Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Industrialisierung des Landes

Landwirt, der verkauft hat, drängt es in die Stadt. Er wird sich auch nicht
dazu verstehen, ein Gut im Industriegebiet wieder zu erwerben, denn bei den
durch die Industrialisierung gesteigerten Bodenpreisen kann der rein landwirt¬
schaftliche Betrieb dort keine Rente mehr gewährleisten. In industrialisierten
Landgegenden würde der Boden Phantasiepreise bekommen sowohl infolge der
Aufkäufe der Spekulanten, wie auch infolge des Landhungers der kleinen Leute.
Die Bodenzerstückelung würde überHand nehmen. Infolgedessen würde allmählich
ein Zurückdrängen und eine Schwächung des selbständigen Bauernstandes stattfinden.

Manche Landwirte befürchten von dem Vordringen der Industrie auch
eine Schwächung ihres Einflusses und eine Zurücksetzung der landwirtschaftlichen
Interessen in gemeindlichen Angelegenheiten. Die Industrie bringt ein ganz
anderes Leben mit sich. Die Unternehmer bringen vielfach schon einige fremde
Arbeiter von auswärts mit. Diese sollen den Arbeitskräften, die man vom
Lande für die Fabrik zu gewinnen hofft, die technischen Anfangsgründe und
die notwendigen Handgriffe beibringen. Diese Leute von auswärts sind jedoch
meist in Arbeiterverbänden und Gewerkschaften organisiert. Mit den ihnen
beigegebenen und öfters von ihnen abhängigen Arbeitern vom Lande sind sie
jetzt täglich in der Fabrik in engster Berührung und wissen diesen bald offen,
bald versteckt ihre mitgebrachten Ideen näherzubringen. Das nahe Zusammen¬
arbeiten befördert den Gedankenaustausch. Die landwirtschaftliche Beschäftigung
bringt Vereinsamung und Ruhe mit sich. Sie drängt zu konservativen!
Denken. Die einförmige Fabrikarbeit wirkt ganz anders auf den Menschen
ein. Sie bedingt ein verändertes und gesteigertes Vergnügungsbedürfnis.
Gleichzeitig bringt die Industrie mehr bares Geld in den Ort, wodurch den
Neuerungen und Vergnügungen Vorschub geleistet wird.

Ferner wird darauf hingewiesen, daß infolge der industriellen Entwick¬
lung für die landwirtschaftlichen Gemeinden unter Umständen infolge des Zu¬
zugs von Arbeitern auch finanzielle Belastungen entstehen könnten, und zwar
durch Steigerung der Schullasten, der Lasten für Armenpflege, Kirche, Polizei,
Wegebauten usw. Wenn das industrielle Unternehmen reichlichen Gewinn
abwirft, können sich die Landgemeinde?" ja auf Grund des Besteuerungsrechtes
finanziell entschädigen; aber die Sache steht um so schlimmer, wenn das Werk
nachweist, einstweilen keine Reineinnahmen zu erzielen, wie es besonders anfangs
häufiger der Fall ist. Für diese industrialisierten Landgemeinden ist auch
die letzte Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz von Schaden.
Nach dieser Novelle vom 30. Mai 1908 wird bekanntlich der Unterstützungs¬
wohnsitz statt früher in zwei Jahren nach zurückgelegtem achtzehnten Lebensjahre jetzt
schon in einem Jahre nach zurückgelegtem sechszehnten Lebensjahre erworben. Die
Novelle sollte die Städte, in welche die Landbevölkerung abzieht, früher belasten,
damit der Landgemeinde nicht so viele Abgewanderte später als Arme wieder
zur Last fallen. Sobald die Industrie sich auf dem Lande breit macht, liegt die
Sache aber wieder umgekehrt, indem das Land wieder eher belastet wird.


