik und musikwissenschaftliche Werke heraus, unter denen "Die Anfangsgründe
des Generalbasses", "Der musikalische Starstecher" und "(Zraäu8 x>3rrms8um"
hervorragen. Sein Ruf als Musikkenner verbreitete sich schnell. Dies ver¬
anlaßte ihn 1738, gemeinsam mit Lucchesini und dem Kapellmeister Baemler,
einen musikalischen Verein zu begründen, in dem musiktheoretische Fragen
besprochen wurden. Als Sekretär dieses Vereins hat er von 1739 an eine
musikalische Bibliothek herausgegeben, worin er sich in scharfer Form über
verschiedene musikwissenschaftliche Probleme mit einem der größten Musikkenner
jener Tage, Johann Matheson, auseinandersetzte.

Im Jahre 1743 berief der spätere Kanzler Johann Malachowski Mitzler
als Erzieher seiner Söhne nach Polen. Sechs Jahre lang lebte Mitzler auf


Zur Geschichte des Warschauer deutschen Zcitungswesens

Der Unterschied, der zwischen Zeitung und Zeitschrift heute besteht, war
im achtzehnten Jahrhundert schon vorhanden. Während aber gegenwärtig beide
in der Wahl ihrer Stoffe im großen und ganzen übereinstimmen, wenn man
von ausgesprochenen Fachblättern absieht und nur — was allerdings sehr
wesentlich ist — die Art der Behandlung verschieden ist, war im achtzehnten Jahr¬
hundert die Verschiedenheit insofern weitergehend, als die Tageszeitungen, auch
wenn sie nicht täglich erschienen, zum größten Teil durchweg die Gegenstände
der Tagespolitik behandelten und alles andere, wie Kunst. Wissenschaft, Literatur,
besonderen Organen überließen. In Deutschland und in Polen war es wenigstens
so, wenn auch hin und wieder Zeitungen auftauchen, die ihren Inhalt nicht
nur politischen Stoffkreisen entnehmen. Ist es nötig, die gelehrt-poetischen
periodischen Veröffentlichungen Gottscheds, der Bremer Beiträge und namentlich
die Bibliotheken Nicolais kennen zu lernen, wenn man sich mit dem deutschen
Zeitungswesen des achtzehnten Jahrhunderts bekannt machen will, so können
wir in Bezug auf Warschau die entsprechenden Organe auch nicht übergehen,
umsoweniger, als Polen schon ziemlich früh über derartige „Bibliotheken" in
deutscher Sprache verfügte.

Ein polnischer Nicolai, aber noch ungleich vielseitiger als dieser, war
Laurentz Mitzler von Kokos, der Typus eines Gelehrten, wie ihn das siebzehnte
und achtzehnte Jahrhundert in Deutschland reichlich hervorbrachte. Ein Polyhistor,
der auf allen Gebieten zu Hause war. zugleich Theologe, Philosoph, Jurist,
Mediziner, Musiker und Poet, ein ungemein beweglicher, aber wie es nicht
anders sein konnte oberflächlicher Geist, der dennoch zweifellos eine künstlerischere
Natur als Nicolai gewesen ist.

Laurentz Mitzler von Kokos wurde am 25. Juni 1711 zu Wettelsheim im
Herzogtum Ansbach als Sohn eines höheren Beamten geboren. Nach Ab¬
solvierung theologischer Studien in Leipzig widmete er sich der Philosophie und
der Musik, um sich danach auch noch der Rechtswissenschaft und der Medizin
zuzuwenden. In Leipzig hielt er bereits 1736 Vorträge über Mathematik,
Philosophie und Musik. Gleichzeitig fing er an. sich schriftstellerisch zu betätigen.
Zwischen 1736 und 1743 gab er philosophische Abhandlungen, Dichtungen mit
Musik und musikwissenschaftliche Werke heraus, unter denen „Die Anfangsgründe
des Generalbasses", „Der musikalische Starstecher" und „(Zraäu8 x>3rrms8um"
hervorragen. Sein Ruf als Musikkenner verbreitete sich schnell. Dies ver¬
anlaßte ihn 1738, gemeinsam mit Lucchesini und dem Kapellmeister Baemler,
einen musikalischen Verein zu begründen, in dem musiktheoretische Fragen
besprochen wurden. Als Sekretär dieses Vereins hat er von 1739 an eine
musikalische Bibliothek herausgegeben, worin er sich in scharfer Form über
verschiedene musikwissenschaftliche Probleme mit einem der größten Musikkenner
jener Tage, Johann Matheson, auseinandersetzte.

