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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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liegend erschien die Beschlagnahme, für die bei der Behandlung des Brot¬
getreides ein gutes Beispiel geboten war. Mit Kartoffeln kann jedoch nicht
wie mit Getreide umgegangen werden. Die Kartoffel hat eben andere Eigen¬
schaften als Getreide. Dieses ist eine "tote" Frucht, kann ohne umständliche
Pflege lange lagern. Kartoffel dagegen ist eine "lebendige" Frucht, abhängig
von chemischen Wandlungsprozessen, die bei nicht entsprechender Witterung,
Pflege und Lagerung sehr schnell die Früchte verderben lassen. Schließlich hat
man dennoch zu einer Beschlagnahme in modifizierter Form schreiten müssen,
wenngleich von der straffen Zentralisierung, wie sie beim Brodgetreide gilt, zu¬
gunsten provinzieller Verteilungsorgane abgesehen wird. Die Einzelheiten
hierüber können außer Betracht bleiben.

Man wird verstehen, daß die mannigfachen Fehlgänge in der Kartoffel¬
politik einen etwas peinlichen Eindruck hinterlassen. Zwei Tatsachen erscheinen
schwer vereinbar. Das Jahr 1915 hatte uns eine ausgezeichnete Kartoffel¬
ernte beschert. Nach der Aufnahme vom 26. April 1916 ergab sich für
Preußen (die Zahlen für das Reich liegen noch nicht vor) ein Gesamtbestand
von 92,7 Millionen Zentner gegen nur 55,4 Millionen Zentner am 15. Mai
1915. In einer amtlichen Auslassung hierzu wird festgestellt, daß man das
Resultat "nur als Bestätigung völliger und zweifelssreier Sicherung unserer
Kartoffelbedarfsdeckung deuten kann". Die zweite Tatsache sind die Stockun¬
gen, die trotzdem in der Kartoffelversorgung der städtischen Einwohnerschaft
immer wieder periodisch aufgetreten sind. Der Laienverstand sagt sich, daß
irgendwo ein Fehler in der Vermittlungsorganisation stecken müsse. Man hat
die Regierung, die Eisenbahnen, die Landwirte, die Zwischenhändler u. a. in. mit
der Verantwortung für dieses schwer erklärliche Versagen in den Lieferungen
belasten wollen. Offiziöse Federn sind den Vorwürfen entgegengetreten, freilich
ohne überzeugend zu wirken. Nach unserer Meinung wären die Schwierig¬
keiten in der Kartoffelfrage viel leichter zu überwinden gewesen, wenn ein ein¬
heitlicher fester Wille in der Verteilung der Vorräte sich betätigt hätte.

Wir haben die Lebensmittelverteilung eine Reifeprüfung des deutschen
Volkes genannt. Noch nie zuvor ist ein solcher Knäuel schwieriger nahrungs-
wirtschastlicher Aufgaben einem Volk vom Schicksal zu lösen aufgegeben worden
wie gegenwärtig dem deutschen. Man darf aber auch getrost behaupten, daß
keine andere Nation so erfolgreich den Schwierigkeiten zu Leibe zu gehen im¬
stande wäre. Mit gerechtem Stolz wird beispielsweise darauf hingewiesen, daß
in dem, seiner Beherrschung der Meere sich rühmenden Großbritannien die not¬
wendigsten Nahrungsmittel ungleich höher als in Deutschland im Preise stehen,
obgleich wir infolge der Sperrung der Grenzen im wesentlichen auf die in¬
ländische, unter erschwerenden Bedingungen arbeitende Produktion angewiesen
sind. Von einem Vergleich mit Rußland können wir ganz absehen; dort ver¬
ursacht schon jede größere Mißernte die ärgsten wirtschaftlichen Kalamitäten,
gesteigert bis zur verheerenden Hungersnot, weil die Zufuhr von Korn aus


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liegend erschien die Beschlagnahme, für die bei der Behandlung des Brot¬
getreides ein gutes Beispiel geboten war. Mit Kartoffeln kann jedoch nicht
wie mit Getreide umgegangen werden. Die Kartoffel hat eben andere Eigen¬
schaften als Getreide. Dieses ist eine „tote" Frucht, kann ohne umständliche
Pflege lange lagern. Kartoffel dagegen ist eine „lebendige" Frucht, abhängig
von chemischen Wandlungsprozessen, die bei nicht entsprechender Witterung,
Pflege und Lagerung sehr schnell die Früchte verderben lassen. Schließlich hat
man dennoch zu einer Beschlagnahme in modifizierter Form schreiten müssen,
wenngleich von der straffen Zentralisierung, wie sie beim Brodgetreide gilt, zu¬
gunsten provinzieller Verteilungsorgane abgesehen wird. Die Einzelheiten
hierüber können außer Betracht bleiben.

Man wird verstehen, daß die mannigfachen Fehlgänge in der Kartoffel¬
politik einen etwas peinlichen Eindruck hinterlassen. Zwei Tatsachen erscheinen
schwer vereinbar. Das Jahr 1915 hatte uns eine ausgezeichnete Kartoffel¬
ernte beschert. Nach der Aufnahme vom 26. April 1916 ergab sich für
Preußen (die Zahlen für das Reich liegen noch nicht vor) ein Gesamtbestand
von 92,7 Millionen Zentner gegen nur 55,4 Millionen Zentner am 15. Mai
1915. In einer amtlichen Auslassung hierzu wird festgestellt, daß man das
Resultat „nur als Bestätigung völliger und zweifelssreier Sicherung unserer
Kartoffelbedarfsdeckung deuten kann". Die zweite Tatsache sind die Stockun¬
gen, die trotzdem in der Kartoffelversorgung der städtischen Einwohnerschaft
immer wieder periodisch aufgetreten sind. Der Laienverstand sagt sich, daß
irgendwo ein Fehler in der Vermittlungsorganisation stecken müsse. Man hat
die Regierung, die Eisenbahnen, die Landwirte, die Zwischenhändler u. a. in. mit
der Verantwortung für dieses schwer erklärliche Versagen in den Lieferungen
belasten wollen. Offiziöse Federn sind den Vorwürfen entgegengetreten, freilich
ohne überzeugend zu wirken. Nach unserer Meinung wären die Schwierig¬
keiten in der Kartoffelfrage viel leichter zu überwinden gewesen, wenn ein ein¬
heitlicher fester Wille in der Verteilung der Vorräte sich betätigt hätte.

