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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Lebcnsmittelvcrteilnng

den mit einer reichlichen Ernte gesegneten Landesteilen in die notleidenden
Gebiete an den Verkehrsmißständen ihre Klippe findet. Es zeugt mithin von
einem erfreulichen Reifegrad, wenn wir dem Ansturm auf unsere Nahrungs¬
wirtschaft so gut standhalten konnten, wie es bisher geschehen ist. Zu über¬
sehender Selbstbespiegelung liegt allerdings kein Anlaß vor. Schwäche und
Unerfahrenheit haben uns mehrfach auf Irrwege verlockt, von denen wir erst
nach unliebsamen Erfahrungen zu besserer Erkenntnis dessen, was not tut, vor¬
drangen. Und ist denn wirklich die Organisation der Verteilung und des
Verbrauchs von Lebensmitteln zufriedenstellend? Diese Frage kann nicht bejaht
werden, solange der Übergang der Lebensmittel vom Produzenten durch die
verschiedenen Etappen bis in die Hände des letzten Kosumenten häufig sich zu
einem Hindernisrennen gestaltet. Trotz schärfster Strafandrohungen ist es bis¬
her weder gelungen, die Bewucherung der Kleinkäufer gründlich auszurotten,
noch die vielen verteuernden Zwischenglieder auszuschalten. Der individuelle
Egoismus, den das Händlertum im Nahrungsmittelverkauf an den Tag legt,
ist übrigens auch in den Preisen der Produzenten keine seltene Erscheinung.
Am Gewinn aus dem Schiebe- oder Kettenhandel möchte vielerlei Volk sich
auffrischen.

Wie die Produzenten und Zwischenhändler, hätten ferner auch die Kon¬
sumenten Veranlassung, ihre Unvollkommenheit gegenüber den Anforderungen
einer wohlgeordneten Lebensmittelverteilung zu bekennen. Die staatlichen Ma߬
nahmen zur Lebensmittelversorgung haben auf Schritt und Tritt gegen die
passiven Widerstände der Gleichgültigen und die aktive "Gegenaktion" der
irgendwie in Mitleidenschaft gezogenen Verzehrer ankämpfen müssen. Im
Haschen nach kleinen persönlichen Vorteilen find die Anstandsrücksichten selbst in
den "oberen Regionen" der Gesellschaft häufig genug unter die Füße geraten.
Gegenüber dem feindlichen Aushungerungskriege bilden die Lauer und Schwach¬
mütigen eine besonders zahlreiche Heerestruppe.

Das moralische Versagen der einzelnen kann freilich den würdigen Ein¬
druck nicht beeinträchtigen, den die entschlossene und zielbewußte Haltung der
Gesamtheit des deutschen Volkes den Versorgungsnöten gegenüber auf Freund
und Feind ausübt. Mit dem Durchhalten im Wirtschaftskrieg ist es uns
heiliger Ernst und mögen die Brotkörbe noch viel höher gehängt und die Fleisch¬
töpfe noch kärglicher als gegenwärtig versorgt werden. Die von der Feinde
Arglist und Tücke uns auferlegte Prüfungszeit wird daheim ebenso mannhaft
wie im Felde durchgerungen werden. Das erfordert eine sittliche Reise, zu der
das deutsche Volk durch Erziehung und Bildung vorbereitet, durch Vaterlands¬
liebe und Disziplin befähigt ist. Der Gedanke, daß es neben der Wehrpflicht
im Dienste der Allgemeinheit auch eine Nährpflicht gibt, hat in Deutschland
jetzt tiefere Wurzeln geschlagen denn je zuvor. Die Produktion von Lebens¬
mitteln darf in unserem kriegsumtobten, von den meisten Zufuhrgebieten ab¬
geschlossenen Vaterlande nicht mehr lediglich als eine durch Gewinnstreben be-


Die Lebcnsmittelvcrteilnng

den mit einer reichlichen Ernte gesegneten Landesteilen in die notleidenden
Gebiete an den Verkehrsmißständen ihre Klippe findet. Es zeugt mithin von
einem erfreulichen Reifegrad, wenn wir dem Ansturm auf unsere Nahrungs¬
wirtschaft so gut standhalten konnten, wie es bisher geschehen ist. Zu über¬
sehender Selbstbespiegelung liegt allerdings kein Anlaß vor. Schwäche und
Unerfahrenheit haben uns mehrfach auf Irrwege verlockt, von denen wir erst
nach unliebsamen Erfahrungen zu besserer Erkenntnis dessen, was not tut, vor¬
drangen. Und ist denn wirklich die Organisation der Verteilung und des
Verbrauchs von Lebensmitteln zufriedenstellend? Diese Frage kann nicht bejaht
werden, solange der Übergang der Lebensmittel vom Produzenten durch die
verschiedenen Etappen bis in die Hände des letzten Kosumenten häufig sich zu
einem Hindernisrennen gestaltet. Trotz schärfster Strafandrohungen ist es bis¬
her weder gelungen, die Bewucherung der Kleinkäufer gründlich auszurotten,
noch die vielen verteuernden Zwischenglieder auszuschalten. Der individuelle
Egoismus, den das Händlertum im Nahrungsmittelverkauf an den Tag legt,
ist übrigens auch in den Preisen der Produzenten keine seltene Erscheinung.
Am Gewinn aus dem Schiebe- oder Kettenhandel möchte vielerlei Volk sich
auffrischen.

