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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Kriegerisches prophetentum

Freilich, nicht immer bedienen sich die Propheten so dunkler Worte, oft
schildern sie mit äußerster Lebendigkeit das Heranbrausen des Feindes und
wirken gerade durch die bis ins Oertliche gehende Genauigkeit, wie es z. B.
Jesajas tat, als im Jahre 711 der Assyrerschrecken Jerusalem bedrohte:


-- Da überfällt er Ajath,
zieht durch Migron, in Michmas läßt er sein Gepäck.
Sie überschreiten die Schlucht, übernachten in Geba,
Rama erschrickt, Gibea Sauls flieht,
Schreie laut, Bewohner von Gallien,
Horch auf, Laisa, stöbre, Anathot.
Madmena irrt umher, es flüchten die Bewohner von Gehim.
Noch heute macht er Halt in Rob und ballt seine Faust
gegen den Berg der Bewohner Zions, den Hügel Jerusalems.

(Ich. 10, 23-32)

Erschütternder noch, weil persönlich selbst erschüttert, kündet hundert Jahre
später Jeremias den Untergang Judas im Nahen Nabokodrossors von Babylon:


Bon Dan her läßt sich das Schnauben seiner Rosse vernehmen,
von dem lauten Gewieher seiner Hengste erbebt das ganze Land, und
sie kommen und fressen das Land auf und was darin ist,
die Stadt und ihre Bewohner.----
Weil mein Volk gebrochen ist, bin ich gebrochen, gehe
ich stöhnend einher, hat mich Grauen erfaßt. Gibt es
denn keinen Balsam mehr in Gilead und ist kein Arzt
mehr da? Warum wird denn der Tochter meines Volkes
keine Heilung?
O wäre doch mein Haupt voll Wassers, und mein Auge ein
Tränenquell, daß ich weinen könnte Tag und Nacht über
(Jeremia 9, Is--17, 21--23) die Erschlagenen meines Volkes!

Die gewaltige Mehrheit der prophetischen Kriegsreden aber gilt nicht
Israel und Juda, sondern seinen Feinden. Assur, Babel, Ägypten, Medien.
Phönizien, PhilisM, Eton, Moab. Ammon, Kedar, sie alle müssen daran
glauben. Die ganze knirschende Wut des ohnmächtig in den Strudel der
Kriege hineingerissenen Volkes spricht aus diesen Untergangsorakeln. Wie die
Ziehpuppen lassen die Propheten ein Volk nach dem andern auftreten und ab¬
treten, es ist ein gewaltiges Morden, in dem sie alle untergehen.

Dazu eine Sprache, die das Äußerste an urwüchsiger Gewalt bedeutet,
was die Literatur des Altertums hervorgebracht hat. Sie ergreift uns noch
heute, vorausgesetzt, daß wir es verstehen, die Jahrtausende zu überbrücken,
und den breiten Strom erlebter Gegenwart im donnernden Sturzbach wieder¬
zuerkennen, der über die Berge der Vorzeit braust.

Statt aller Worte wollen wir nur das großartigste dieser Orakel hier-
hersetzen und in der Urgewalt seiner Sprache auf uns wirken lassen. Wer
aufmerkt, wird seinen zeitüberdauernden Sinn wohl begreifen.


Kriegerisches prophetentum

Freilich, nicht immer bedienen sich die Propheten so dunkler Worte, oft
schildern sie mit äußerster Lebendigkeit das Heranbrausen des Feindes und
wirken gerade durch die bis ins Oertliche gehende Genauigkeit, wie es z. B.
Jesajas tat, als im Jahre 711 der Assyrerschrecken Jerusalem bedrohte:


— Da überfällt er Ajath,
zieht durch Migron, in Michmas läßt er sein Gepäck.
Sie überschreiten die Schlucht, übernachten in Geba,
Rama erschrickt, Gibea Sauls flieht,
Schreie laut, Bewohner von Gallien,
Horch auf, Laisa, stöbre, Anathot.
Madmena irrt umher, es flüchten die Bewohner von Gehim.
Noch heute macht er Halt in Rob und ballt seine Faust
gegen den Berg der Bewohner Zions, den Hügel Jerusalems.

(Ich. 10, 23-32)

Erschütternder noch, weil persönlich selbst erschüttert, kündet hundert Jahre
später Jeremias den Untergang Judas im Nahen Nabokodrossors von Babylon:


Bon Dan her läßt sich das Schnauben seiner Rosse vernehmen,
von dem lauten Gewieher seiner Hengste erbebt das ganze Land, und
sie kommen und fressen das Land auf und was darin ist,
die Stadt und ihre Bewohner.----
Weil mein Volk gebrochen ist, bin ich gebrochen, gehe
ich stöhnend einher, hat mich Grauen erfaßt. Gibt es
denn keinen Balsam mehr in Gilead und ist kein Arzt
mehr da? Warum wird denn der Tochter meines Volkes
keine Heilung?
O wäre doch mein Haupt voll Wassers, und mein Auge ein
Tränenquell, daß ich weinen könnte Tag und Nacht über
(Jeremia 9, Is—17, 21—23) die Erschlagenen meines Volkes!

