Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
politische Probleme des Weltkrieges

inneren Schwierigkeiten mit unserer Sozialdemokratie spekulierten. Ferner hätte
Kjellen hier darauf hinweisen können, daß unsere Feinde den partikularistischen
Geist Deutschlands, von dem der württembergische Ministerpräsident neulich
eine so prachtvolle Begriffsbestimmung gegeben hat, für eine Disharmonie in
unserem Volke gehalten haben und, wie es in den naiven Erklärungen Grevs
und der englischen Staatsmänner zum Ausdruck kam, auf Zersetzung des
Reichs durch ihn hofften. Beachtenswert ist ferner das, was Kjellen über die
Versuchung der Staaten sagt "die innere Unruhe nach außen hin abzulenken
und durch den Krieg einen heilsamen Druck nach innen hin zu schaffen". Er
findet, daß namentlich in Österreich-Ungarn und in England solche Momente
vorhanden waren. So bekam der bekannte russische Kriegshetzer Brjantschcminow
"nach einem Besuche bei Edward Grey in London den bestimmten Eindruck,
daß die englische Regierung keinen andern Ausweg aus den MißHelligkeiten
der Homerulefrage sah als den Krieg". (Nowoje Zwenü vom 23. März 1914).
Was Rußland anlangt, so urteilt Kjellen ebenso wie es in dem Grenzboten¬
aufsatz vom 29. Dezember v. I.*) geschehen ist: "es unterliegt keinem Zweifel,
daß die Rücksicht aus den inneren Zustand des Staates für Rußland.....
ein wirkliches Motiv dazu war, das große Abenteuer zu wagen".

Auch der Gesichtspunkt der Autarkie, des wirtschaftlichen Selbstgenügens,
muß für die Staaten entscheidend sein. Rußland "fühlte sich" durch den Handels¬
vertrag mit Deutschland behindert, glaubte für den Getreideexport das Aus¬
fallstor der Dardanellen nötig zu haben. Der russische Bauer verlangte
"mehr Erde".

Der "deutsch-englische" Wirtschaftsgegensatz endlich ist ein oft genug
erörtertes Thema. Hier prägt Kjellen für das Verständnis des englischen
Gedankenganges ein gutes Wort: "Im Grunde muß ja die Autarkie auf
eigenem Boden jenem als ein zu niedriges Ideal erscheinen, der Pantarkie,
-- Kontrolle über die Welt -- verlangt". Kein Mitbewerber auf dem Meere
mehr und Verwirklichung des alten puritanischen Gedankens "das Gottesreich
auf Erden unter englischer Flagge" -- das ist das große Ziel des englischen
"Herrenvolkes". "Zum zweitenmal begegnen wir hier dem Welteroberungs¬
gedanken in der Ursachenverkettung des Weltkrieges. Auf beiden Seiten von
Deutschland wurde er geträumt, und die Träumer vereinigten sich in der
Hoffnung auf Deutschlands Vernichtung." England, so konstatierte Kjellen, hat
kein "Verantwortungsgefühl für Europa, es denkt "planetarisch" und unter
diesem Gesichtswinkel fürchtete es auch nicht Rußlands Verstärkung, denn Ru߬
land ist vom englischen Gesichtspunkt aus in wirtschaftlicher Hinsicht nur ein
Kleinstaat.

Deutschland hat auch hier den höheren Gesichtspunkt: "Gleichgewicht auf
dem Meere wie auf dem Lande! Ein Zustand von maritimen Gleichgewicht



*) Ein Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges, 1918, Heft 62,
politische Probleme des Weltkrieges

inneren Schwierigkeiten mit unserer Sozialdemokratie spekulierten. Ferner hätte
Kjellen hier darauf hinweisen können, daß unsere Feinde den partikularistischen
Geist Deutschlands, von dem der württembergische Ministerpräsident neulich
eine so prachtvolle Begriffsbestimmung gegeben hat, für eine Disharmonie in
unserem Volke gehalten haben und, wie es in den naiven Erklärungen Grevs
und der englischen Staatsmänner zum Ausdruck kam, auf Zersetzung des
Reichs durch ihn hofften. Beachtenswert ist ferner das, was Kjellen über die
Versuchung der Staaten sagt „die innere Unruhe nach außen hin abzulenken
und durch den Krieg einen heilsamen Druck nach innen hin zu schaffen". Er
findet, daß namentlich in Österreich-Ungarn und in England solche Momente
vorhanden waren. So bekam der bekannte russische Kriegshetzer Brjantschcminow
„nach einem Besuche bei Edward Grey in London den bestimmten Eindruck,
daß die englische Regierung keinen andern Ausweg aus den MißHelligkeiten
der Homerulefrage sah als den Krieg". (Nowoje Zwenü vom 23. März 1914).
Was Rußland anlangt, so urteilt Kjellen ebenso wie es in dem Grenzboten¬
aufsatz vom 29. Dezember v. I.*) geschehen ist: „es unterliegt keinem Zweifel,
daß die Rücksicht aus den inneren Zustand des Staates für Rußland.....
ein wirkliches Motiv dazu war, das große Abenteuer zu wagen".

