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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Rudolf Gneist

übernehmen zu lassen, während Falk dafür das Justizministerium eintauschen
sollte.

In der Folgezeit war es namentlich das große Gebiet der Reichsjustiz¬
gesetze von 1877, Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozeßordnung. Strafproze߬
ordnung und Konkursordnung, die den Parlamentarier Gneist beschäftigten.
Auch hier hatte er vorher schon literatisch das Wort ergriffen mit der Forderung
freier Advokatur. Die Reichsjustizgesetze brachten dem deutschen Volke wenigstens
ein weiteres Stück Rechtseinheit, während sie sachlich einen gewaltigen Rück¬
schritt gegenüber der bewährten preußischen Gesetzgebung bedeuteten. Die freie
Advokatur vollends, weit davon entfernt, die auf sie gesetzten Hoffnungen zu
verwirklichen, richtete binnen weniger Jahre die alte bewährte preußische An¬
waltschaft zu Grunde. Die Durchführung seiner Ideale des Rechtsstaates und
der Vermaltungsgerichte erfolgte schließlich durch konservative Staatsmänner in
der preußischen Verwaltungsreform von 1872 bis 1883.

Nicht genug mit dieser doppelten parlamentarischen Tätigkeit in Landtag
und Reichstag, widmete sich Gneist auch sonst mannigfach öffentlichen Interessen.
Dem 1860 begründeten Deutschen Juristentage hat er in dessen alle ein bis
zwei Jahre sich wiederholenden Tagungen zwölfmal vorgesessen. Ebenso war
er Mitglied der Savignystiftung. Als 1872 der Verein für Sozialpolitik zum
ersten Male zusammentrat, war er auch dessen erster Vorsitzender. Auch dem
Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen gehörte er seit 1851 als
Mitglied, seit 1869 als Vorsitzender an.

Trotz der Wirksamkeit in den beiden letzten Vereinigungen stand er eigent¬
lich wie der alte Liberalismus überhaupt dem sozialen Problem ziemlich ratlos
gegenüber. Die Formel der Selbstverwaltung im Dienste für den Staat mußte
versagen, wo die sozialen Forderungen sich mit Urgewalt geltend machten.

Neben dieser ausgedehnten öffentlichen Wirksamkeit blieb für die akademische
Lehrtätigkeit wenig Zeit übrig, obgleich er regelmäßig dreizehn Stunden wöchent¬
lich las, und große Scharen von Zuhörern sich zu dem berühmten Manne
drängten. Als er noch in der Blüte der Schaffenskraft stand, schlug, un¬
beeinflußt von ihm, die Entwicklung der deutschen Staatsrechtsivissenschaft in
Straßburg, Tübingen und München neue Bahnen ein. Nirgends wurde das
schmerzlicher empfunden als im preußischen Unterrichtsministerium.

Dem Politiker schien eine größere Zukunft zu winken als dem Gelehrten.
Schon 1863 auf der Höhe der Konfliktszeit feierte ein namenloser Aufsatz in
"Unserer Zeit" Gneist als den kommenden Mann, der, an die richtige Stelle
gesetzt, eine Wirksamkeit entfalten könne wie nur einer der Großen der Stein-
Hardenbergischen Zeit. Aber dieser kommende Mann ist er geblieben.

Der alte König und Kaiser Wilhelm der Erste hatte gegen Gneist immer
ein ehrliches Mißtrauen von 1348 her, wo er die Oktroyierung der Ver¬
fassungsurkunde für rechtswidrig erklärt hatte, und von der Konfliktszeit her,
wo er dem Kriegsminister das Kainszeichen des Eidbruches anheften wollte.


Rudolf Gneist

übernehmen zu lassen, während Falk dafür das Justizministerium eintauschen
sollte.

In der Folgezeit war es namentlich das große Gebiet der Reichsjustiz¬
gesetze von 1877, Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozeßordnung. Strafproze߬
ordnung und Konkursordnung, die den Parlamentarier Gneist beschäftigten.
Auch hier hatte er vorher schon literatisch das Wort ergriffen mit der Forderung
freier Advokatur. Die Reichsjustizgesetze brachten dem deutschen Volke wenigstens
ein weiteres Stück Rechtseinheit, während sie sachlich einen gewaltigen Rück¬
schritt gegenüber der bewährten preußischen Gesetzgebung bedeuteten. Die freie
Advokatur vollends, weit davon entfernt, die auf sie gesetzten Hoffnungen zu
verwirklichen, richtete binnen weniger Jahre die alte bewährte preußische An¬
waltschaft zu Grunde. Die Durchführung seiner Ideale des Rechtsstaates und
der Vermaltungsgerichte erfolgte schließlich durch konservative Staatsmänner in
der preußischen Verwaltungsreform von 1872 bis 1883.

Nicht genug mit dieser doppelten parlamentarischen Tätigkeit in Landtag
und Reichstag, widmete sich Gneist auch sonst mannigfach öffentlichen Interessen.
Dem 1860 begründeten Deutschen Juristentage hat er in dessen alle ein bis
zwei Jahre sich wiederholenden Tagungen zwölfmal vorgesessen. Ebenso war
er Mitglied der Savignystiftung. Als 1872 der Verein für Sozialpolitik zum
ersten Male zusammentrat, war er auch dessen erster Vorsitzender. Auch dem
Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen gehörte er seit 1851 als
Mitglied, seit 1869 als Vorsitzender an.

