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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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waldigen Fragen gewinnen wird, besonders wenn es zur wirklichen Abstoßung
des radikalen linken Flügels kommen sollte. Dann wird der Naumannschen
Partei eine an Straffheit und Popularität längst überlegene Organisation mit
einem ähnlichen, aber radikaleren Programm an die Seite treten. An demo¬
kratischer und sozialistischer Konsequenz werden Naumanns Anhänger die Sozial¬
demokratie niemals überbieten, und der natürliche Konservatismus der Massen
wird ihr immer den Vorzug geben. Ein Mann, dem es so sehr auf die Sache
ankommt wie Naumann, mag sich über diese Aussicht vielleicht nicht grämen.
Ihm macht es schließlich nicht viel aus, ob die eigene Partei oder die Sozial¬
demokratie die Formel "Demokratie und Kaisertum" zum Siege führt, wenn
sie nur überhaupt zur Herrschaft gelangt. Aber für liberale Männer, die also
nicht grundsätzlich Demokraten sind, macht die Möglichkeit, ins Fahrwasser der
dann allerdings nationalisierten Sozialdemokratie einzulaufen, die Gefahr des
Untergangs des alten liberalen Ideals überhaupt deutlich. Wohl werden de¬
mokratische und sozialistische Zugeständnisse notwendig sein. Aber soweit sind
wir doch noch nicht, daß der alte Liberalismus ganz zugunsten demokratischer
und sozialistischer Grundsätze abdanken müßte. Je mehr die Fortschrittliche
Volkspartei auf dem Wege ist, ihre liberalen Grundlagen zu verlassen, umso
weniger aussichtsreich erscheinen Pläne, die auf eine Verschmelzung mit den
Nationalliberalen abzielen.

Man wird allerdings einwenden, daß in Bayern durch die Arbeits¬
gemeinschaft die Verschmelzung schon vorbereitet, und wie der Beschluß auf
dem jüngsten Vertretertag beweist, dort für möglich und wünschenswert gehalten
wird. Aber die Verhältnisse liegen in Bayern gerade ganz anders als sonst
im Reiche. In Bayern werden Nationalliberale wie Fortschrittler bestimmt
durch den gemeinsamen Gegensatz gegen das allein herrschende Zentrum. Das
Stärkeverhältnis der Parteien ist derart, daß das Zentrum alle Macht in den
Händen hat, und daß in dieser Zwangslage alle Gegensätze zwischen liberalen
und demokratischen Ansichten geringfügig erscheinen. Diese Parteikonstellation
bedingt auch, daß die Fragen der Kulturpolitik stärker in den Vordergrund
treten, und das ist ein Gebiet, wo Liberale und Demokraten viele gemeinsame
Ziele zu haben pflegen. In dieser besonderen Lage kann allerdings eine Arbeits¬
gemeinschaft zwischen Nationalliberalen und Fortschrittlern leicht gedeihen und
weiter gehende Hoffnungen erwecken. In den übrigen Bundesstaaten und im
Reiche aber nimmt das Zentrum nirgends eine derart überragende Stellung
ein wie in Bayern, ist also auch nirgends für die Liberalen schlechthin der zu be¬
kämpfende Gegner. Nur einer unfruchtbaren einseitigen Kulturkampfftimmung
könnte das so erscheinen. Betrachtet man die parteipolitische Lage im Gesamt¬
reiche, so wäre es vielmehr entschieden zu beklagen, wenn die Liberalen gerade
im Zentrum ihren Hauptgegner erblicken wollten. Das Anschwellen des grund¬
sätzlichen Demokratismus und sein Überhandnehmen in den Reihen wenigstens
der einen der bisher liberalen Parteien erscheint als die weitaus größere Gefahr.


liberale Sammlung

waldigen Fragen gewinnen wird, besonders wenn es zur wirklichen Abstoßung
des radikalen linken Flügels kommen sollte. Dann wird der Naumannschen
Partei eine an Straffheit und Popularität längst überlegene Organisation mit
einem ähnlichen, aber radikaleren Programm an die Seite treten. An demo¬
kratischer und sozialistischer Konsequenz werden Naumanns Anhänger die Sozial¬
demokratie niemals überbieten, und der natürliche Konservatismus der Massen
wird ihr immer den Vorzug geben. Ein Mann, dem es so sehr auf die Sache
ankommt wie Naumann, mag sich über diese Aussicht vielleicht nicht grämen.
Ihm macht es schließlich nicht viel aus, ob die eigene Partei oder die Sozial¬
demokratie die Formel „Demokratie und Kaisertum" zum Siege führt, wenn
sie nur überhaupt zur Herrschaft gelangt. Aber für liberale Männer, die also
nicht grundsätzlich Demokraten sind, macht die Möglichkeit, ins Fahrwasser der
dann allerdings nationalisierten Sozialdemokratie einzulaufen, die Gefahr des
Untergangs des alten liberalen Ideals überhaupt deutlich. Wohl werden de¬
mokratische und sozialistische Zugeständnisse notwendig sein. Aber soweit sind
wir doch noch nicht, daß der alte Liberalismus ganz zugunsten demokratischer
und sozialistischer Grundsätze abdanken müßte. Je mehr die Fortschrittliche
Volkspartei auf dem Wege ist, ihre liberalen Grundlagen zu verlassen, umso
weniger aussichtsreich erscheinen Pläne, die auf eine Verschmelzung mit den
Nationalliberalen abzielen.

