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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Kriegerisches prophetentum

mahnten sie unter klugem Hinweis auf die Nutzlosigkeit allen Widerstandes zur
Ruhe und Unterwerfung unter das mächtige Nordreich. Weil man auf Jesaja
nicht hörte, fiel 722 Samaria und mit ihm Israel dem Ansturm Assurs zum
Opfer; weil man Jeremias Worte in den Wind schlug, ereilte 136 Jahre
später, im Jahre 586, Jerusalem und Juda das gleiche Schicksal.

Die Bedeutung dieser Männer wird erst der ganz erfassen, der bedenkt,
daß ihren Köpfen zum ersten Male der Begriff der Weltgeschichte aufgegangen
ist, und es ist nicht wunderbar, sondern nur zu bezeichnend, daß dieses, man
kann wohl sagen, für die geistige Entwicklung der Menschheit entscheidende Er¬
eignis sich in jenem Weltenwinkel vollzogen hat. Nur in einem Reiche, das
so klein und kriegerisch so ohnmächtig war, daß es an eine eigene Macht- und
Eroberungspolitik nicht denken konnte, konnte das Weltgeschehen als Welt¬
geschehen begriffen werden. Da man national nicht mitmachen konnte, weidete
sich der Blick über die nationalen Schranken hinaus zum schicksalmäßigen Er¬
fassen der Ereignisse. Da bildete sich im Geiste der leidenschaftlichsten Söhne
jenes Volkes, jene erhabene Sachlichkeit, jenes großartige Darüberstehen des
wahren Zeitgenossen, das damals allein fähig war, über des eigenen Volkes
Leid hinweg das Weltenschicksal zu begreifen.

Das waren die Propheten, und wir müssen es wissen, wenn wir uns jetzt
ihren kriegerischen Sprüchen und Orakeln im einzelnen zuwenden. Was zu¬
nächst die Form betrifft, in der sich diese Reden uns darbieten, so finden wir
abgesehen von der bekannten Stilform biblischer Poesie, des Para!teil8mu8
membrorum, d. h. der Zweigliedrigkeit der Verse, bei ihnen eine doppelte
Ausdrucksform: Weissagung und Spott- oder Klagelied. Von der ersten Form
zu sprechen erübrigt sich, da sie sich aus dem Wesen des Prophetischen selbst
erklärt, die zweite aber ist vor allem in der Verbindung rin der ersten als ihr
Schluß und Höhepunkt sehr gebräuchlich zumal bei umfangreichen Reden. Die
Propheten sangen, die Zukunft vorwegnehmend, dem feindlichen Volke bei Leb¬
zeiten den Grabgesang. Diese Form bevorzugt Ezechiel, wie wir an dem
weiter unten mitgeteilten Orakel über Tyrus erkennen können. Auch Jesaja
schließt seine große Rede gegen Babel mit einer spöttischen Totenklage:


Dann aber wirst du dieses Spottlied auf den König von Babel anstimmen:

Wie hat der Bedrücker geendet,
Geendet die Mißhandlung I---
Wie bist du vom Himmel gefallen,
Du strahlender Morgenstern!
Wie bist du zu Boden gehauen,
Der du die Völker niederstrecktest I usw.


(Jesaja 14. 3. 12)

Eine besonders häufige Stilform in der kriegerischen Prophetenrede ist die
Art, wie der Prophet sich durch Aufruf aller Völker oder durch Benennung der
Adresse sein Auditorium schafft:


Kriegerisches prophetentum

mahnten sie unter klugem Hinweis auf die Nutzlosigkeit allen Widerstandes zur
Ruhe und Unterwerfung unter das mächtige Nordreich. Weil man auf Jesaja
nicht hörte, fiel 722 Samaria und mit ihm Israel dem Ansturm Assurs zum
Opfer; weil man Jeremias Worte in den Wind schlug, ereilte 136 Jahre
später, im Jahre 586, Jerusalem und Juda das gleiche Schicksal.

Die Bedeutung dieser Männer wird erst der ganz erfassen, der bedenkt,
daß ihren Köpfen zum ersten Male der Begriff der Weltgeschichte aufgegangen
ist, und es ist nicht wunderbar, sondern nur zu bezeichnend, daß dieses, man
kann wohl sagen, für die geistige Entwicklung der Menschheit entscheidende Er¬
eignis sich in jenem Weltenwinkel vollzogen hat. Nur in einem Reiche, das
so klein und kriegerisch so ohnmächtig war, daß es an eine eigene Macht- und
Eroberungspolitik nicht denken konnte, konnte das Weltgeschehen als Welt¬
geschehen begriffen werden. Da man national nicht mitmachen konnte, weidete
sich der Blick über die nationalen Schranken hinaus zum schicksalmäßigen Er¬
fassen der Ereignisse. Da bildete sich im Geiste der leidenschaftlichsten Söhne
jenes Volkes, jene erhabene Sachlichkeit, jenes großartige Darüberstehen des
wahren Zeitgenossen, das damals allein fähig war, über des eigenen Volkes
Leid hinweg das Weltenschicksal zu begreifen.

Das waren die Propheten, und wir müssen es wissen, wenn wir uns jetzt
ihren kriegerischen Sprüchen und Orakeln im einzelnen zuwenden. Was zu¬
nächst die Form betrifft, in der sich diese Reden uns darbieten, so finden wir
abgesehen von der bekannten Stilform biblischer Poesie, des Para!teil8mu8
membrorum, d. h. der Zweigliedrigkeit der Verse, bei ihnen eine doppelte
Ausdrucksform: Weissagung und Spott- oder Klagelied. Von der ersten Form
zu sprechen erübrigt sich, da sie sich aus dem Wesen des Prophetischen selbst
erklärt, die zweite aber ist vor allem in der Verbindung rin der ersten als ihr
Schluß und Höhepunkt sehr gebräuchlich zumal bei umfangreichen Reden. Die
Propheten sangen, die Zukunft vorwegnehmend, dem feindlichen Volke bei Leb¬
zeiten den Grabgesang. Diese Form bevorzugt Ezechiel, wie wir an dem
weiter unten mitgeteilten Orakel über Tyrus erkennen können. Auch Jesaja
schließt seine große Rede gegen Babel mit einer spöttischen Totenklage:


Dann aber wirst du dieses Spottlied auf den König von Babel anstimmen:

Wie hat der Bedrücker geendet,
Geendet die Mißhandlung I---
Wie bist du vom Himmel gefallen,
Du strahlender Morgenstern!
Wie bist du zu Boden gehauen,
Der du die Völker niederstrecktest I usw.


(Jesaja 14. 3. 12)

Eine besonders häufige Stilform in der kriegerischen Prophetenrede ist die
Art, wie der Prophet sich durch Aufruf aller Völker oder durch Benennung der
Adresse sein Auditorium schafft:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/373>, abgerufen am 28.07.2024.