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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Rudolf Gneist

England als Rechtsstaat erschien, nur verknöcherte patrimoniale Verwaltung des
Mittelalters. Erst seit dem Zeitalter der Königin Viktoria machten sich modernere
Bildungen der Verwaltung geltend, gegen die Gneist eine entschiedene
Abneigung hegte. Dagegen waren die Grundlagen des Rechtsstaates bereits
im preußischen Landrechte von 1794 gegeben und bedurften nur weiterer Ent¬
wicklung. Innerhalb des Rahmens des Rechtsstaates galt es, die englische
Selbstverwaltung auf Deutschland zu übertragen, freilich, wie Gneist immer
betonte, auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse. Aber von dem englischen
Friedensrichter, der im Mittelpunkte des englischen Selfgovernement steht und
als gutsherrlicher Pascha über seinen Hintersassen waltet, weiß der englische
Geschichtsschreiber Macaulay nur das wenig rühmliche Zeugnis abzulegen, daß
seine Rechtsprechung immerhin noch besser sei als gar keine. Währendessen
hatten wir seit der Steinschen Städteordnung von 1808 eine deutsche Gemeinde¬
freiheit, der England nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen hat. Die
preußische Verwaltungsreform brauchte nur auf diesen Grundlagen fortzubauen
und hat dies auch später in den siebziger und achtziger Jahren getan.

Doch es war von jeher deutsche Schwäche, Eigenes gering zu achten,
Fremdes über Gebühr zu preisen. Diesem Zuge deutschen Geisteslebens trugen
die Schriften Greises über England Rechnung. Seine Forderungen über die
weitere Entwicklung der preußischen Verwaltung mußten um so mehr Beachtung
finden, als sie sich in die Behauptung kleideten: So ist es in England. Das
war von durchschlagender Wirkung, namentlich für den Liberalismus der
damaligen Zeit. Niemand wunderte sich wohl über diese Verherrlichung ihrer
veralteten und zurückgebliebenen Verwaltung, die der Zeitgenosse Dickens in
den schauderbarsten Farben schildert, mehr als die Engländer selbst. Auch der
maßlose Dünkel des Jnselvolkes hatte sie bisher nicht ahnen lassen, was für
eine ideale und mustergültige Verwaltung England eigentlich besaß. So
erkannten die Glückwunschschreiben englischer Universitäten zu Greises funfzig¬
jährigen Doktorjubiläum im Jahre 1888 dankbar an, daß er den Engländern
selbst erst die richtige Erkenntnis englischen Staatsrechts eröffnet habe. Durch
Gneist hatten sie neue politische Tugenden in sich erkennen lernen, von denen sie
selbst in angeborener englischer Bescheidenheit bisher keine Ahnung gehabt hatten.

Mit der Regentschaft von 1858 ging die Regierung Friedrich Wilhelms
des Vierten und die Reaktionszeit zu Ende. Man sprach von einer neuen Ära.
Auch für die Wirksamkeit Greises brach eine neue Zeit an. Sein englisches
Verwaltungsrecht hatte seinen Ruhm begründet. Im Jahre 1858 erhielt Gneist
an der Berliner Universität eine ordentliche Professur, und sehr bald beteiligte
er sich als Abgeordneter lebhaft am politischen Leben.

In die sechziger und die siebziger Jahre fallen die Höhepunkte der
parlamentarischen Wirksamkeit Greises, vor 1866 als Mitglied des sogenannten
linken Zentrums, das natürlich mit der späteren Zentrumspartei nichts zu tun
hatte, nach 1866 der nationalliberalen Partei, anfangs nur im preußischen


Rudolf Gneist

England als Rechtsstaat erschien, nur verknöcherte patrimoniale Verwaltung des
Mittelalters. Erst seit dem Zeitalter der Königin Viktoria machten sich modernere
Bildungen der Verwaltung geltend, gegen die Gneist eine entschiedene
Abneigung hegte. Dagegen waren die Grundlagen des Rechtsstaates bereits
im preußischen Landrechte von 1794 gegeben und bedurften nur weiterer Ent¬
wicklung. Innerhalb des Rahmens des Rechtsstaates galt es, die englische
Selbstverwaltung auf Deutschland zu übertragen, freilich, wie Gneist immer
betonte, auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse. Aber von dem englischen
Friedensrichter, der im Mittelpunkte des englischen Selfgovernement steht und
als gutsherrlicher Pascha über seinen Hintersassen waltet, weiß der englische
Geschichtsschreiber Macaulay nur das wenig rühmliche Zeugnis abzulegen, daß
seine Rechtsprechung immerhin noch besser sei als gar keine. Währendessen
hatten wir seit der Steinschen Städteordnung von 1808 eine deutsche Gemeinde¬
freiheit, der England nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen hat. Die
preußische Verwaltungsreform brauchte nur auf diesen Grundlagen fortzubauen
und hat dies auch später in den siebziger und achtziger Jahren getan.

