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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Dichterische und unterhaltende Lrzählungskunst
Dr. Hanns Martin Lister von

aß die Flut der literartschen Neuerscheinungen gegenwärtig fühlbar
abgenommen hat, kann nur zu den wohltuender Folgen des Krieges
gerechnet werden. Der Büchermarkt vor dem August 1914 war
nachgerade bis zur Verzweiflung des einsichtigen Literaturfreundes
überschwemmt mit wertlosen Romanen und Novellen, die das
Lebensvolle und Kunstgeborene mehr und mehr aus dem Gesichtskreis des
weiteren Leserkreises verdrängten, so daß die Befürchtung nahe lag, das Unter¬
haltungsmoment werde noch zum alleinseligmachenden Kriterium für die Be¬
urteilung literarischen Schaffens erhoben werden. Auch hier schaffte der Krieg
Wandel. Man wandte sich wieder voll erfrischender Energie der einzig sinn¬
vollen Aufgabe dichterischen Erzählens zu: der Lebens- und Erlebnisoffenbarung.
Die Neuerscheinungen des vergangenen Jahres kennzeichnen sich nach dieser
Richtung. In ihnen wirkt sich der Wille aus. in alle Geheimnisse und Ab¬
gründe, Breiten und Ebenen, Winkel und Wirrnisse des menschlichen Seins
und Wesens zu dringen, um den wahren Sinn und Gehalt, die echte Aufgabe
des Einzel- und Gemeinschaftslebens zu erkennen und die Energien des mensch¬
lichen Erlebnisvermögens auf einen Generalnenner zu bringen. Gewiß war
dieser Wille auch schon vor dem Kriege in unserer jüngsten Literatur spürbar,
endete damals aber meist im tiefsten geistigen Pessimismus, während der Kriegs¬
ausbruch die Segel des Lebensschiffleins wieder mit Bejahungsmut und Hoff¬
nungen schwellte. So erscheint wenigstens das Bild der Vergangenheit und
Gegenwart in einer großen Reihe von Romanen, die zwar schon in Kriegszeiten
geschrieben, mit rückblickender Perspektive arbeiten, also bis zu einem bestimmten
Grade tendenziös aufgebaut sind.. Doch auch in Büchern, deren Entstehungszeit
vor dem Kriege liegt und deren Stoffwelt dem Kriege fernsteht, macht sich jene
mephistophelische Unterströmung bemerkbar, die nur selten von der philosophischen
oder schaffenden Kraft der Weltanschauung des Dichters zur Lebensbejahung
geführt wird. Jedenfalls bedeutet der Kriegsausbruch und der Krieg selbst
für die dichterische und unterhaltende deutsche Erzählungskunst unter dem Gesichts¬
winkel der Gegenwart eine scharfe Zäsur in der Stellung zum Leben und
seinen Fragen überhaupt. Nur die Jugend selbst, die an jener Anschauung
des Lebens als einer Last und eines Leidens nicht absolut teilnahm, setzte über
diese Zäsur in hinreißenden Schwunge hinweg und entwickelte sich noch reicher




