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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Wege des Geistes in der Sprache
Professor or. Alfred Götze von

le Urkunden und Denkmäler, aus denen die Wissenschaft Schlüsse
auf das geistige Leben unserer Vorzeit ziehen kann, reichen nicht
allzu weit zurück. Ein geistiges Leben hat bei den Deutschen
bestanden, längst vordem das älteste uns erhaltene Bauwerk
errichtet, das älteste uns noch vorliegende Blatt beschrieben wurde.
Gerade die grundlegende Zeit bleibt uns auf direktem Weg unzugänglich. Um
Kunde aus jenen Jahrtausenden ohne urkundliche Beglaubigung zu erhalten,
müssen wir uns an Zeugen anderer Art wenden, und seltsam: während die
gemauerten und gebildeten, gemalten und geschriebenen Denkmäler nach langem
Todesschlaf zu neuem Leben erweckt werden mußten, leben von jenen anderen
Zeugen ältesten Geisteslebens nicht wenige in täglicher Nachbarschaft und
ungebrochener Entwicklung bei uns und mit uns fort. Sie brauchen nur ins
Bewußtsein gerufen zu werden, um ihr Zeugnis abzulegen.

Unser Zahlwort zwei hat mit dem Substantiv Zweig zunächst eine äußere
Ähnlichkeit, diese Gleichheit im Lautkörper der beiden ist aber Ausdruck und
Folge ihrer sprachlichen Verwandtschaft. Neben Zweig und Zwiesel
.gegabelter Ast' stehen gleichbedeutend das indische Feminin paya und ein
germanischer Substantiostamm >vija,-, der in unserem Neutrum Geweih
fortlebt. Entsprechend stellt sich neben den indogermanischen Ausdruck der
Zweiheit alvi eine gleichbedeutende Nebenform ol in lateinisch viZinti .zwanzig,
zweimal zehn'. Der Zweig als .Gabelung' ist sinnlich wahrnehmbar und damit
uralter direkter Benennung fähig, der unsinnliche Begriff der Zweiheit mußte
mit Hilfe einer Metapher benannt werden. Diese griff dahin, wo die lebendige
Natur, die den ursprünglichen Menschen allbeherrschend, auch sein Denken
beherrschend, umgab, ihm die Zweiheit am anschaulichsten, aufdringlichsten,
nützlichsten darbot: zum Baum und seiner Astgabel. Zufall und Willkür darf
man hier nicht annehmen, eine bestimmte Konstitution des Geistes lag voraus,
eine gegebene Umwelt bestimmte die Richtung und beide offenbaren sich uns
aus dem heute noch vorliegenden Befund, wenn wir ihn richtig deuten.

Schon viel weniger sicher sind wir der richtigen Deutung beim sprachlichen
Ausdruck der Dreiheit. Für unser Zahlwort drei fehlt bisher die zwingende
Anknüpfung an Konkreta, immerhin kann als Vermutung ausgesprochen werden,
es sei mit unserem Zeitwort drehen urverwandt. Wie beiderlei Begriffe zu




Wege des Geistes in der Sprache
Professor or. Alfred Götze von

le Urkunden und Denkmäler, aus denen die Wissenschaft Schlüsse
auf das geistige Leben unserer Vorzeit ziehen kann, reichen nicht
allzu weit zurück. Ein geistiges Leben hat bei den Deutschen
bestanden, längst vordem das älteste uns erhaltene Bauwerk
errichtet, das älteste uns noch vorliegende Blatt beschrieben wurde.
Gerade die grundlegende Zeit bleibt uns auf direktem Weg unzugänglich. Um
Kunde aus jenen Jahrtausenden ohne urkundliche Beglaubigung zu erhalten,
müssen wir uns an Zeugen anderer Art wenden, und seltsam: während die
gemauerten und gebildeten, gemalten und geschriebenen Denkmäler nach langem
Todesschlaf zu neuem Leben erweckt werden mußten, leben von jenen anderen
Zeugen ältesten Geisteslebens nicht wenige in täglicher Nachbarschaft und
ungebrochener Entwicklung bei uns und mit uns fort. Sie brauchen nur ins
Bewußtsein gerufen zu werden, um ihr Zeugnis abzulegen.