Doch es war von jeher deutsche Schwäche, Eigenes gering zu achten,
Fremdes über Gebühr zu preisen. Diesem Zuge deutschen Geisteslebens trugen
die Schriften Greises über England Rechnung. Seine Forderungen über die
weitere Entwicklung der preußischen Verwaltung mußten um so mehr Beachtung
finden, als sie sich in die Behauptung kleideten: So ist es in England. Das
war von durchschlagender Wirkung, namentlich für den Liberalismus der
damaligen Zeit. Niemand wunderte sich wohl über diese Verherrlichung ihrer
veralteten und zurückgebliebenen Verwaltung, die der Zeitgenosse Dickens in
den schauderbarsten Farben schildert, mehr als die Engländer selbst. Auch der
maßlose Dünkel des Jnselvolkes hatte sie bisher nicht ahnen lassen, was für
eine ideale und mustergültige Verwaltung England eigentlich besaß. So
erkannten die Glückwunschschreiben englischer Universitäten zu Greises funfzig¬
jährigen Doktorjubiläum im Jahre 1888 dankbar an, daß er den Engländern
selbst erst die richtige Erkenntnis englischen Staatsrechts eröffnet habe. Durch
Gneist hatten sie neue politische Tugenden in sich erkennen lernen, von denen sie
selbst in angeborener englischer Bescheidenheit bisher keine Ahnung gehabt hatten.

Mit der Regentschaft von 1858 ging die Regierung Friedrich Wilhelms
des Vierten und die Reaktionszeit zu Ende. Man sprach von einer neuen Ära.
Auch für die Wirksamkeit Greises brach eine neue Zeit an. Sein englisches
Verwaltungsrecht hatte seinen Ruhm begründet. Im Jahre 1858 erhielt Gneist
an der Berliner Universität eine ordentliche Professur, und sehr bald beteiligte
er sich als Abgeordneter lebhaft am politischen Leben.

In die sechziger und die siebziger Jahre fallen die Höhepunkte der
parlamentarischen Wirksamkeit Greises, vor 1866 als Mitglied des sogenannten
linken Zentrums, das natürlich mit der späteren Zentrumspartei nichts zu tun
hatte, nach 1866 der nationalliberalen Partei, anfangs nur im preußischen


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[0186] Rudolf Gneist England als Rechtsstaat erschien, nur verknöcherte patrimoniale Verwaltung des Mittelalters. Erst seit dem Zeitalter der Königin Viktoria machten sich modernere Bildungen der Verwaltung geltend, gegen die Gneist eine entschiedene Abneigung hegte. Dagegen waren die Grundlagen des Rechtsstaates bereits im preußischen Landrechte von 1794 gegeben und bedurften nur weiterer Ent¬ wicklung. Innerhalb des Rahmens des Rechtsstaates galt es, die englische Selbstverwaltung auf Deutschland zu übertragen, freilich, wie Gneist immer betonte, auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse. Aber von dem englischen Friedensrichter, der im Mittelpunkte des englischen Selfgovernement steht und als gutsherrlicher Pascha über seinen Hintersassen waltet, weiß der englische Geschichtsschreiber Macaulay nur das wenig rühmliche Zeugnis abzulegen, daß seine Rechtsprechung immerhin noch besser sei als gar keine. Währendessen hatten wir seit der Steinschen Städteordnung von 1808 eine deutsche Gemeinde¬ freiheit, der England nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen hat. Die preußische Verwaltungsreform brauchte nur auf diesen Grundlagen fortzubauen und hat dies auch später in den siebziger und achtziger Jahren getan. Doch es war von jeher deutsche Schwäche, Eigenes gering zu achten, Fremdes über Gebühr zu preisen. Diesem Zuge deutschen Geisteslebens trugen die Schriften Greises über England Rechnung. Seine Forderungen über die weitere Entwicklung der preußischen Verwaltung mußten um so mehr Beachtung finden, als sie sich in die Behauptung kleideten: So ist es in England. Das war von durchschlagender Wirkung, namentlich für den Liberalismus der damaligen Zeit. Niemand wunderte sich wohl über diese Verherrlichung ihrer veralteten und zurückgebliebenen Verwaltung, die der Zeitgenosse Dickens in den schauderbarsten Farben schildert, mehr als die Engländer selbst. Auch der maßlose Dünkel des Jnselvolkes hatte sie bisher nicht ahnen lassen, was für eine ideale und mustergültige Verwaltung England eigentlich besaß. So erkannten die Glückwunschschreiben englischer Universitäten zu Greises funfzig¬ jährigen Doktorjubiläum im Jahre 1888 dankbar an, daß er den Engländern selbst erst die richtige Erkenntnis englischen Staatsrechts eröffnet habe. Durch Gneist hatten sie neue politische Tugenden in sich erkennen lernen, von denen sie selbst in angeborener englischer Bescheidenheit bisher keine Ahnung gehabt hatten. Mit der Regentschaft von 1858 ging die Regierung Friedrich Wilhelms des Vierten und die Reaktionszeit zu Ende. Man sprach von einer neuen Ära. Auch für die Wirksamkeit Greises brach eine neue Zeit an. Sein englisches Verwaltungsrecht hatte seinen Ruhm begründet. Im Jahre 1858 erhielt Gneist an der Berliner Universität eine ordentliche Professur, und sehr bald beteiligte er sich als Abgeordneter lebhaft am politischen Leben. In die sechziger und die siebziger Jahre fallen die Höhepunkte der parlamentarischen Wirksamkeit Greises, vor 1866 als Mitglied des sogenannten linken Zentrums, das natürlich mit der späteren Zentrumspartei nichts zu tun hatte, nach 1866 der nationalliberalen Partei, anfangs nur im preußischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/186>, abgerufen am 23.07.2024.