Dichterische und unterhaltende Lrzählungskunst
Dr. Hanns Martin Lister von

aß die Flut der literartschen Neuerscheinungen gegenwärtig fühlbar
abgenommen hat, kann nur zu den wohltuender Folgen des Krieges
gerechnet werden. Der Büchermarkt vor dem August 1914 war
nachgerade bis zur Verzweiflung des einsichtigen Literaturfreundes
überschwemmt mit wertlosen Romanen und Novellen, die das
Lebensvolle und Kunstgeborene mehr und mehr aus dem Gesichtskreis des
weiteren Leserkreises verdrängten, so daß die Befürchtung nahe lag, das Unter¬
haltungsmoment werde noch zum alleinseligmachenden Kriterium für die Be¬
urteilung literarischen Schaffens erhoben werden. Auch hier schaffte der Krieg
Wandel. Man wandte sich wieder voll erfrischender Energie der einzig sinn¬
vollen Aufgabe dichterischen Erzählens zu: der Lebens- und Erlebnisoffenbarung.
Die Neuerscheinungen des vergangenen Jahres kennzeichnen sich nach dieser
Richtung. In ihnen wirkt sich der Wille aus. in alle Geheimnisse und Ab¬
gründe, Breiten und Ebenen, Winkel und Wirrnisse des menschlichen Seins
und Wesens zu dringen, um den wahren Sinn und Gehalt, die echte Aufgabe
des Einzel- und Gemeinschaftslebens zu erkennen und die Energien des mensch¬
lichen Erlebnisvermögens auf einen Generalnenner zu bringen. Gewiß war
dieser Wille auch schon vor dem Kriege in unserer jüngsten Literatur spürbar,
endete damals aber meist im tiefsten geistigen Pessimismus, während der Kriegs¬
ausbruch die Segel des Lebensschiffleins wieder mit Bejahungsmut und Hoff¬
nungen schwellte. So erscheint wenigstens das Bild der Vergangenheit und
Gegenwart in einer großen Reihe von Romanen, die zwar schon in Kriegszeiten
geschrieben, mit rückblickender Perspektive arbeiten, also bis zu einem bestimmten
Grade tendenziös aufgebaut sind.. Doch auch in Büchern, deren Entstehungszeit
vor dem Kriege liegt und deren Stoffwelt dem Kriege fernsteht, macht sich jene
mephistophelische Unterströmung bemerkbar, die nur selten von der philosophischen
oder schaffenden Kraft der Weltanschauung des Dichters zur Lebensbejahung
geführt wird. Jedenfalls bedeutet der Kriegsausbruch und der Krieg selbst
für die dichterische und unterhaltende deutsche Erzählungskunst unter dem Gesichts¬
winkel der Gegenwart eine scharfe Zäsur in der Stellung zum Leben und
seinen Fragen überhaupt. Nur die Jugend selbst, die an jener Anschauung
des Lebens als einer Last und eines Leidens nicht absolut teilnahm, setzte über
diese Zäsur in hinreißenden Schwunge hinweg und entwickelte sich noch reicher


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[0099] [Abbildung] Dichterische und unterhaltende Lrzählungskunst Dr. Hanns Martin Lister von aß die Flut der literartschen Neuerscheinungen gegenwärtig fühlbar abgenommen hat, kann nur zu den wohltuender Folgen des Krieges gerechnet werden. Der Büchermarkt vor dem August 1914 war nachgerade bis zur Verzweiflung des einsichtigen Literaturfreundes überschwemmt mit wertlosen Romanen und Novellen, die das Lebensvolle und Kunstgeborene mehr und mehr aus dem Gesichtskreis des weiteren Leserkreises verdrängten, so daß die Befürchtung nahe lag, das Unter¬ haltungsmoment werde noch zum alleinseligmachenden Kriterium für die Be¬ urteilung literarischen Schaffens erhoben werden. Auch hier schaffte der Krieg Wandel. Man wandte sich wieder voll erfrischender Energie der einzig sinn¬ vollen Aufgabe dichterischen Erzählens zu: der Lebens- und Erlebnisoffenbarung. Die Neuerscheinungen des vergangenen Jahres kennzeichnen sich nach dieser Richtung. In ihnen wirkt sich der Wille aus. in alle Geheimnisse und Ab¬ gründe, Breiten und Ebenen, Winkel und Wirrnisse des menschlichen Seins und Wesens zu dringen, um den wahren Sinn und Gehalt, die echte Aufgabe des Einzel- und Gemeinschaftslebens zu erkennen und die Energien des mensch¬ lichen Erlebnisvermögens auf einen Generalnenner zu bringen. Gewiß war dieser Wille auch schon vor dem Kriege in unserer jüngsten Literatur spürbar, endete damals aber meist im tiefsten geistigen Pessimismus, während der Kriegs¬ ausbruch die Segel des Lebensschiffleins wieder mit Bejahungsmut und Hoff¬ nungen schwellte. So erscheint wenigstens das Bild der Vergangenheit und Gegenwart in einer großen Reihe von Romanen, die zwar schon in Kriegszeiten geschrieben, mit rückblickender Perspektive arbeiten, also bis zu einem bestimmten Grade tendenziös aufgebaut sind.. Doch auch in Büchern, deren Entstehungszeit vor dem Kriege liegt und deren Stoffwelt dem Kriege fernsteht, macht sich jene mephistophelische Unterströmung bemerkbar, die nur selten von der philosophischen oder schaffenden Kraft der Weltanschauung des Dichters zur Lebensbejahung geführt wird. Jedenfalls bedeutet der Kriegsausbruch und der Krieg selbst für die dichterische und unterhaltende deutsche Erzählungskunst unter dem Gesichts¬ winkel der Gegenwart eine scharfe Zäsur in der Stellung zum Leben und seinen Fragen überhaupt. Nur die Jugend selbst, die an jener Anschauung des Lebens als einer Last und eines Leidens nicht absolut teilnahm, setzte über diese Zäsur in hinreißenden Schwunge hinweg und entwickelte sich noch reicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/99>, abgerufen am 27.07.2024.