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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

Wegfall, wenn seine Grundlage für ein Abkommen zu bestehen aufhört oder
wenn er voll erfüllt ist oder wenn er von einem der Vertragschließenden gemäß
eines im Vertrage vorbehaltenen Rechtes gekündigt wird. Um jeden Mißbrauch
hinsichtlich der Verwerfung von Verträgen zu vermeiden, bestimmte das Londoner
Protokoll von 1871, .daß es ein grundlegendes Prinzip des Völkerrechts sei,
daß keine Macht sich selbst von den Pflichten eines Vertrages freimachen oder
dessen Bestimmungen modifizieren kann, ohne die Zustimmung der kontrahierendeu
Mächte durch ein freundschaftliches Übereinkommen erhalten zu haben'.

Trotzdem heißt es, die Bestimmung Kebu8 sie 8tantibu8 sei eine still¬
schweigend angenommene Bedingung bei jedem Vertrag, und eine vollständige
Änderung der Umstände ist angeführt worden oder doch zum mindesten still¬
schweigend untergelegt worden als Entschuldigung oder Rechtfertigung der Nicht¬
beachtung eines Vertrages oder gewisser Klauseln eines solchen. Hierin ist
eine außerordentlich große Gefahr für die Dauerhaftigkeit internationaler Ab¬
kommen enthalten. Die Definition .eine Veränderung der Umstände, hin¬
reichend, um die Verwerfung zu begründen', wird mit größerem Recht von den
internationalen Verhältnissen in ihrer Gesamtheit als von wirklichen Tatsachen
abhängen. Wer ist überhaupt imstande, zu entscheiden, ob die Umstände im
ganzen genommen verändert sind?

Rußland führte die veränderten Umstände als Vorwand an, um die Be¬
stimmungen des Pariser Vertrages zu verwerfen, die das Schwarze Meer
neutralisierten, ebenso bezüglich seiner Verpflichtungen betreffend Batna aus
dem Berliner Vertrage.

Zwei Fälle, in denen unser eigenes Land vertragsmäßige Verpflichtungen
zu erfüllen unterließ, seien hier angeführt. Im Jahre 1852 erkannten die
Mächte einschließlich Großbritannien durch den Londoner Vertrag grundsätzlich
die dauernde Integrität der dänischen Monarchie an und schlossen ein Abkommen
über die dänische Thronfolge, bezüglich dessen sie erklärten, ,es würde das beste
Mittel sein, um die Integrität dieser Monarchie zu sichern'. Aber im Jahre
1864, als die Provinzen Schleswig und Holstein von Preußen und Österreich
angegriffen wurden, überließ Großbritannien Dänemark seinem Schicksal, und
der Grundsatz der dauernden Integrität wurde ganz bequem vergessen.

Durch den Pariser Vertrag von 1856 verpflichteten sich die Mächte, die
Unabhängigkeit und Integrität des ottomanischen Reiches zu respektieren, indem
sie gemeinschaftlich dafür garantierten, daß diese Verpflichtung strenge inne¬
gehalten werden solle, und versprachen, jede Handlung, die deren Verletzung
bezweckte, als eine Frage von allgemeinem Interesse zu betrachten. Die
folgenden Ereignisse vom Jahre 1878 haben gezeigt, daß die Bestimmungen
dieses Vertrages eitel Humbug waren: .Alles war Hohlheit -- wenn die Macht,
die der Menschheit das Leben gab, über die Anstrengungen und Anmaßungen
ihres Geschöpfes lächeln könnte, würde sie gelächelt haben beim Anblick der
Versammlung von Staatsmännern, die sich bei Abschluß des Krtmkrieges ein.


Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

Wegfall, wenn seine Grundlage für ein Abkommen zu bestehen aufhört oder
wenn er voll erfüllt ist oder wenn er von einem der Vertragschließenden gemäß
eines im Vertrage vorbehaltenen Rechtes gekündigt wird. Um jeden Mißbrauch
hinsichtlich der Verwerfung von Verträgen zu vermeiden, bestimmte das Londoner
Protokoll von 1871, .daß es ein grundlegendes Prinzip des Völkerrechts sei,
daß keine Macht sich selbst von den Pflichten eines Vertrages freimachen oder
dessen Bestimmungen modifizieren kann, ohne die Zustimmung der kontrahierendeu
Mächte durch ein freundschaftliches Übereinkommen erhalten zu haben'.

Trotzdem heißt es, die Bestimmung Kebu8 sie 8tantibu8 sei eine still¬
schweigend angenommene Bedingung bei jedem Vertrag, und eine vollständige
Änderung der Umstände ist angeführt worden oder doch zum mindesten still¬
schweigend untergelegt worden als Entschuldigung oder Rechtfertigung der Nicht¬
beachtung eines Vertrages oder gewisser Klauseln eines solchen. Hierin ist
eine außerordentlich große Gefahr für die Dauerhaftigkeit internationaler Ab¬
kommen enthalten. Die Definition .eine Veränderung der Umstände, hin¬
reichend, um die Verwerfung zu begründen', wird mit größerem Recht von den
internationalen Verhältnissen in ihrer Gesamtheit als von wirklichen Tatsachen
abhängen. Wer ist überhaupt imstande, zu entscheiden, ob die Umstände im
ganzen genommen verändert sind?