Die gewaltige Mehrheit der prophetischen Kriegsreden aber gilt nicht
Israel und Juda, sondern seinen Feinden. Assur, Babel, Ägypten, Medien.
Phönizien, PhilisM, Eton, Moab. Ammon, Kedar, sie alle müssen daran
glauben. Die ganze knirschende Wut des ohnmächtig in den Strudel der
Kriege hineingerissenen Volkes spricht aus diesen Untergangsorakeln. Wie die
Ziehpuppen lassen die Propheten ein Volk nach dem andern auftreten und ab¬
treten, es ist ein gewaltiges Morden, in dem sie alle untergehen.

Dazu eine Sprache, die das Äußerste an urwüchsiger Gewalt bedeutet,
was die Literatur des Altertums hervorgebracht hat. Sie ergreift uns noch
heute, vorausgesetzt, daß wir es verstehen, die Jahrtausende zu überbrücken,
und den breiten Strom erlebter Gegenwart im donnernden Sturzbach wieder¬
zuerkennen, der über die Berge der Vorzeit braust.

Statt aller Worte wollen wir nur das großartigste dieser Orakel hier-
hersetzen und in der Urgewalt seiner Sprache auf uns wirken lassen. Wer
aufmerkt, wird seinen zeitüberdauernden Sinn wohl begreifen.


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[0375] Kriegerisches prophetentum Freilich, nicht immer bedienen sich die Propheten so dunkler Worte, oft schildern sie mit äußerster Lebendigkeit das Heranbrausen des Feindes und wirken gerade durch die bis ins Oertliche gehende Genauigkeit, wie es z. B. Jesajas tat, als im Jahre 711 der Assyrerschrecken Jerusalem bedrohte: — Da überfällt er Ajath, zieht durch Migron, in Michmas läßt er sein Gepäck. Sie überschreiten die Schlucht, übernachten in Geba, Rama erschrickt, Gibea Sauls flieht, Schreie laut, Bewohner von Gallien, Horch auf, Laisa, stöbre, Anathot. Madmena irrt umher, es flüchten die Bewohner von Gehim. Noch heute macht er Halt in Rob und ballt seine Faust gegen den Berg der Bewohner Zions, den Hügel Jerusalems. (Ich. 10, 23-32) Erschütternder noch, weil persönlich selbst erschüttert, kündet hundert Jahre später Jeremias den Untergang Judas im Nahen Nabokodrossors von Babylon: Bon Dan her läßt sich das Schnauben seiner Rosse vernehmen, von dem lauten Gewieher seiner Hengste erbebt das ganze Land, und sie kommen und fressen das Land auf und was darin ist, die Stadt und ihre Bewohner.---- Weil mein Volk gebrochen ist, bin ich gebrochen, gehe ich stöhnend einher, hat mich Grauen erfaßt. Gibt es denn keinen Balsam mehr in Gilead und ist kein Arzt mehr da? Warum wird denn der Tochter meines Volkes keine Heilung? O wäre doch mein Haupt voll Wassers, und mein Auge ein Tränenquell, daß ich weinen könnte Tag und Nacht über (Jeremia 9, Is—17, 21—23) die Erschlagenen meines Volkes! Die gewaltige Mehrheit der prophetischen Kriegsreden aber gilt nicht Israel und Juda, sondern seinen Feinden. Assur, Babel, Ägypten, Medien. Phönizien, PhilisM, Eton, Moab. Ammon, Kedar, sie alle müssen daran glauben. Die ganze knirschende Wut des ohnmächtig in den Strudel der Kriege hineingerissenen Volkes spricht aus diesen Untergangsorakeln. Wie die Ziehpuppen lassen die Propheten ein Volk nach dem andern auftreten und ab¬ treten, es ist ein gewaltiges Morden, in dem sie alle untergehen. Dazu eine Sprache, die das Äußerste an urwüchsiger Gewalt bedeutet, was die Literatur des Altertums hervorgebracht hat. Sie ergreift uns noch heute, vorausgesetzt, daß wir es verstehen, die Jahrtausende zu überbrücken, und den breiten Strom erlebter Gegenwart im donnernden Sturzbach wieder¬ zuerkennen, der über die Berge der Vorzeit braust. Statt aller Worte wollen wir nur das großartigste dieser Orakel hier- hersetzen und in der Urgewalt seiner Sprache auf uns wirken lassen. Wer aufmerkt, wird seinen zeitüberdauernden Sinn wohl begreifen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/375>, abgerufen am 28.07.2024.