Unser Zahlwort zwei hat mit dem Substantiv Zweig zunächst eine äußere
Ähnlichkeit, diese Gleichheit im Lautkörper der beiden ist aber Ausdruck und
Folge ihrer sprachlichen Verwandtschaft. Neben Zweig und Zwiesel
.gegabelter Ast' stehen gleichbedeutend das indische Feminin paya und ein
germanischer Substantiostamm >vija,-, der in unserem Neutrum Geweih
fortlebt. Entsprechend stellt sich neben den indogermanischen Ausdruck der
Zweiheit alvi eine gleichbedeutende Nebenform ol in lateinisch viZinti .zwanzig,
zweimal zehn'. Der Zweig als .Gabelung' ist sinnlich wahrnehmbar und damit
uralter direkter Benennung fähig, der unsinnliche Begriff der Zweiheit mußte
mit Hilfe einer Metapher benannt werden. Diese griff dahin, wo die lebendige
Natur, die den ursprünglichen Menschen allbeherrschend, auch sein Denken
beherrschend, umgab, ihm die Zweiheit am anschaulichsten, aufdringlichsten,
nützlichsten darbot: zum Baum und seiner Astgabel. Zufall und Willkür darf
man hier nicht annehmen, eine bestimmte Konstitution des Geistes lag voraus,
eine gegebene Umwelt bestimmte die Richtung und beide offenbaren sich uns
aus dem heute noch vorliegenden Befund, wenn wir ihn richtig deuten.

Schon viel weniger sicher sind wir der richtigen Deutung beim sprachlichen
Ausdruck der Dreiheit. Für unser Zahlwort drei fehlt bisher die zwingende
Anknüpfung an Konkreta, immerhin kann als Vermutung ausgesprochen werden,
es sei mit unserem Zeitwort drehen urverwandt. Wie beiderlei Begriffe zu


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[0170] [Abbildung] Wege des Geistes in der Sprache Professor or. Alfred Götze von le Urkunden und Denkmäler, aus denen die Wissenschaft Schlüsse auf das geistige Leben unserer Vorzeit ziehen kann, reichen nicht allzu weit zurück. Ein geistiges Leben hat bei den Deutschen bestanden, längst vordem das älteste uns erhaltene Bauwerk errichtet, das älteste uns noch vorliegende Blatt beschrieben wurde. Gerade die grundlegende Zeit bleibt uns auf direktem Weg unzugänglich. Um Kunde aus jenen Jahrtausenden ohne urkundliche Beglaubigung zu erhalten, müssen wir uns an Zeugen anderer Art wenden, und seltsam: während die gemauerten und gebildeten, gemalten und geschriebenen Denkmäler nach langem Todesschlaf zu neuem Leben erweckt werden mußten, leben von jenen anderen Zeugen ältesten Geisteslebens nicht wenige in täglicher Nachbarschaft und ungebrochener Entwicklung bei uns und mit uns fort. Sie brauchen nur ins Bewußtsein gerufen zu werden, um ihr Zeugnis abzulegen. Unser Zahlwort zwei hat mit dem Substantiv Zweig zunächst eine äußere Ähnlichkeit, diese Gleichheit im Lautkörper der beiden ist aber Ausdruck und Folge ihrer sprachlichen Verwandtschaft. Neben Zweig und Zwiesel .gegabelter Ast' stehen gleichbedeutend das indische Feminin paya und ein germanischer Substantiostamm >vija,-, der in unserem Neutrum Geweih fortlebt. Entsprechend stellt sich neben den indogermanischen Ausdruck der Zweiheit alvi eine gleichbedeutende Nebenform ol in lateinisch viZinti .zwanzig, zweimal zehn'. Der Zweig als .Gabelung' ist sinnlich wahrnehmbar und damit uralter direkter Benennung fähig, der unsinnliche Begriff der Zweiheit mußte mit Hilfe einer Metapher benannt werden. Diese griff dahin, wo die lebendige Natur, die den ursprünglichen Menschen allbeherrschend, auch sein Denken beherrschend, umgab, ihm die Zweiheit am anschaulichsten, aufdringlichsten, nützlichsten darbot: zum Baum und seiner Astgabel. Zufall und Willkür darf man hier nicht annehmen, eine bestimmte Konstitution des Geistes lag voraus, eine gegebene Umwelt bestimmte die Richtung und beide offenbaren sich uns aus dem heute noch vorliegenden Befund, wenn wir ihn richtig deuten. Schon viel weniger sicher sind wir der richtigen Deutung beim sprachlichen Ausdruck der Dreiheit. Für unser Zahlwort drei fehlt bisher die zwingende Anknüpfung an Konkreta, immerhin kann als Vermutung ausgesprochen werden, es sei mit unserem Zeitwort drehen urverwandt. Wie beiderlei Begriffe zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/170>, abgerufen am 23.07.2024.