Rußland führte die veränderten Umstände als Vorwand an, um die Be¬
stimmungen des Pariser Vertrages zu verwerfen, die das Schwarze Meer
neutralisierten, ebenso bezüglich seiner Verpflichtungen betreffend Batna aus
dem Berliner Vertrage.

Zwei Fälle, in denen unser eigenes Land vertragsmäßige Verpflichtungen
zu erfüllen unterließ, seien hier angeführt. Im Jahre 1852 erkannten die
Mächte einschließlich Großbritannien durch den Londoner Vertrag grundsätzlich
die dauernde Integrität der dänischen Monarchie an und schlossen ein Abkommen
über die dänische Thronfolge, bezüglich dessen sie erklärten, ,es würde das beste
Mittel sein, um die Integrität dieser Monarchie zu sichern'. Aber im Jahre
1864, als die Provinzen Schleswig und Holstein von Preußen und Österreich
angegriffen wurden, überließ Großbritannien Dänemark seinem Schicksal, und
der Grundsatz der dauernden Integrität wurde ganz bequem vergessen.

Durch den Pariser Vertrag von 1856 verpflichteten sich die Mächte, die
Unabhängigkeit und Integrität des ottomanischen Reiches zu respektieren, indem
sie gemeinschaftlich dafür garantierten, daß diese Verpflichtung strenge inne¬
gehalten werden solle, und versprachen, jede Handlung, die deren Verletzung
bezweckte, als eine Frage von allgemeinem Interesse zu betrachten. Die
folgenden Ereignisse vom Jahre 1878 haben gezeigt, daß die Bestimmungen
dieses Vertrages eitel Humbug waren: .Alles war Hohlheit — wenn die Macht,
die der Menschheit das Leben gab, über die Anstrengungen und Anmaßungen
ihres Geschöpfes lächeln könnte, würde sie gelächelt haben beim Anblick der
Versammlung von Staatsmännern, die sich bei Abschluß des Krtmkrieges ein.


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[0160] Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil Wegfall, wenn seine Grundlage für ein Abkommen zu bestehen aufhört oder wenn er voll erfüllt ist oder wenn er von einem der Vertragschließenden gemäß eines im Vertrage vorbehaltenen Rechtes gekündigt wird. Um jeden Mißbrauch hinsichtlich der Verwerfung von Verträgen zu vermeiden, bestimmte das Londoner Protokoll von 1871, .daß es ein grundlegendes Prinzip des Völkerrechts sei, daß keine Macht sich selbst von den Pflichten eines Vertrages freimachen oder dessen Bestimmungen modifizieren kann, ohne die Zustimmung der kontrahierendeu Mächte durch ein freundschaftliches Übereinkommen erhalten zu haben'. Trotzdem heißt es, die Bestimmung Kebu8 sie 8tantibu8 sei eine still¬ schweigend angenommene Bedingung bei jedem Vertrag, und eine vollständige Änderung der Umstände ist angeführt worden oder doch zum mindesten still¬ schweigend untergelegt worden als Entschuldigung oder Rechtfertigung der Nicht¬ beachtung eines Vertrages oder gewisser Klauseln eines solchen. Hierin ist eine außerordentlich große Gefahr für die Dauerhaftigkeit internationaler Ab¬ kommen enthalten. Die Definition .eine Veränderung der Umstände, hin¬ reichend, um die Verwerfung zu begründen', wird mit größerem Recht von den internationalen Verhältnissen in ihrer Gesamtheit als von wirklichen Tatsachen abhängen. Wer ist überhaupt imstande, zu entscheiden, ob die Umstände im ganzen genommen verändert sind? Rußland führte die veränderten Umstände als Vorwand an, um die Be¬ stimmungen des Pariser Vertrages zu verwerfen, die das Schwarze Meer neutralisierten, ebenso bezüglich seiner Verpflichtungen betreffend Batna aus dem Berliner Vertrage. Zwei Fälle, in denen unser eigenes Land vertragsmäßige Verpflichtungen zu erfüllen unterließ, seien hier angeführt. Im Jahre 1852 erkannten die Mächte einschließlich Großbritannien durch den Londoner Vertrag grundsätzlich die dauernde Integrität der dänischen Monarchie an und schlossen ein Abkommen über die dänische Thronfolge, bezüglich dessen sie erklärten, ,es würde das beste Mittel sein, um die Integrität dieser Monarchie zu sichern'. Aber im Jahre 1864, als die Provinzen Schleswig und Holstein von Preußen und Österreich angegriffen wurden, überließ Großbritannien Dänemark seinem Schicksal, und der Grundsatz der dauernden Integrität wurde ganz bequem vergessen. Durch den Pariser Vertrag von 1856 verpflichteten sich die Mächte, die Unabhängigkeit und Integrität des ottomanischen Reiches zu respektieren, indem sie gemeinschaftlich dafür garantierten, daß diese Verpflichtung strenge inne¬ gehalten werden solle, und versprachen, jede Handlung, die deren Verletzung bezweckte, als eine Frage von allgemeinem Interesse zu betrachten. Die folgenden Ereignisse vom Jahre 1878 haben gezeigt, daß die Bestimmungen dieses Vertrages eitel Humbug waren: .Alles war Hohlheit — wenn die Macht, die der Menschheit das Leben gab, über die Anstrengungen und Anmaßungen ihres Geschöpfes lächeln könnte, würde sie gelächelt haben beim Anblick der Versammlung von Staatsmännern, die sich bei Abschluß des Krtmkrieges ein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/160>, abgerufen am 23.07.2024.