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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Um "die öffentliche Meinung"

des auf dem deutschen Idealismus beruhenden erhöhten Staatsdenkens, wo wir
aber auch deutlich genug in unsere Zeit noch hineinragen fühlen die Reste des
alten ständisch-patriarchalischen Wesens. Das ist eine Kluft, die zu überbrücken
Aufgabe der Zukunft sein muß. Wir werden um so stärker sein in der Welt,
je geschlossener wir auftreten. Das heißt aber, je fester die Arbeit und das
Wirken der Regierungsstellen in den Volkswünschen fundamentiert ist, um so
mehr wird das Verantwortungsgefühl in jedem einzelnen Bürger für das
Ganze sich steigern. Das Ideal wäre, eine öffentliche Meinung vor sich zu
haben. Es ist erreicht worden in den großen Tagen des Kriegsausbruches, in
denen wirklich die höchste politische Moral der Patriotismus war. Die lange
Dauer des Krieges, das verschiedene Matz von Opfern, das er den einzelnen
auferlegt, die Aussichtslosigkeit auf einen baldigen Frieden, die Schwierigkeiten
und Fehler in der Ernährungspolitik haben nun allerdings -- und das ist kein
Wunder nach 22 Monaten des mörderischsten Völkerringens I -- in die sein"
mung des Volkes einen Zug von Resigniertheit hineingetragen. Ihn gilt es
zu beheben.

Es ist oben das Wort gebraucht worden von der Entpersönlichung der
Staatsgewalt. Damit soll angedeutet sein, daß das heutige Regierungssystem
einen Kollektivkörper ausmacht, zu dem außer dem Herrscher und seinen Be¬
ratern, außer dem Beamtentum auch das Parlament gehört. Die Regierung,
die diese drei Faktoren in sich schließt, steht also keineswegs außerhalb der
öffentlichen Meinungen. Wenn sie über den Parteien thronen soll, so bedeutet
das nichts anderes, als daß sie eben die Meinungen abwägen soll und danach
mit Verantwortung urteilen und handeln. Bismarck sagte einmal im Reichs¬
tag: "Ich gehöre auch zum Volk!" Als Einzelmensch konnte er sich denn
auch nicht über den Staat stellen, dessen Persönlichkeitsinhalt den Begriff des
Volkes erfüllt. Auch die Regierungsansichten stellen somit eine öffentliche
Meinung dar, die freilich aus der Natur ihrer Verantwortlichkeit sich nicht auf
die Meinungen einzelner Volksschichten hin zu gefährlichen Experimenten ver¬
leiten lassen darf. Dieser Umstand verleiht jeder Regierung immer einen
konservativen Zug. Er findet seinen Ausdruck in der Staatsmoral.

Neben der Negierung, die zur Äußerung ihrer öffentlichen Meinung das
wichtigste Organ des Verfafsungsstaates, das Parlament, besitzt, sind wir ge¬
wohnt, die Presse als bedeutsamstes Organ der öffentlichen Meinung im Volke
anzusprechen. Im Sinne hat die Allgemeinheit zumeist die politische Tages¬
presse. Diese Auffassung ist durchaus unzureichend, da -- wenn wir einmal
ganz absehen wollen von Zeitschriften, Flugblättern und ähnlichem -- die
Tagespressen als Spiegel aller Erscheinungen des täglichen Lebens auch, sei
es direkt oder indirekt, Stellung nimmt zu Dingen, die mit Politik nichts
zu tun haben. Wenn im Textteil einer Zeitung Kulturideen gefördert
werden, wie die Sklavenbefreiung oder Humanitätsideen (Rotes Kreuz usw.)


Um „die öffentliche Meinung"

des auf dem deutschen Idealismus beruhenden erhöhten Staatsdenkens, wo wir
aber auch deutlich genug in unsere Zeit noch hineinragen fühlen die Reste des
alten ständisch-patriarchalischen Wesens. Das ist eine Kluft, die zu überbrücken
Aufgabe der Zukunft sein muß. Wir werden um so stärker sein in der Welt,
je geschlossener wir auftreten. Das heißt aber, je fester die Arbeit und das
Wirken der Regierungsstellen in den Volkswünschen fundamentiert ist, um so
mehr wird das Verantwortungsgefühl in jedem einzelnen Bürger für das
Ganze sich steigern. Das Ideal wäre, eine öffentliche Meinung vor sich zu
haben. Es ist erreicht worden in den großen Tagen des Kriegsausbruches, in
denen wirklich die höchste politische Moral der Patriotismus war. Die lange
Dauer des Krieges, das verschiedene Matz von Opfern, das er den einzelnen
auferlegt, die Aussichtslosigkeit auf einen baldigen Frieden, die Schwierigkeiten
und Fehler in der Ernährungspolitik haben nun allerdings — und das ist kein
Wunder nach 22 Monaten des mörderischsten Völkerringens I — in die sein»
mung des Volkes einen Zug von Resigniertheit hineingetragen. Ihn gilt es
zu beheben.