Auch der Gesichtspunkt der Autarkie, des wirtschaftlichen Selbstgenügens,
muß für die Staaten entscheidend sein. Rußland „fühlte sich" durch den Handels¬
vertrag mit Deutschland behindert, glaubte für den Getreideexport das Aus¬
fallstor der Dardanellen nötig zu haben. Der russische Bauer verlangte
„mehr Erde".

Der „deutsch-englische" Wirtschaftsgegensatz endlich ist ein oft genug
erörtertes Thema. Hier prägt Kjellen für das Verständnis des englischen
Gedankenganges ein gutes Wort: „Im Grunde muß ja die Autarkie auf
eigenem Boden jenem als ein zu niedriges Ideal erscheinen, der Pantarkie,
— Kontrolle über die Welt — verlangt". Kein Mitbewerber auf dem Meere
mehr und Verwirklichung des alten puritanischen Gedankens „das Gottesreich
auf Erden unter englischer Flagge" — das ist das große Ziel des englischen
„Herrenvolkes". „Zum zweitenmal begegnen wir hier dem Welteroberungs¬
gedanken in der Ursachenverkettung des Weltkrieges. Auf beiden Seiten von
Deutschland wurde er geträumt, und die Träumer vereinigten sich in der
Hoffnung auf Deutschlands Vernichtung." England, so konstatierte Kjellen, hat
kein „Verantwortungsgefühl für Europa, es denkt „planetarisch" und unter
diesem Gesichtswinkel fürchtete es auch nicht Rußlands Verstärkung, denn Ru߬
land ist vom englischen Gesichtspunkt aus in wirtschaftlicher Hinsicht nur ein
Kleinstaat.

Deutschland hat auch hier den höheren Gesichtspunkt: „Gleichgewicht auf
dem Meere wie auf dem Lande! Ein Zustand von maritimen Gleichgewicht