Die Industrialisierung des Landes

Landwirt, der verkauft hat, drängt es in die Stadt. Er wird sich auch nicht
dazu verstehen, ein Gut im Industriegebiet wieder zu erwerben, denn bei den
durch die Industrialisierung gesteigerten Bodenpreisen kann der rein landwirt¬
schaftliche Betrieb dort keine Rente mehr gewährleisten. In industrialisierten
Landgegenden würde der Boden Phantasiepreise bekommen sowohl infolge der
Aufkäufe der Spekulanten, wie auch infolge des Landhungers der kleinen Leute.
Die Bodenzerstückelung würde überHand nehmen. Infolgedessen würde allmählich
ein Zurückdrängen und eine Schwächung des selbständigen Bauernstandes stattfinden.

Manche Landwirte befürchten von dem Vordringen der Industrie auch
eine Schwächung ihres Einflusses und eine Zurücksetzung der landwirtschaftlichen
Interessen in gemeindlichen Angelegenheiten. Die Industrie bringt ein ganz
anderes Leben mit sich. Die Unternehmer bringen vielfach schon einige fremde
Arbeiter von auswärts mit. Diese sollen den Arbeitskräften, die man vom
Lande für die Fabrik zu gewinnen hofft, die technischen Anfangsgründe und
die notwendigen Handgriffe beibringen. Diese Leute von auswärts sind jedoch
meist in Arbeiterverbänden und Gewerkschaften organisiert. Mit den ihnen
beigegebenen und öfters von ihnen abhängigen Arbeitern vom Lande sind sie
jetzt täglich in der Fabrik in engster Berührung und wissen diesen bald offen,
bald versteckt ihre mitgebrachten Ideen näherzubringen. Das nahe Zusammen¬
arbeiten befördert den Gedankenaustausch. Die landwirtschaftliche Beschäftigung
bringt Vereinsamung und Ruhe mit sich. Sie drängt zu konservativen!
Denken. Die einförmige Fabrikarbeit wirkt ganz anders auf den Menschen
ein. Sie bedingt ein verändertes und gesteigertes Vergnügungsbedürfnis.
Gleichzeitig bringt die Industrie mehr bares Geld in den Ort, wodurch den
Neuerungen und Vergnügungen Vorschub geleistet wird.