Es ist oben das Wort gebraucht worden von der Entpersönlichung der
Staatsgewalt. Damit soll angedeutet sein, daß das heutige Regierungssystem
einen Kollektivkörper ausmacht, zu dem außer dem Herrscher und seinen Be¬
ratern, außer dem Beamtentum auch das Parlament gehört. Die Regierung,
die diese drei Faktoren in sich schließt, steht also keineswegs außerhalb der
öffentlichen Meinungen. Wenn sie über den Parteien thronen soll, so bedeutet
das nichts anderes, als daß sie eben die Meinungen abwägen soll und danach
mit Verantwortung urteilen und handeln. Bismarck sagte einmal im Reichs¬
tag: „Ich gehöre auch zum Volk!" Als Einzelmensch konnte er sich denn
auch nicht über den Staat stellen, dessen Persönlichkeitsinhalt den Begriff des
Volkes erfüllt. Auch die Regierungsansichten stellen somit eine öffentliche
Meinung dar, die freilich aus der Natur ihrer Verantwortlichkeit sich nicht auf
die Meinungen einzelner Volksschichten hin zu gefährlichen Experimenten ver¬
leiten lassen darf. Dieser Umstand verleiht jeder Regierung immer einen
konservativen Zug. Er findet seinen Ausdruck in der Staatsmoral.

Neben der Negierung, die zur Äußerung ihrer öffentlichen Meinung das
wichtigste Organ des Verfafsungsstaates, das Parlament, besitzt, sind wir ge¬
wohnt, die Presse als bedeutsamstes Organ der öffentlichen Meinung im Volke
anzusprechen. Im Sinne hat die Allgemeinheit zumeist die politische Tages¬
presse. Diese Auffassung ist durchaus unzureichend, da — wenn wir einmal
ganz absehen wollen von Zeitschriften, Flugblättern und ähnlichem — die
Tagespressen als Spiegel aller Erscheinungen des täglichen Lebens auch, sei
es direkt oder indirekt, Stellung nimmt zu Dingen, die mit Politik nichts
zu tun haben. Wenn im Textteil einer Zeitung Kulturideen gefördert
werden, wie die Sklavenbefreiung oder Humanitätsideen (Rotes Kreuz usw.)


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[0385] Um „die öffentliche Meinung" des auf dem deutschen Idealismus beruhenden erhöhten Staatsdenkens, wo wir aber auch deutlich genug in unsere Zeit noch hineinragen fühlen die Reste des alten ständisch-patriarchalischen Wesens. Das ist eine Kluft, die zu überbrücken Aufgabe der Zukunft sein muß. Wir werden um so stärker sein in der Welt, je geschlossener wir auftreten. Das heißt aber, je fester die Arbeit und das Wirken der Regierungsstellen in den Volkswünschen fundamentiert ist, um so mehr wird das Verantwortungsgefühl in jedem einzelnen Bürger für das Ganze sich steigern. Das Ideal wäre, eine öffentliche Meinung vor sich zu haben. Es ist erreicht worden in den großen Tagen des Kriegsausbruches, in denen wirklich die höchste politische Moral der Patriotismus war. Die lange Dauer des Krieges, das verschiedene Matz von Opfern, das er den einzelnen auferlegt, die Aussichtslosigkeit auf einen baldigen Frieden, die Schwierigkeiten und Fehler in der Ernährungspolitik haben nun allerdings — und das ist kein Wunder nach 22 Monaten des mörderischsten Völkerringens I — in die sein» mung des Volkes einen Zug von Resigniertheit hineingetragen. Ihn gilt es zu beheben. Es ist oben das Wort gebraucht worden von der Entpersönlichung der Staatsgewalt. Damit soll angedeutet sein, daß das heutige Regierungssystem einen Kollektivkörper ausmacht, zu dem außer dem Herrscher und seinen Be¬ ratern, außer dem Beamtentum auch das Parlament gehört. Die Regierung, die diese drei Faktoren in sich schließt, steht also keineswegs außerhalb der öffentlichen Meinungen. Wenn sie über den Parteien thronen soll, so bedeutet das nichts anderes, als daß sie eben die Meinungen abwägen soll und danach mit Verantwortung urteilen und handeln. Bismarck sagte einmal im Reichs¬ tag: „Ich gehöre auch zum Volk!" Als Einzelmensch konnte er sich denn auch nicht über den Staat stellen, dessen Persönlichkeitsinhalt den Begriff des Volkes erfüllt. Auch die Regierungsansichten stellen somit eine öffentliche Meinung dar, die freilich aus der Natur ihrer Verantwortlichkeit sich nicht auf die Meinungen einzelner Volksschichten hin zu gefährlichen Experimenten ver¬ leiten lassen darf. Dieser Umstand verleiht jeder Regierung immer einen konservativen Zug. Er findet seinen Ausdruck in der Staatsmoral. Neben der Negierung, die zur Äußerung ihrer öffentlichen Meinung das wichtigste Organ des Verfafsungsstaates, das Parlament, besitzt, sind wir ge¬ wohnt, die Presse als bedeutsamstes Organ der öffentlichen Meinung im Volke anzusprechen. Im Sinne hat die Allgemeinheit zumeist die politische Tages¬ presse. Diese Auffassung ist durchaus unzureichend, da — wenn wir einmal ganz absehen wollen von Zeitschriften, Flugblättern und ähnlichem — die Tagespressen als Spiegel aller Erscheinungen des täglichen Lebens auch, sei es direkt oder indirekt, Stellung nimmt zu Dingen, die mit Politik nichts zu tun haben. Wenn im Textteil einer Zeitung Kulturideen gefördert werden, wie die Sklavenbefreiung oder Humanitätsideen (Rotes Kreuz usw.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/385>, abgerufen am 23.12.2024.