*) Ein Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges, 1918, Heft 62,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0420" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330520"/>
          <fw type="header" place="top"> politische Probleme des Weltkrieges</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1748" prev="#ID_1747"> inneren Schwierigkeiten mit unserer Sozialdemokratie spekulierten. Ferner hätte<lb/>
Kjellen hier darauf hinweisen können, daß unsere Feinde den partikularistischen<lb/>
Geist Deutschlands, von dem der württembergische Ministerpräsident neulich<lb/>
eine so prachtvolle Begriffsbestimmung gegeben hat, für eine Disharmonie in<lb/>
unserem Volke gehalten haben und, wie es in den naiven Erklärungen Grevs<lb/>
und der englischen Staatsmänner zum Ausdruck kam, auf Zersetzung des<lb/>
Reichs durch ihn hofften. Beachtenswert ist ferner das, was Kjellen über die<lb/>
Versuchung der Staaten sagt &#x201E;die innere Unruhe nach außen hin abzulenken<lb/>
und durch den Krieg einen heilsamen Druck nach innen hin zu schaffen". Er<lb/>
findet, daß namentlich in Österreich-Ungarn und in England solche Momente<lb/>
vorhanden waren. So bekam der bekannte russische Kriegshetzer Brjantschcminow<lb/>
&#x201E;nach einem Besuche bei Edward Grey in London den bestimmten Eindruck,<lb/>
daß die englische Regierung keinen andern Ausweg aus den MißHelligkeiten<lb/>
der Homerulefrage sah als den Krieg". (Nowoje Zwenü vom 23. März 1914).<lb/>
Was Rußland anlangt, so urteilt Kjellen ebenso wie es in dem Grenzboten¬<lb/>
aufsatz vom 29. Dezember v. I.*) geschehen ist: &#x201E;es unterliegt keinem Zweifel,<lb/>
daß die Rücksicht aus den inneren Zustand des Staates für Rußland.....<lb/>
ein wirkliches Motiv dazu war, das große Abenteuer zu wagen".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1749"> Auch der Gesichtspunkt der Autarkie, des wirtschaftlichen Selbstgenügens,<lb/>
muß für die Staaten entscheidend sein. Rußland &#x201E;fühlte sich" durch den Handels¬<lb/>
vertrag mit Deutschland behindert, glaubte für den Getreideexport das Aus¬<lb/>
fallstor der Dardanellen nötig zu haben. Der russische Bauer verlangte<lb/>
&#x201E;mehr Erde".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1750"> Der &#x201E;deutsch-englische" Wirtschaftsgegensatz endlich ist ein oft genug<lb/>
erörtertes Thema. Hier prägt Kjellen für das Verständnis des englischen<lb/>
Gedankenganges ein gutes Wort: &#x201E;Im Grunde muß ja die Autarkie auf<lb/>
eigenem Boden jenem als ein zu niedriges Ideal erscheinen, der Pantarkie,<lb/>
&#x2014; Kontrolle über die Welt &#x2014; verlangt". Kein Mitbewerber auf dem Meere<lb/>
mehr und Verwirklichung des alten puritanischen Gedankens &#x201E;das Gottesreich<lb/>
auf Erden unter englischer Flagge" &#x2014; das ist das große Ziel des englischen<lb/>
&#x201E;Herrenvolkes". &#x201E;Zum zweitenmal begegnen wir hier dem Welteroberungs¬<lb/>
gedanken in der Ursachenverkettung des Weltkrieges. Auf beiden Seiten von<lb/>
Deutschland wurde er geträumt, und die Träumer vereinigten sich in der<lb/>
Hoffnung auf Deutschlands Vernichtung." England, so konstatierte Kjellen, hat<lb/>
kein &#x201E;Verantwortungsgefühl für Europa, es denkt &#x201E;planetarisch" und unter<lb/>
diesem Gesichtswinkel fürchtete es auch nicht Rußlands Verstärkung, denn Ru߬<lb/>
land ist vom englischen Gesichtspunkt aus in wirtschaftlicher Hinsicht nur ein<lb/>
Kleinstaat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1751" next="#ID_1752"> Deutschland hat auch hier den höheren Gesichtspunkt: &#x201E;Gleichgewicht auf<lb/>
dem Meere wie auf dem Lande! Ein Zustand von maritimen Gleichgewicht</p><lb/>
          <note xml:id="FID_52" place="foot"> *) Ein Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges, 1918, Heft 62,</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0420] politische Probleme des Weltkrieges inneren Schwierigkeiten mit unserer Sozialdemokratie spekulierten. Ferner hätte Kjellen hier darauf hinweisen können, daß unsere Feinde den partikularistischen Geist Deutschlands, von dem der württembergische Ministerpräsident neulich eine so prachtvolle Begriffsbestimmung gegeben hat, für eine Disharmonie in unserem Volke gehalten haben und, wie es in den naiven Erklärungen Grevs und der englischen Staatsmänner zum Ausdruck kam, auf Zersetzung des Reichs durch ihn hofften. Beachtenswert ist ferner das, was Kjellen über die Versuchung der Staaten sagt „die innere Unruhe nach außen hin abzulenken und durch den Krieg einen heilsamen Druck nach innen hin zu schaffen". Er findet, daß namentlich in Österreich-Ungarn und in England solche Momente vorhanden waren. So bekam der bekannte russische Kriegshetzer Brjantschcminow „nach einem Besuche bei Edward Grey in London den bestimmten Eindruck, daß die englische Regierung keinen andern Ausweg aus den MißHelligkeiten der Homerulefrage sah als den Krieg". (Nowoje Zwenü vom 23. März 1914). Was Rußland anlangt, so urteilt Kjellen ebenso wie es in dem Grenzboten¬ aufsatz vom 29. Dezember v. I.*) geschehen ist: „es unterliegt keinem Zweifel, daß die Rücksicht aus den inneren Zustand des Staates für Rußland..... ein wirkliches Motiv dazu war, das große Abenteuer zu wagen". Auch der Gesichtspunkt der Autarkie, des wirtschaftlichen Selbstgenügens, muß für die Staaten entscheidend sein. Rußland „fühlte sich" durch den Handels¬ vertrag mit Deutschland behindert, glaubte für den Getreideexport das Aus¬ fallstor der Dardanellen nötig zu haben. Der russische Bauer verlangte „mehr Erde". Der „deutsch-englische" Wirtschaftsgegensatz endlich ist ein oft genug erörtertes Thema. Hier prägt Kjellen für das Verständnis des englischen Gedankenganges ein gutes Wort: „Im Grunde muß ja die Autarkie auf eigenem Boden jenem als ein zu niedriges Ideal erscheinen, der Pantarkie, — Kontrolle über die Welt — verlangt". Kein Mitbewerber auf dem Meere mehr und Verwirklichung des alten puritanischen Gedankens „das Gottesreich auf Erden unter englischer Flagge" — das ist das große Ziel des englischen „Herrenvolkes". „Zum zweitenmal begegnen wir hier dem Welteroberungs¬ gedanken in der Ursachenverkettung des Weltkrieges. Auf beiden Seiten von Deutschland wurde er geträumt, und die Träumer vereinigten sich in der Hoffnung auf Deutschlands Vernichtung." England, so konstatierte Kjellen, hat kein „Verantwortungsgefühl für Europa, es denkt „planetarisch" und unter diesem Gesichtswinkel fürchtete es auch nicht Rußlands Verstärkung, denn Ru߬ land ist vom englischen Gesichtspunkt aus in wirtschaftlicher Hinsicht nur ein Kleinstaat. Deutschland hat auch hier den höheren Gesichtspunkt: „Gleichgewicht auf dem Meere wie auf dem Lande! Ein Zustand von maritimen Gleichgewicht *) Ein Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges, 1918, Heft 62,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/420
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/420>, abgerufen am 23.12.2024.