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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Kriegerisches Proxhetentum

"Sau! hat Tausende geschlagen,
David aber Zehntausende!

Ebenso die ergreifende Totenklage Davids um Saul und Jonathan.

In den Kriegshymnen der Propheten dagegen gibt es kein Heldentum
mehr. Weil damals die Zeiten der Helden und des Heldentums vorüber
waren, und der Krieg nichts als ein Grauen bedeutete. Damals war er
wirklich für Israel das, was Rußland noch jüngst aus ihm machen wollte,
eine Dampfwalze oder, wie der Prophet Jesaja einmal sagt, ein Dreschschlitten.
Er war das unentrinnbare Schicksal, das Ungeheure, vor dem jeder zitterte.

Und trotzdem ist man mit jenem Ungeheuren fertig geworden, und daß
Israel in seinen und durch seine Propheten rin ihm fertig wurde, das ist das
erste sittliche Moment, das in der kriegerischen Prophetenrede lebt und ihr
ewigen Wert verleiht. Die Propheten waren die großen Wegweiser ihres
Volkes, die ihm, da der Weg nach außen zu Sieg, Macht und Ruhm ver¬
rammelt war, die Wege nach innen wiesen, die Wege zurDuße und sittlichen
Läuterung, darüber hinaus aber zur stärksten Selbstempfindung. Ich wage die
Behauptung, daß nie ein Volk so stark sich selbst empfunden hat wie Israel in
jener Zeit. In der tiefsten nationalen Not träumte es den Traum nationaler
Größe. Da es die Gegenwart nicht bejahen konnte, bejahte es die
Zukunft:


"Könige sollen deine Wärter sein
Und ihre Fürstinnen deine Ammen!"

Diese Worte stammen aus den Tage der babylonischen Gefangenschaft. Sie
kennzeichnen in Wirklichkeit aber den Geist, der durch alle kriegerische Pro¬
phetenrede weht.

Dieser Geist des nationalen Selbstbewußtseins erhält aber noch eine
besondere Note dadurch, daß es ein "Selbstbewußtsein in Gott" war. "Ich
bin euer Gott und ihr seid mein Volkl" Israel lernte durch die Propheten
nicht nur sich selbst zu empfinden, sondern auch sich in seinem Gotte zu empfinden.
Das ist der zweite große sittliche Wert, den der Kriegsruf der Propheten
geschaffen hat. Es ist ein Persönlichkeitswert.

Die Wissenschaft pflegt den Gegensatz zwischen arischen und semitischem
Denken vielfach durch das Beispiel der verschiedenen Gottesauffassung zu
beleuchten. Im Semitischen, sagt man, sei Gott alles, der Mensch nichts; im
Arischer hingegen heiße es "l'at txvam a8i". "Das bist Du!", d. h. du selbst
bist Brahman, die Gottheit, das All. Darum sei es dem arischen Kulturkreise
vorbehalten geblieben, den Gedanken der Persönlichkeit auszubilden. Das alles
klingt einleuchtend, viel zu einleuchtend, um zu überzeugen.

Wenn die Zeit, die wir heute erleben, uns eine Erkenntnis gebracht hat.
so ist es die, daß jene Persönlichkeit, die das höchste Glück der Erdenkinder
sein soll, durch das restlose Aufgehen des einzelnen in der Gesamtheit nicht


Kriegerisches Proxhetentum

„Sau! hat Tausende geschlagen,
David aber Zehntausende!

Ebenso die ergreifende Totenklage Davids um Saul und Jonathan.

In den Kriegshymnen der Propheten dagegen gibt es kein Heldentum
mehr. Weil damals die Zeiten der Helden und des Heldentums vorüber
waren, und der Krieg nichts als ein Grauen bedeutete. Damals war er
wirklich für Israel das, was Rußland noch jüngst aus ihm machen wollte,
eine Dampfwalze oder, wie der Prophet Jesaja einmal sagt, ein Dreschschlitten.
Er war das unentrinnbare Schicksal, das Ungeheure, vor dem jeder zitterte.

Und trotzdem ist man mit jenem Ungeheuren fertig geworden, und daß
Israel in seinen und durch seine Propheten rin ihm fertig wurde, das ist das
erste sittliche Moment, das in der kriegerischen Prophetenrede lebt und ihr
ewigen Wert verleiht. Die Propheten waren die großen Wegweiser ihres
Volkes, die ihm, da der Weg nach außen zu Sieg, Macht und Ruhm ver¬
rammelt war, die Wege nach innen wiesen, die Wege zurDuße und sittlichen
Läuterung, darüber hinaus aber zur stärksten Selbstempfindung. Ich wage die
Behauptung, daß nie ein Volk so stark sich selbst empfunden hat wie Israel in
jener Zeit. In der tiefsten nationalen Not träumte es den Traum nationaler
Größe. Da es die Gegenwart nicht bejahen konnte, bejahte es die
Zukunft:


„Könige sollen deine Wärter sein
Und ihre Fürstinnen deine Ammen!"