Wie die Produzenten und Zwischenhändler, hätten ferner auch die Kon¬
sumenten Veranlassung, ihre Unvollkommenheit gegenüber den Anforderungen
einer wohlgeordneten Lebensmittelverteilung zu bekennen. Die staatlichen Ma߬
nahmen zur Lebensmittelversorgung haben auf Schritt und Tritt gegen die
passiven Widerstände der Gleichgültigen und die aktive „Gegenaktion" der
irgendwie in Mitleidenschaft gezogenen Verzehrer ankämpfen müssen. Im
Haschen nach kleinen persönlichen Vorteilen find die Anstandsrücksichten selbst in
den „oberen Regionen" der Gesellschaft häufig genug unter die Füße geraten.
Gegenüber dem feindlichen Aushungerungskriege bilden die Lauer und Schwach¬
mütigen eine besonders zahlreiche Heerestruppe.

Das moralische Versagen der einzelnen kann freilich den würdigen Ein¬
druck nicht beeinträchtigen, den die entschlossene und zielbewußte Haltung der
Gesamtheit des deutschen Volkes den Versorgungsnöten gegenüber auf Freund
und Feind ausübt. Mit dem Durchhalten im Wirtschaftskrieg ist es uns
heiliger Ernst und mögen die Brotkörbe noch viel höher gehängt und die Fleisch¬
töpfe noch kärglicher als gegenwärtig versorgt werden. Die von der Feinde
Arglist und Tücke uns auferlegte Prüfungszeit wird daheim ebenso mannhaft
wie im Felde durchgerungen werden. Das erfordert eine sittliche Reise, zu der
das deutsche Volk durch Erziehung und Bildung vorbereitet, durch Vaterlands¬
liebe und Disziplin befähigt ist. Der Gedanke, daß es neben der Wehrpflicht
im Dienste der Allgemeinheit auch eine Nährpflicht gibt, hat in Deutschland
jetzt tiefere Wurzeln geschlagen denn je zuvor. Die Produktion von Lebens¬
mitteln darf in unserem kriegsumtobten, von den meisten Zufuhrgebieten ab¬
geschlossenen Vaterlande nicht mehr lediglich als eine durch Gewinnstreben be-


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[0402] Die Lebcnsmittelvcrteilnng den mit einer reichlichen Ernte gesegneten Landesteilen in die notleidenden Gebiete an den Verkehrsmißständen ihre Klippe findet. Es zeugt mithin von einem erfreulichen Reifegrad, wenn wir dem Ansturm auf unsere Nahrungs¬ wirtschaft so gut standhalten konnten, wie es bisher geschehen ist. Zu über¬ sehender Selbstbespiegelung liegt allerdings kein Anlaß vor. Schwäche und Unerfahrenheit haben uns mehrfach auf Irrwege verlockt, von denen wir erst nach unliebsamen Erfahrungen zu besserer Erkenntnis dessen, was not tut, vor¬ drangen. Und ist denn wirklich die Organisation der Verteilung und des Verbrauchs von Lebensmitteln zufriedenstellend? Diese Frage kann nicht bejaht werden, solange der Übergang der Lebensmittel vom Produzenten durch die verschiedenen Etappen bis in die Hände des letzten Kosumenten häufig sich zu einem Hindernisrennen gestaltet. Trotz schärfster Strafandrohungen ist es bis¬ her weder gelungen, die Bewucherung der Kleinkäufer gründlich auszurotten, noch die vielen verteuernden Zwischenglieder auszuschalten. Der individuelle Egoismus, den das Händlertum im Nahrungsmittelverkauf an den Tag legt, ist übrigens auch in den Preisen der Produzenten keine seltene Erscheinung. Am Gewinn aus dem Schiebe- oder Kettenhandel möchte vielerlei Volk sich auffrischen. Wie die Produzenten und Zwischenhändler, hätten ferner auch die Kon¬ sumenten Veranlassung, ihre Unvollkommenheit gegenüber den Anforderungen einer wohlgeordneten Lebensmittelverteilung zu bekennen. Die staatlichen Ma߬ nahmen zur Lebensmittelversorgung haben auf Schritt und Tritt gegen die passiven Widerstände der Gleichgültigen und die aktive „Gegenaktion" der irgendwie in Mitleidenschaft gezogenen Verzehrer ankämpfen müssen. Im Haschen nach kleinen persönlichen Vorteilen find die Anstandsrücksichten selbst in den „oberen Regionen" der Gesellschaft häufig genug unter die Füße geraten. Gegenüber dem feindlichen Aushungerungskriege bilden die Lauer und Schwach¬ mütigen eine besonders zahlreiche Heerestruppe. Das moralische Versagen der einzelnen kann freilich den würdigen Ein¬ druck nicht beeinträchtigen, den die entschlossene und zielbewußte Haltung der Gesamtheit des deutschen Volkes den Versorgungsnöten gegenüber auf Freund und Feind ausübt. Mit dem Durchhalten im Wirtschaftskrieg ist es uns heiliger Ernst und mögen die Brotkörbe noch viel höher gehängt und die Fleisch¬ töpfe noch kärglicher als gegenwärtig versorgt werden. Die von der Feinde Arglist und Tücke uns auferlegte Prüfungszeit wird daheim ebenso mannhaft wie im Felde durchgerungen werden. Das erfordert eine sittliche Reise, zu der das deutsche Volk durch Erziehung und Bildung vorbereitet, durch Vaterlands¬ liebe und Disziplin befähigt ist. Der Gedanke, daß es neben der Wehrpflicht im Dienste der Allgemeinheit auch eine Nährpflicht gibt, hat in Deutschland jetzt tiefere Wurzeln geschlagen denn je zuvor. Die Produktion von Lebens¬ mitteln darf in unserem kriegsumtobten, von den meisten Zufuhrgebieten ab¬ geschlossenen Vaterlande nicht mehr lediglich als eine durch Gewinnstreben be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/402>, abgerufen am 28.07.2024.