Im Jahre 1743 berief der spätere Kanzler Johann Malachowski Mitzler
als Erzieher seiner Söhne nach Polen. Sechs Jahre lang lebte Mitzler auf


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[0280] Zur Geschichte des Warschauer deutschen Zcitungswesens Der Unterschied, der zwischen Zeitung und Zeitschrift heute besteht, war im achtzehnten Jahrhundert schon vorhanden. Während aber gegenwärtig beide in der Wahl ihrer Stoffe im großen und ganzen übereinstimmen, wenn man von ausgesprochenen Fachblättern absieht und nur — was allerdings sehr wesentlich ist — die Art der Behandlung verschieden ist, war im achtzehnten Jahr¬ hundert die Verschiedenheit insofern weitergehend, als die Tageszeitungen, auch wenn sie nicht täglich erschienen, zum größten Teil durchweg die Gegenstände der Tagespolitik behandelten und alles andere, wie Kunst. Wissenschaft, Literatur, besonderen Organen überließen. In Deutschland und in Polen war es wenigstens so, wenn auch hin und wieder Zeitungen auftauchen, die ihren Inhalt nicht nur politischen Stoffkreisen entnehmen. Ist es nötig, die gelehrt-poetischen periodischen Veröffentlichungen Gottscheds, der Bremer Beiträge und namentlich die Bibliotheken Nicolais kennen zu lernen, wenn man sich mit dem deutschen Zeitungswesen des achtzehnten Jahrhunderts bekannt machen will, so können wir in Bezug auf Warschau die entsprechenden Organe auch nicht übergehen, umsoweniger, als Polen schon ziemlich früh über derartige „Bibliotheken" in deutscher Sprache verfügte. Ein polnischer Nicolai, aber noch ungleich vielseitiger als dieser, war Laurentz Mitzler von Kokos, der Typus eines Gelehrten, wie ihn das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert in Deutschland reichlich hervorbrachte. Ein Polyhistor, der auf allen Gebieten zu Hause war. zugleich Theologe, Philosoph, Jurist, Mediziner, Musiker und Poet, ein ungemein beweglicher, aber wie es nicht anders sein konnte oberflächlicher Geist, der dennoch zweifellos eine künstlerischere Natur als Nicolai gewesen ist. Laurentz Mitzler von Kokos wurde am 25. Juni 1711 zu Wettelsheim im Herzogtum Ansbach als Sohn eines höheren Beamten geboren. Nach Ab¬ solvierung theologischer Studien in Leipzig widmete er sich der Philosophie und der Musik, um sich danach auch noch der Rechtswissenschaft und der Medizin zuzuwenden. In Leipzig hielt er bereits 1736 Vorträge über Mathematik, Philosophie und Musik. Gleichzeitig fing er an. sich schriftstellerisch zu betätigen. Zwischen 1736 und 1743 gab er philosophische Abhandlungen, Dichtungen mit Musik und musikwissenschaftliche Werke heraus, unter denen „Die Anfangsgründe des Generalbasses", „Der musikalische Starstecher" und „(Zraäu8 x>3rrms8um" hervorragen. Sein Ruf als Musikkenner verbreitete sich schnell. Dies ver¬ anlaßte ihn 1738, gemeinsam mit Lucchesini und dem Kapellmeister Baemler, einen musikalischen Verein zu begründen, in dem musiktheoretische Fragen besprochen wurden. Als Sekretär dieses Vereins hat er von 1739 an eine musikalische Bibliothek herausgegeben, worin er sich in scharfer Form über verschiedene musikwissenschaftliche Probleme mit einem der größten Musikkenner jener Tage, Johann Matheson, auseinandersetzte. Im Jahre 1743 berief der spätere Kanzler Johann Malachowski Mitzler als Erzieher seiner Söhne nach Polen. Sechs Jahre lang lebte Mitzler auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/280>, abgerufen am 23.07.2024.