Diese Worte stammen aus den Tage der babylonischen Gefangenschaft. Sie
kennzeichnen in Wirklichkeit aber den Geist, der durch alle kriegerische Pro¬
phetenrede weht.

Dieser Geist des nationalen Selbstbewußtseins erhält aber noch eine
besondere Note dadurch, daß es ein „Selbstbewußtsein in Gott" war. „Ich
bin euer Gott und ihr seid mein Volkl" Israel lernte durch die Propheten
nicht nur sich selbst zu empfinden, sondern auch sich in seinem Gotte zu empfinden.
Das ist der zweite große sittliche Wert, den der Kriegsruf der Propheten
geschaffen hat. Es ist ein Persönlichkeitswert.

Die Wissenschaft pflegt den Gegensatz zwischen arischen und semitischem
Denken vielfach durch das Beispiel der verschiedenen Gottesauffassung zu
beleuchten. Im Semitischen, sagt man, sei Gott alles, der Mensch nichts; im
Arischer hingegen heiße es „l'at txvam a8i". „Das bist Du!", d. h. du selbst
bist Brahman, die Gottheit, das All. Darum sei es dem arischen Kulturkreise
vorbehalten geblieben, den Gedanken der Persönlichkeit auszubilden. Das alles
klingt einleuchtend, viel zu einleuchtend, um zu überzeugen.

Wenn die Zeit, die wir heute erleben, uns eine Erkenntnis gebracht hat.
so ist es die, daß jene Persönlichkeit, die das höchste Glück der Erdenkinder
sein soll, durch das restlose Aufgehen des einzelnen in der Gesamtheit nicht


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[0380] Kriegerisches Proxhetentum „Sau! hat Tausende geschlagen, David aber Zehntausende! Ebenso die ergreifende Totenklage Davids um Saul und Jonathan. In den Kriegshymnen der Propheten dagegen gibt es kein Heldentum mehr. Weil damals die Zeiten der Helden und des Heldentums vorüber waren, und der Krieg nichts als ein Grauen bedeutete. Damals war er wirklich für Israel das, was Rußland noch jüngst aus ihm machen wollte, eine Dampfwalze oder, wie der Prophet Jesaja einmal sagt, ein Dreschschlitten. Er war das unentrinnbare Schicksal, das Ungeheure, vor dem jeder zitterte. Und trotzdem ist man mit jenem Ungeheuren fertig geworden, und daß Israel in seinen und durch seine Propheten rin ihm fertig wurde, das ist das erste sittliche Moment, das in der kriegerischen Prophetenrede lebt und ihr ewigen Wert verleiht. Die Propheten waren die großen Wegweiser ihres Volkes, die ihm, da der Weg nach außen zu Sieg, Macht und Ruhm ver¬ rammelt war, die Wege nach innen wiesen, die Wege zurDuße und sittlichen Läuterung, darüber hinaus aber zur stärksten Selbstempfindung. Ich wage die Behauptung, daß nie ein Volk so stark sich selbst empfunden hat wie Israel in jener Zeit. In der tiefsten nationalen Not träumte es den Traum nationaler Größe. Da es die Gegenwart nicht bejahen konnte, bejahte es die Zukunft: „Könige sollen deine Wärter sein Und ihre Fürstinnen deine Ammen!" Diese Worte stammen aus den Tage der babylonischen Gefangenschaft. Sie kennzeichnen in Wirklichkeit aber den Geist, der durch alle kriegerische Pro¬ phetenrede weht. Dieser Geist des nationalen Selbstbewußtseins erhält aber noch eine besondere Note dadurch, daß es ein „Selbstbewußtsein in Gott" war. „Ich bin euer Gott und ihr seid mein Volkl" Israel lernte durch die Propheten nicht nur sich selbst zu empfinden, sondern auch sich in seinem Gotte zu empfinden. Das ist der zweite große sittliche Wert, den der Kriegsruf der Propheten geschaffen hat. Es ist ein Persönlichkeitswert. Die Wissenschaft pflegt den Gegensatz zwischen arischen und semitischem Denken vielfach durch das Beispiel der verschiedenen Gottesauffassung zu beleuchten. Im Semitischen, sagt man, sei Gott alles, der Mensch nichts; im Arischer hingegen heiße es „l'at txvam a8i". „Das bist Du!", d. h. du selbst bist Brahman, die Gottheit, das All. Darum sei es dem arischen Kulturkreise vorbehalten geblieben, den Gedanken der Persönlichkeit auszubilden. Das alles klingt einleuchtend, viel zu einleuchtend, um zu überzeugen. Wenn die Zeit, die wir heute erleben, uns eine Erkenntnis gebracht hat. so ist es die, daß jene Persönlichkeit, die das höchste Glück der Erdenkinder sein soll, durch das restlose Aufgehen des einzelnen in der Gesamtheit nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/380>, abgerufen am 28.07.2024.