Man wird allerdings einwenden, daß in Bayern durch die Arbeits¬
gemeinschaft die Verschmelzung schon vorbereitet, und wie der Beschluß auf
dem jüngsten Vertretertag beweist, dort für möglich und wünschenswert gehalten
wird. Aber die Verhältnisse liegen in Bayern gerade ganz anders als sonst
im Reiche. In Bayern werden Nationalliberale wie Fortschrittler bestimmt
durch den gemeinsamen Gegensatz gegen das allein herrschende Zentrum. Das
Stärkeverhältnis der Parteien ist derart, daß das Zentrum alle Macht in den
Händen hat, und daß in dieser Zwangslage alle Gegensätze zwischen liberalen
und demokratischen Ansichten geringfügig erscheinen. Diese Parteikonstellation
bedingt auch, daß die Fragen der Kulturpolitik stärker in den Vordergrund
treten, und das ist ein Gebiet, wo Liberale und Demokraten viele gemeinsame
Ziele zu haben pflegen. In dieser besonderen Lage kann allerdings eine Arbeits¬
gemeinschaft zwischen Nationalliberalen und Fortschrittlern leicht gedeihen und
weiter gehende Hoffnungen erwecken. In den übrigen Bundesstaaten und im
Reiche aber nimmt das Zentrum nirgends eine derart überragende Stellung
ein wie in Bayern, ist also auch nirgends für die Liberalen schlechthin der zu be¬
kämpfende Gegner. Nur einer unfruchtbaren einseitigen Kulturkampfftimmung
könnte das so erscheinen. Betrachtet man die parteipolitische Lage im Gesamt¬
reiche, so wäre es vielmehr entschieden zu beklagen, wenn die Liberalen gerade
im Zentrum ihren Hauptgegner erblicken wollten. Das Anschwellen des grund¬
sätzlichen Demokratismus und sein Überhandnehmen in den Reihen wenigstens
der einen der bisher liberalen Parteien erscheint als die weitaus größere Gefahr.


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[0369] liberale Sammlung waldigen Fragen gewinnen wird, besonders wenn es zur wirklichen Abstoßung des radikalen linken Flügels kommen sollte. Dann wird der Naumannschen Partei eine an Straffheit und Popularität längst überlegene Organisation mit einem ähnlichen, aber radikaleren Programm an die Seite treten. An demo¬ kratischer und sozialistischer Konsequenz werden Naumanns Anhänger die Sozial¬ demokratie niemals überbieten, und der natürliche Konservatismus der Massen wird ihr immer den Vorzug geben. Ein Mann, dem es so sehr auf die Sache ankommt wie Naumann, mag sich über diese Aussicht vielleicht nicht grämen. Ihm macht es schließlich nicht viel aus, ob die eigene Partei oder die Sozial¬ demokratie die Formel „Demokratie und Kaisertum" zum Siege führt, wenn sie nur überhaupt zur Herrschaft gelangt. Aber für liberale Männer, die also nicht grundsätzlich Demokraten sind, macht die Möglichkeit, ins Fahrwasser der dann allerdings nationalisierten Sozialdemokratie einzulaufen, die Gefahr des Untergangs des alten liberalen Ideals überhaupt deutlich. Wohl werden de¬ mokratische und sozialistische Zugeständnisse notwendig sein. Aber soweit sind wir doch noch nicht, daß der alte Liberalismus ganz zugunsten demokratischer und sozialistischer Grundsätze abdanken müßte. Je mehr die Fortschrittliche Volkspartei auf dem Wege ist, ihre liberalen Grundlagen zu verlassen, umso weniger aussichtsreich erscheinen Pläne, die auf eine Verschmelzung mit den Nationalliberalen abzielen. Man wird allerdings einwenden, daß in Bayern durch die Arbeits¬ gemeinschaft die Verschmelzung schon vorbereitet, und wie der Beschluß auf dem jüngsten Vertretertag beweist, dort für möglich und wünschenswert gehalten wird. Aber die Verhältnisse liegen in Bayern gerade ganz anders als sonst im Reiche. In Bayern werden Nationalliberale wie Fortschrittler bestimmt durch den gemeinsamen Gegensatz gegen das allein herrschende Zentrum. Das Stärkeverhältnis der Parteien ist derart, daß das Zentrum alle Macht in den Händen hat, und daß in dieser Zwangslage alle Gegensätze zwischen liberalen und demokratischen Ansichten geringfügig erscheinen. Diese Parteikonstellation bedingt auch, daß die Fragen der Kulturpolitik stärker in den Vordergrund treten, und das ist ein Gebiet, wo Liberale und Demokraten viele gemeinsame Ziele zu haben pflegen. In dieser besonderen Lage kann allerdings eine Arbeits¬ gemeinschaft zwischen Nationalliberalen und Fortschrittlern leicht gedeihen und weiter gehende Hoffnungen erwecken. In den übrigen Bundesstaaten und im Reiche aber nimmt das Zentrum nirgends eine derart überragende Stellung ein wie in Bayern, ist also auch nirgends für die Liberalen schlechthin der zu be¬ kämpfende Gegner. Nur einer unfruchtbaren einseitigen Kulturkampfftimmung könnte das so erscheinen. Betrachtet man die parteipolitische Lage im Gesamt¬ reiche, so wäre es vielmehr entschieden zu beklagen, wenn die Liberalen gerade im Zentrum ihren Hauptgegner erblicken wollten. Das Anschwellen des grund¬ sätzlichen Demokratismus und sein Überhandnehmen in den Reihen wenigstens der einen der bisher liberalen Parteien erscheint als die weitaus größere Gefahr.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/369>, abgerufen am 23.12.2024.