Wir haben die Lebensmittelverteilung eine Reifeprüfung des deutschen
Volkes genannt. Noch nie zuvor ist ein solcher Knäuel schwieriger nahrungs-
wirtschastlicher Aufgaben einem Volk vom Schicksal zu lösen aufgegeben worden
wie gegenwärtig dem deutschen. Man darf aber auch getrost behaupten, daß
keine andere Nation so erfolgreich den Schwierigkeiten zu Leibe zu gehen im¬
stande wäre. Mit gerechtem Stolz wird beispielsweise darauf hingewiesen, daß
in dem, seiner Beherrschung der Meere sich rühmenden Großbritannien die not¬
wendigsten Nahrungsmittel ungleich höher als in Deutschland im Preise stehen,
obgleich wir infolge der Sperrung der Grenzen im wesentlichen auf die in¬
ländische, unter erschwerenden Bedingungen arbeitende Produktion angewiesen
sind. Von einem Vergleich mit Rußland können wir ganz absehen; dort ver¬
ursacht schon jede größere Mißernte die ärgsten wirtschaftlichen Kalamitäten,
gesteigert bis zur verheerenden Hungersnot, weil die Zufuhr von Korn aus


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[0401] Die Lebensmittelverteilimg liegend erschien die Beschlagnahme, für die bei der Behandlung des Brot¬ getreides ein gutes Beispiel geboten war. Mit Kartoffeln kann jedoch nicht wie mit Getreide umgegangen werden. Die Kartoffel hat eben andere Eigen¬ schaften als Getreide. Dieses ist eine „tote" Frucht, kann ohne umständliche Pflege lange lagern. Kartoffel dagegen ist eine „lebendige" Frucht, abhängig von chemischen Wandlungsprozessen, die bei nicht entsprechender Witterung, Pflege und Lagerung sehr schnell die Früchte verderben lassen. Schließlich hat man dennoch zu einer Beschlagnahme in modifizierter Form schreiten müssen, wenngleich von der straffen Zentralisierung, wie sie beim Brodgetreide gilt, zu¬ gunsten provinzieller Verteilungsorgane abgesehen wird. Die Einzelheiten hierüber können außer Betracht bleiben. Man wird verstehen, daß die mannigfachen Fehlgänge in der Kartoffel¬ politik einen etwas peinlichen Eindruck hinterlassen. Zwei Tatsachen erscheinen schwer vereinbar. Das Jahr 1915 hatte uns eine ausgezeichnete Kartoffel¬ ernte beschert. Nach der Aufnahme vom 26. April 1916 ergab sich für Preußen (die Zahlen für das Reich liegen noch nicht vor) ein Gesamtbestand von 92,7 Millionen Zentner gegen nur 55,4 Millionen Zentner am 15. Mai 1915. In einer amtlichen Auslassung hierzu wird festgestellt, daß man das Resultat „nur als Bestätigung völliger und zweifelssreier Sicherung unserer Kartoffelbedarfsdeckung deuten kann". Die zweite Tatsache sind die Stockun¬ gen, die trotzdem in der Kartoffelversorgung der städtischen Einwohnerschaft immer wieder periodisch aufgetreten sind. Der Laienverstand sagt sich, daß irgendwo ein Fehler in der Vermittlungsorganisation stecken müsse. Man hat die Regierung, die Eisenbahnen, die Landwirte, die Zwischenhändler u. a. in. mit der Verantwortung für dieses schwer erklärliche Versagen in den Lieferungen belasten wollen. Offiziöse Federn sind den Vorwürfen entgegengetreten, freilich ohne überzeugend zu wirken. Nach unserer Meinung wären die Schwierig¬ keiten in der Kartoffelfrage viel leichter zu überwinden gewesen, wenn ein ein¬ heitlicher fester Wille in der Verteilung der Vorräte sich betätigt hätte. Wir haben die Lebensmittelverteilung eine Reifeprüfung des deutschen Volkes genannt. Noch nie zuvor ist ein solcher Knäuel schwieriger nahrungs- wirtschastlicher Aufgaben einem Volk vom Schicksal zu lösen aufgegeben worden wie gegenwärtig dem deutschen. Man darf aber auch getrost behaupten, daß keine andere Nation so erfolgreich den Schwierigkeiten zu Leibe zu gehen im¬ stande wäre. Mit gerechtem Stolz wird beispielsweise darauf hingewiesen, daß in dem, seiner Beherrschung der Meere sich rühmenden Großbritannien die not¬ wendigsten Nahrungsmittel ungleich höher als in Deutschland im Preise stehen, obgleich wir infolge der Sperrung der Grenzen im wesentlichen auf die in¬ ländische, unter erschwerenden Bedingungen arbeitende Produktion angewiesen sind. Von einem Vergleich mit Rußland können wir ganz absehen; dort ver¬ ursacht schon jede größere Mißernte die ärgsten wirtschaftlichen Kalamitäten, gesteigert bis zur verheerenden Hungersnot, weil die Zufuhr von Korn aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/401>, abgerufen am 01.09.2024.