Trotz der Wirksamkeit in den beiden letzten Vereinigungen stand er eigent¬
lich wie der alte Liberalismus überhaupt dem sozialen Problem ziemlich ratlos
gegenüber. Die Formel der Selbstverwaltung im Dienste für den Staat mußte
versagen, wo die sozialen Forderungen sich mit Urgewalt geltend machten.

Neben dieser ausgedehnten öffentlichen Wirksamkeit blieb für die akademische
Lehrtätigkeit wenig Zeit übrig, obgleich er regelmäßig dreizehn Stunden wöchent¬
lich las, und große Scharen von Zuhörern sich zu dem berühmten Manne
drängten. Als er noch in der Blüte der Schaffenskraft stand, schlug, un¬
beeinflußt von ihm, die Entwicklung der deutschen Staatsrechtsivissenschaft in
Straßburg, Tübingen und München neue Bahnen ein. Nirgends wurde das
schmerzlicher empfunden als im preußischen Unterrichtsministerium.

Dem Politiker schien eine größere Zukunft zu winken als dem Gelehrten.
Schon 1863 auf der Höhe der Konfliktszeit feierte ein namenloser Aufsatz in
„Unserer Zeit" Gneist als den kommenden Mann, der, an die richtige Stelle
gesetzt, eine Wirksamkeit entfalten könne wie nur einer der Großen der Stein-
Hardenbergischen Zeit. Aber dieser kommende Mann ist er geblieben.

Der alte König und Kaiser Wilhelm der Erste hatte gegen Gneist immer
ein ehrliches Mißtrauen von 1348 her, wo er die Oktroyierung der Ver¬
fassungsurkunde für rechtswidrig erklärt hatte, und von der Konfliktszeit her,
wo er dem Kriegsminister das Kainszeichen des Eidbruches anheften wollte.


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[0188] Rudolf Gneist übernehmen zu lassen, während Falk dafür das Justizministerium eintauschen sollte. In der Folgezeit war es namentlich das große Gebiet der Reichsjustiz¬ gesetze von 1877, Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozeßordnung. Strafproze߬ ordnung und Konkursordnung, die den Parlamentarier Gneist beschäftigten. Auch hier hatte er vorher schon literatisch das Wort ergriffen mit der Forderung freier Advokatur. Die Reichsjustizgesetze brachten dem deutschen Volke wenigstens ein weiteres Stück Rechtseinheit, während sie sachlich einen gewaltigen Rück¬ schritt gegenüber der bewährten preußischen Gesetzgebung bedeuteten. Die freie Advokatur vollends, weit davon entfernt, die auf sie gesetzten Hoffnungen zu verwirklichen, richtete binnen weniger Jahre die alte bewährte preußische An¬ waltschaft zu Grunde. Die Durchführung seiner Ideale des Rechtsstaates und der Vermaltungsgerichte erfolgte schließlich durch konservative Staatsmänner in der preußischen Verwaltungsreform von 1872 bis 1883. Nicht genug mit dieser doppelten parlamentarischen Tätigkeit in Landtag und Reichstag, widmete sich Gneist auch sonst mannigfach öffentlichen Interessen. Dem 1860 begründeten Deutschen Juristentage hat er in dessen alle ein bis zwei Jahre sich wiederholenden Tagungen zwölfmal vorgesessen. Ebenso war er Mitglied der Savignystiftung. Als 1872 der Verein für Sozialpolitik zum ersten Male zusammentrat, war er auch dessen erster Vorsitzender. Auch dem Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen gehörte er seit 1851 als Mitglied, seit 1869 als Vorsitzender an. Trotz der Wirksamkeit in den beiden letzten Vereinigungen stand er eigent¬ lich wie der alte Liberalismus überhaupt dem sozialen Problem ziemlich ratlos gegenüber. Die Formel der Selbstverwaltung im Dienste für den Staat mußte versagen, wo die sozialen Forderungen sich mit Urgewalt geltend machten. Neben dieser ausgedehnten öffentlichen Wirksamkeit blieb für die akademische Lehrtätigkeit wenig Zeit übrig, obgleich er regelmäßig dreizehn Stunden wöchent¬ lich las, und große Scharen von Zuhörern sich zu dem berühmten Manne drängten. Als er noch in der Blüte der Schaffenskraft stand, schlug, un¬ beeinflußt von ihm, die Entwicklung der deutschen Staatsrechtsivissenschaft in Straßburg, Tübingen und München neue Bahnen ein. Nirgends wurde das schmerzlicher empfunden als im preußischen Unterrichtsministerium. Dem Politiker schien eine größere Zukunft zu winken als dem Gelehrten. Schon 1863 auf der Höhe der Konfliktszeit feierte ein namenloser Aufsatz in „Unserer Zeit" Gneist als den kommenden Mann, der, an die richtige Stelle gesetzt, eine Wirksamkeit entfalten könne wie nur einer der Großen der Stein- Hardenbergischen Zeit. Aber dieser kommende Mann ist er geblieben. Der alte König und Kaiser Wilhelm der Erste hatte gegen Gneist immer ein ehrliches Mißtrauen von 1348 her, wo er die Oktroyierung der Ver¬ fassungsurkunde für rechtswidrig erklärt hatte, und von der Konfliktszeit her, wo er dem Kriegsminister das Kainszeichen des Eidbruches anheften wollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/188>, abgerufen am 23.07.2024.