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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Ministerumwälzungen in Rußland

weitere Momente gewesen: erstens die Stellung Ssasonows im Stürmerschen
Kabinett überhaupt. Wir haben in Rußland während des Krieges eine Periode
erlebt, wo es den Anschein hatte, als ob man den sogenannten Bestrebungen
der Gesellschaft entgegenkommen zu wollen schien. Männer wie Kriwoschein,
Samarin bildeten einmal eine Art Hoffnungssymbol für eine Verständigung
zwischen Regierung und Gesellschaft. Es kam das Ministerium Goremykin,
das diese Hoffnungen anfing zu begraben, es kamen die von Chwostow be¬
günstigten monarchistischen Kongresse, das offene Mißtrauen der Regierung
gegen die gesellschaftlichen Organisationen, es kam schließlich Stürmer, der voll¬
kommen, und da er eine aktivere Persönlichkeit ist als Goremykin, im offen¬
siveren Geiste als dieser die alten bürokratischen Ideale des gegen die Gesell"
schaft gerichteten offiziellen Rußlands wieder aufnahm. Die alten Männer, die
nicht in diesen Rahmen paßten, waren schon längst in der Versenkung ver¬
schwunden, und soweit sie noch da waren, wie der Graf Jgnatiew, bildeten sie
Anomalien, die doch früher oder später zugunsten einer einheitlicheren Aus¬
gestaltung des Kabinetts zum Verschwinden verurteilt sind. Ssasonow gehörte
mit zu diesen Anomalien. Er war ein westeuropäisch gerichteter Mann, der
mit Leuten wie Miljukow auf das intimste zusammenarbeitete. Es schien
zunächst während der Wandlungen im innerrussischen Leben, als ob Ssasonow,
der ja auch eigentlich mit der innerrussischen Politik nichts zu tun hatte, von
ihnen nicht berührt wurde. Mit Stürmers Auftreten auf die Bühne hat sich
darin eine gewisse Wandlung vollzogen. Es war von vornherein aufgefallen,
daß der neue Premier zwar allen Ministerien, nicht aber dem Ministerium an
der Sängerbrücke und dem Ministerium für Volksaufklärung feinen Antritts¬
besuch gemacht hatte. Das hatte programmatische Bedeutung. Es scheint, als
ob gleich von vornherein gewisse Gegensätze zwischen Stürmer und Ssasonow
vorhanden gewesen sind, die schließlich durch den Rücktritt Ssasonows zum
Austrag kamen. "

Endlich aber ist als unmittelbarer Anlaß, nicht als tieferliegender Grund
für den Rücktritt Ssasonows seine Haltung in der polnischen Frage mit aus¬
schlaggebend gewesen. Dies ist nicht nur aus den Äußerungen der englischen
Blätter zu schließen, sondern hauptsächlich auch aus einer Erklärung der
"Rußkoje Slowo", dem früheren Leiborgan von Ssasonow, in der die Meinungs¬
verschiedenheiten Stürmers und Ssasonows über die zukünftige Gestaltung
Polens direkt als Hauptgrund des Rücktritts Ssasonows angegeben werden.
Stürmer ist offenbar der auch von den maßgebenden Rechtsparteien Rußlands
gebilligten Ansicht, daß von einer Autonomie Polens, die weiter geht als etwa
die Gewährung einer provinziellen Selbstverwaltung, nicht die Rede sein kann.
Vielleicht billigt er sogar die Haltung der rechtsstehenden Presse, daß es über¬
haupt vorzeitig für Rußland sei, sich mit der polnischen Frage zu beschäftigen.
Seine absolut negative Haltung zur Polenfrage bedarf jedenfalls nach der
Veröffentlichung der ministeriellen Denkschrift vom April über die polnische


Ministerumwälzungen in Rußland

weitere Momente gewesen: erstens die Stellung Ssasonows im Stürmerschen
Kabinett überhaupt. Wir haben in Rußland während des Krieges eine Periode
erlebt, wo es den Anschein hatte, als ob man den sogenannten Bestrebungen
der Gesellschaft entgegenkommen zu wollen schien. Männer wie Kriwoschein,
Samarin bildeten einmal eine Art Hoffnungssymbol für eine Verständigung
zwischen Regierung und Gesellschaft. Es kam das Ministerium Goremykin,
das diese Hoffnungen anfing zu begraben, es kamen die von Chwostow be¬
günstigten monarchistischen Kongresse, das offene Mißtrauen der Regierung
gegen die gesellschaftlichen Organisationen, es kam schließlich Stürmer, der voll¬
kommen, und da er eine aktivere Persönlichkeit ist als Goremykin, im offen¬
siveren Geiste als dieser die alten bürokratischen Ideale des gegen die Gesell«
schaft gerichteten offiziellen Rußlands wieder aufnahm. Die alten Männer, die
nicht in diesen Rahmen paßten, waren schon längst in der Versenkung ver¬
schwunden, und soweit sie noch da waren, wie der Graf Jgnatiew, bildeten sie
Anomalien, die doch früher oder später zugunsten einer einheitlicheren Aus¬
gestaltung des Kabinetts zum Verschwinden verurteilt sind. Ssasonow gehörte
mit zu diesen Anomalien. Er war ein westeuropäisch gerichteter Mann, der
mit Leuten wie Miljukow auf das intimste zusammenarbeitete. Es schien
zunächst während der Wandlungen im innerrussischen Leben, als ob Ssasonow,
der ja auch eigentlich mit der innerrussischen Politik nichts zu tun hatte, von
ihnen nicht berührt wurde. Mit Stürmers Auftreten auf die Bühne hat sich
darin eine gewisse Wandlung vollzogen. Es war von vornherein aufgefallen,
daß der neue Premier zwar allen Ministerien, nicht aber dem Ministerium an
der Sängerbrücke und dem Ministerium für Volksaufklärung feinen Antritts¬
besuch gemacht hatte. Das hatte programmatische Bedeutung. Es scheint, als
ob gleich von vornherein gewisse Gegensätze zwischen Stürmer und Ssasonow
vorhanden gewesen sind, die schließlich durch den Rücktritt Ssasonows zum
Austrag kamen. »

