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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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T>le Philosophie der Gegenwart

nur verschiedene Formen des menschlichen Irrtums erblickt, sondern derjenige,
der darin die verschiedenen Formen menschlichen, wenn auch unvollkommenen
Erkennens sieht. Wir haben in der Kunst es verstehen gelernt, daß dasselbe
Ding in unendlich vielen verschiedenen Formen aufgefaßt werden kann, und
daß gerade in der Mannigfaltigkeit der Reiz liegt. Daß es mit der Philosophie
ähnlich sein soll, will den meisten weniger eingehen. Die Wahrheit könne nur
eine sein, meint man, eine Mannigfaltigkeit hebe das Wesen der Wahrheit auf.
Uns scheint, daß das nicht der Fall ist: gibt man einmal zu, daß uns ein
absolutes Wissen versagt ist, daß unser Denken Grenzen hat, fo wird man auch
zugeben müssen, daß kein System die ganze Wahrheit erbringen kann, sondern
daß jedes nur eine Möglichkeit neben anderen zu spiegeln vermag. Nur einer,
der glaubt, die Wahrheit billig in ein paar dogmatischen Sätzen erlangen zu
können, und der einen Meister sucht, auf dessen Worte er blindlings schwören
kann, wird durch diese Tatsache enttäuscht sein. Er aber verkennt das Wesen
der Philosophie. Ihr Wert und ihre Würde ruhen nicht in den Antworten,
die sie gibt, sondern in den Problemen, die sie aufrollt. Mag ihr Kampf mit
der Tücke des Objekts im letzten Grunde stets ein Unterliegen sein, so gehört
doch dies tragische Ringen um einen nie ganz zu erzwingenden Sieg zum
Erhebendsten und Gewaltigsten, was uns die Geschichte des menschlichen Geistes
zu bieten hat. Wer von der Philosophie einen billigen, bequemen Effekt er¬
wartet, wie von einem Lustspiel, wo sich alles in Heiterkeit auflöst, der bleibe
ihr fern. Die Geschichte des philosophischen Geistes ist eine Tragödie, aber
wie jede echte Tragödie ist sie nicht niederdrückend, sondern sie wird dem
verständnisvollen Zuschauer bei aller Erschütterung doch zum Quell heroischen
Aufschwungs und ethischer Erhebung.

Allen denen, die in diesem Geiste der Philosophie sich nähern, sei das
Werk Oesterreichs warm empfohlen.




T>le Philosophie der Gegenwart

nur verschiedene Formen des menschlichen Irrtums erblickt, sondern derjenige,
der darin die verschiedenen Formen menschlichen, wenn auch unvollkommenen
Erkennens sieht. Wir haben in der Kunst es verstehen gelernt, daß dasselbe
Ding in unendlich vielen verschiedenen Formen aufgefaßt werden kann, und
daß gerade in der Mannigfaltigkeit der Reiz liegt. Daß es mit der Philosophie
ähnlich sein soll, will den meisten weniger eingehen. Die Wahrheit könne nur
eine sein, meint man, eine Mannigfaltigkeit hebe das Wesen der Wahrheit auf.
Uns scheint, daß das nicht der Fall ist: gibt man einmal zu, daß uns ein
absolutes Wissen versagt ist, daß unser Denken Grenzen hat, fo wird man auch
zugeben müssen, daß kein System die ganze Wahrheit erbringen kann, sondern
daß jedes nur eine Möglichkeit neben anderen zu spiegeln vermag. Nur einer,
der glaubt, die Wahrheit billig in ein paar dogmatischen Sätzen erlangen zu
können, und der einen Meister sucht, auf dessen Worte er blindlings schwören
kann, wird durch diese Tatsache enttäuscht sein. Er aber verkennt das Wesen
der Philosophie. Ihr Wert und ihre Würde ruhen nicht in den Antworten,
die sie gibt, sondern in den Problemen, die sie aufrollt. Mag ihr Kampf mit
der Tücke des Objekts im letzten Grunde stets ein Unterliegen sein, so gehört
doch dies tragische Ringen um einen nie ganz zu erzwingenden Sieg zum
Erhebendsten und Gewaltigsten, was uns die Geschichte des menschlichen Geistes
zu bieten hat. Wer von der Philosophie einen billigen, bequemen Effekt er¬
wartet, wie von einem Lustspiel, wo sich alles in Heiterkeit auflöst, der bleibe
ihr fern. Die Geschichte des philosophischen Geistes ist eine Tragödie, aber
wie jede echte Tragödie ist sie nicht niederdrückend, sondern sie wird dem
verständnisvollen Zuschauer bei aller Erschütterung doch zum Quell heroischen
Aufschwungs und ethischer Erhebung.

Allen denen, die in diesem Geiste der Philosophie sich nähern, sei das
Werk Oesterreichs warm empfohlen.




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[0426] T>le Philosophie der Gegenwart nur verschiedene Formen des menschlichen Irrtums erblickt, sondern derjenige, der darin die verschiedenen Formen menschlichen, wenn auch unvollkommenen Erkennens sieht. Wir haben in der Kunst es verstehen gelernt, daß dasselbe Ding in unendlich vielen verschiedenen Formen aufgefaßt werden kann, und daß gerade in der Mannigfaltigkeit der Reiz liegt. Daß es mit der Philosophie ähnlich sein soll, will den meisten weniger eingehen. Die Wahrheit könne nur eine sein, meint man, eine Mannigfaltigkeit hebe das Wesen der Wahrheit auf. Uns scheint, daß das nicht der Fall ist: gibt man einmal zu, daß uns ein absolutes Wissen versagt ist, daß unser Denken Grenzen hat, fo wird man auch zugeben müssen, daß kein System die ganze Wahrheit erbringen kann, sondern daß jedes nur eine Möglichkeit neben anderen zu spiegeln vermag. Nur einer, der glaubt, die Wahrheit billig in ein paar dogmatischen Sätzen erlangen zu können, und der einen Meister sucht, auf dessen Worte er blindlings schwören kann, wird durch diese Tatsache enttäuscht sein. Er aber verkennt das Wesen der Philosophie. Ihr Wert und ihre Würde ruhen nicht in den Antworten, die sie gibt, sondern in den Problemen, die sie aufrollt. Mag ihr Kampf mit der Tücke des Objekts im letzten Grunde stets ein Unterliegen sein, so gehört doch dies tragische Ringen um einen nie ganz zu erzwingenden Sieg zum Erhebendsten und Gewaltigsten, was uns die Geschichte des menschlichen Geistes zu bieten hat. Wer von der Philosophie einen billigen, bequemen Effekt er¬ wartet, wie von einem Lustspiel, wo sich alles in Heiterkeit auflöst, der bleibe ihr fern. Die Geschichte des philosophischen Geistes ist eine Tragödie, aber wie jede echte Tragödie ist sie nicht niederdrückend, sondern sie wird dem verständnisvollen Zuschauer bei aller Erschütterung doch zum Quell heroischen Aufschwungs und ethischer Erhebung. Allen denen, die in diesem Geiste der Philosophie sich nähern, sei das Werk Oesterreichs warm empfohlen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/426>, abgerufen am 28.07.2024.