Ferner wird darauf hingewiesen, daß infolge der industriellen Entwick¬
lung für die landwirtschaftlichen Gemeinden unter Umständen infolge des Zu¬
zugs von Arbeitern auch finanzielle Belastungen entstehen könnten, und zwar
durch Steigerung der Schullasten, der Lasten für Armenpflege, Kirche, Polizei,
Wegebauten usw. Wenn das industrielle Unternehmen reichlichen Gewinn
abwirft, können sich die Landgemeinde?» ja auf Grund des Besteuerungsrechtes
finanziell entschädigen; aber die Sache steht um so schlimmer, wenn das Werk
nachweist, einstweilen keine Reineinnahmen zu erzielen, wie es besonders anfangs
häufiger der Fall ist. Für diese industrialisierten Landgemeinden ist auch
die letzte Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz von Schaden.
Nach dieser Novelle vom 30. Mai 1908 wird bekanntlich der Unterstützungs¬
wohnsitz statt früher in zwei Jahren nach zurückgelegtem achtzehnten Lebensjahre jetzt
schon in einem Jahre nach zurückgelegtem sechszehnten Lebensjahre erworben. Die
Novelle sollte die Städte, in welche die Landbevölkerung abzieht, früher belasten,
damit der Landgemeinde nicht so viele Abgewanderte später als Arme wieder
zur Last fallen. Sobald die Industrie sich auf dem Lande breit macht, liegt die
Sache aber wieder umgekehrt, indem das Land wieder eher belastet wird.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0155" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330693"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Industrialisierung des Landes</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_516" prev="#ID_515"> Landwirt, der verkauft hat, drängt es in die Stadt. Er wird sich auch nicht<lb/>
dazu verstehen, ein Gut im Industriegebiet wieder zu erwerben, denn bei den<lb/>
durch die Industrialisierung gesteigerten Bodenpreisen kann der rein landwirt¬<lb/>
schaftliche Betrieb dort keine Rente mehr gewährleisten. In industrialisierten<lb/>
Landgegenden würde der Boden Phantasiepreise bekommen sowohl infolge der<lb/>
Aufkäufe der Spekulanten, wie auch infolge des Landhungers der kleinen Leute.<lb/>
Die Bodenzerstückelung würde überHand nehmen. Infolgedessen würde allmählich<lb/>
ein Zurückdrängen und eine Schwächung des selbständigen Bauernstandes stattfinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_517"> Manche Landwirte befürchten von dem Vordringen der Industrie auch<lb/>
eine Schwächung ihres Einflusses und eine Zurücksetzung der landwirtschaftlichen<lb/>
Interessen in gemeindlichen Angelegenheiten. Die Industrie bringt ein ganz<lb/>
anderes Leben mit sich. Die Unternehmer bringen vielfach schon einige fremde<lb/>
Arbeiter von auswärts mit. Diese sollen den Arbeitskräften, die man vom<lb/>
Lande für die Fabrik zu gewinnen hofft, die technischen Anfangsgründe und<lb/>
die notwendigen Handgriffe beibringen. Diese Leute von auswärts sind jedoch<lb/>
meist in Arbeiterverbänden und Gewerkschaften organisiert. Mit den ihnen<lb/>
beigegebenen und öfters von ihnen abhängigen Arbeitern vom Lande sind sie<lb/>
jetzt täglich in der Fabrik in engster Berührung und wissen diesen bald offen,<lb/>
bald versteckt ihre mitgebrachten Ideen näherzubringen. Das nahe Zusammen¬<lb/>
arbeiten befördert den Gedankenaustausch. Die landwirtschaftliche Beschäftigung<lb/>
bringt Vereinsamung und Ruhe mit sich. Sie drängt zu konservativen!<lb/>
Denken. Die einförmige Fabrikarbeit wirkt ganz anders auf den Menschen<lb/>
ein. Sie bedingt ein verändertes und gesteigertes Vergnügungsbedürfnis.<lb/>
Gleichzeitig bringt die Industrie mehr bares Geld in den Ort, wodurch den<lb/>
Neuerungen und Vergnügungen Vorschub geleistet wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_518"> Ferner wird darauf hingewiesen, daß infolge der industriellen Entwick¬<lb/>
lung für die landwirtschaftlichen Gemeinden unter Umständen infolge des Zu¬<lb/>
zugs von Arbeitern auch finanzielle Belastungen entstehen könnten, und zwar<lb/>
durch Steigerung der Schullasten, der Lasten für Armenpflege, Kirche, Polizei,<lb/>
Wegebauten usw. Wenn das industrielle Unternehmen reichlichen Gewinn<lb/>
abwirft, können sich die Landgemeinde?» ja auf Grund des Besteuerungsrechtes<lb/>
finanziell entschädigen; aber die Sache steht um so schlimmer, wenn das Werk<lb/>