Endlich aber ist als unmittelbarer Anlaß, nicht als tieferliegender Grund
für den Rücktritt Ssasonows seine Haltung in der polnischen Frage mit aus¬
schlaggebend gewesen. Dies ist nicht nur aus den Äußerungen der englischen
Blätter zu schließen, sondern hauptsächlich auch aus einer Erklärung der
„Rußkoje Slowo", dem früheren Leiborgan von Ssasonow, in der die Meinungs¬
verschiedenheiten Stürmers und Ssasonows über die zukünftige Gestaltung
Polens direkt als Hauptgrund des Rücktritts Ssasonows angegeben werden.
Stürmer ist offenbar der auch von den maßgebenden Rechtsparteien Rußlands
gebilligten Ansicht, daß von einer Autonomie Polens, die weiter geht als etwa
die Gewährung einer provinziellen Selbstverwaltung, nicht die Rede sein kann.
Vielleicht billigt er sogar die Haltung der rechtsstehenden Presse, daß es über¬
haupt vorzeitig für Rußland sei, sich mit der polnischen Frage zu beschäftigen.
Seine absolut negative Haltung zur Polenfrage bedarf jedenfalls nach der
Veröffentlichung der ministeriellen Denkschrift vom April über die polnische


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[0271] Ministerumwälzungen in Rußland weitere Momente gewesen: erstens die Stellung Ssasonows im Stürmerschen Kabinett überhaupt. Wir haben in Rußland während des Krieges eine Periode erlebt, wo es den Anschein hatte, als ob man den sogenannten Bestrebungen der Gesellschaft entgegenkommen zu wollen schien. Männer wie Kriwoschein, Samarin bildeten einmal eine Art Hoffnungssymbol für eine Verständigung zwischen Regierung und Gesellschaft. Es kam das Ministerium Goremykin, das diese Hoffnungen anfing zu begraben, es kamen die von Chwostow be¬ günstigten monarchistischen Kongresse, das offene Mißtrauen der Regierung gegen die gesellschaftlichen Organisationen, es kam schließlich Stürmer, der voll¬ kommen, und da er eine aktivere Persönlichkeit ist als Goremykin, im offen¬ siveren Geiste als dieser die alten bürokratischen Ideale des gegen die Gesell« schaft gerichteten offiziellen Rußlands wieder aufnahm. Die alten Männer, die nicht in diesen Rahmen paßten, waren schon längst in der Versenkung ver¬ schwunden, und soweit sie noch da waren, wie der Graf Jgnatiew, bildeten sie Anomalien, die doch früher oder später zugunsten einer einheitlicheren Aus¬ gestaltung des Kabinetts zum Verschwinden verurteilt sind. Ssasonow gehörte mit zu diesen Anomalien. Er war ein westeuropäisch gerichteter Mann, der mit Leuten wie Miljukow auf das intimste zusammenarbeitete. Es schien zunächst während der Wandlungen im innerrussischen Leben, als ob Ssasonow, der ja auch eigentlich mit der innerrussischen Politik nichts zu tun hatte, von ihnen nicht berührt wurde. Mit Stürmers Auftreten auf die Bühne hat sich darin eine gewisse Wandlung vollzogen. Es war von vornherein aufgefallen, daß der neue Premier zwar allen Ministerien, nicht aber dem Ministerium an der Sängerbrücke und dem Ministerium für Volksaufklärung feinen Antritts¬ besuch gemacht hatte. Das hatte programmatische Bedeutung. Es scheint, als ob gleich von vornherein gewisse Gegensätze zwischen Stürmer und Ssasonow vorhanden gewesen sind, die schließlich durch den Rücktritt Ssasonows zum Austrag kamen. » Endlich aber ist als unmittelbarer Anlaß, nicht als tieferliegender Grund für den Rücktritt Ssasonows seine Haltung in der polnischen Frage mit aus¬ schlaggebend gewesen. Dies ist nicht nur aus den Äußerungen der englischen Blätter zu schließen, sondern hauptsächlich auch aus einer Erklärung der „Rußkoje Slowo", dem früheren Leiborgan von Ssasonow, in der die Meinungs¬ verschiedenheiten Stürmers und Ssasonows über die zukünftige Gestaltung Polens direkt als Hauptgrund des Rücktritts Ssasonows angegeben werden. Stürmer ist offenbar der auch von den maßgebenden Rechtsparteien Rußlands gebilligten Ansicht, daß von einer Autonomie Polens, die weiter geht als etwa die Gewährung einer provinziellen Selbstverwaltung, nicht die Rede sein kann. Vielleicht billigt er sogar die Haltung der rechtsstehenden Presse, daß es über¬ haupt vorzeitig für Rußland sei, sich mit der polnischen Frage zu beschäftigen. Seine absolut negative Haltung zur Polenfrage bedarf jedenfalls nach der Veröffentlichung der ministeriellen Denkschrift vom April über die polnische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/271>, abgerufen am 23.07.2024.