nachweist, einstweilen keine Reineinnahmen zu erzielen, wie es besonders anfangs<lb/>
häufiger der Fall ist. Für diese industrialisierten Landgemeinden ist auch<lb/>
die letzte Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz von Schaden.<lb/>
Nach dieser Novelle vom 30. Mai 1908 wird bekanntlich der Unterstützungs¬<lb/>
wohnsitz statt früher in zwei Jahren nach zurückgelegtem achtzehnten Lebensjahre jetzt<lb/>
schon in einem Jahre nach zurückgelegtem sechszehnten Lebensjahre erworben. Die<lb/>
Novelle sollte die Städte, in welche die Landbevölkerung abzieht, früher belasten,<lb/>
damit der Landgemeinde nicht so viele Abgewanderte später als Arme wieder<lb/>
zur Last fallen. Sobald die Industrie sich auf dem Lande breit macht, liegt die<lb/>
Sache aber wieder umgekehrt, indem das Land wieder eher belastet wird.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0155] Die Industrialisierung des Landes Landwirt, der verkauft hat, drängt es in die Stadt. Er wird sich auch nicht dazu verstehen, ein Gut im Industriegebiet wieder zu erwerben, denn bei den durch die Industrialisierung gesteigerten Bodenpreisen kann der rein landwirt¬ schaftliche Betrieb dort keine Rente mehr gewährleisten. In industrialisierten Landgegenden würde der Boden Phantasiepreise bekommen sowohl infolge der Aufkäufe der Spekulanten, wie auch infolge des Landhungers der kleinen Leute. Die Bodenzerstückelung würde überHand nehmen. Infolgedessen würde allmählich ein Zurückdrängen und eine Schwächung des selbständigen Bauernstandes stattfinden. Manche Landwirte befürchten von dem Vordringen der Industrie auch eine Schwächung ihres Einflusses und eine Zurücksetzung der landwirtschaftlichen Interessen in gemeindlichen Angelegenheiten. Die Industrie bringt ein ganz anderes Leben mit sich. Die Unternehmer bringen vielfach schon einige fremde Arbeiter von auswärts mit. Diese sollen den Arbeitskräften, die man vom Lande für die Fabrik zu gewinnen hofft, die technischen Anfangsgründe und die notwendigen Handgriffe beibringen. Diese Leute von auswärts sind jedoch meist in Arbeiterverbänden und Gewerkschaften organisiert. Mit den ihnen beigegebenen und öfters von ihnen abhängigen Arbeitern vom Lande sind sie jetzt täglich in der Fabrik in engster Berührung und wissen diesen bald offen, bald versteckt ihre mitgebrachten Ideen näherzubringen. Das nahe Zusammen¬ arbeiten befördert den Gedankenaustausch. Die landwirtschaftliche Beschäftigung bringt Vereinsamung und Ruhe mit sich. Sie drängt zu konservativen! Denken. Die einförmige Fabrikarbeit wirkt ganz anders auf den Menschen ein. Sie bedingt ein verändertes und gesteigertes Vergnügungsbedürfnis. Gleichzeitig bringt die Industrie mehr bares Geld in den Ort, wodurch den Neuerungen und Vergnügungen Vorschub geleistet wird. Ferner wird darauf hingewiesen, daß infolge der industriellen Entwick¬ lung für die landwirtschaftlichen Gemeinden unter Umständen infolge des Zu¬ zugs von Arbeitern auch finanzielle Belastungen entstehen könnten, und zwar durch Steigerung der Schullasten, der Lasten für Armenpflege, Kirche, Polizei, Wegebauten usw. Wenn das industrielle Unternehmen reichlichen Gewinn abwirft, können sich die Landgemeinde?» ja auf Grund des Besteuerungsrechtes finanziell entschädigen; aber die Sache steht um so schlimmer, wenn das Werk nachweist, einstweilen keine Reineinnahmen zu erzielen, wie es besonders anfangs häufiger der Fall ist. Für diese industrialisierten Landgemeinden ist auch die letzte Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz von Schaden. Nach dieser Novelle vom 30. Mai 1908 wird bekanntlich der Unterstützungs¬ wohnsitz statt früher in zwei Jahren nach zurückgelegtem achtzehnten Lebensjahre jetzt schon in einem Jahre nach zurückgelegtem sechszehnten Lebensjahre erworben. Die Novelle sollte die Städte, in welche die Landbevölkerung abzieht, früher belasten, damit der Landgemeinde nicht so viele Abgewanderte später als Arme wieder zur Last fallen. Sobald die Industrie sich auf dem Lande breit macht, liegt die Sache aber wieder umgekehrt, indem das Land wieder eher belastet wird.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/155
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/155>, abgerufen am 22.07.2024.