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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen an Sachsens Besetzung durch Preußen ^866

jetzigen Ersatzreserve entsprach, angehörte. Nur die schnelle Beendigung des
Krieges verhinderte, daß beide Brüder auf verschiedenen Seiten fochten. Von
zwei Vettern eines meiner Schulfreunde war der eine sächsischer, der andere
preußischer Offizier.

Auch in meiner drei Wegstunden von Altenburg gelegenen Vaterstadt
schimpften kurz vor Ausbruch des Krieges fast alle auf Preußen und besonders
auf Bismarck; ja ein Offizier der dort in Garnison liegenden Reiterschwadron
nannte sogar seinen Hund nach diesem verhaßten Preußen. Endlich munkelte
man, der Krieg sei erklärt, der König habe sich wie alle anderen größeren
deutschen Fürsten mit Österreich verbündet, auch Frankreich wolle helfen, das
großmäulige Preußen werde seine Schläge schon bekommen. Die Schwadron
zog ihre Reservisten ein, hielt zahlreiche Übungen ab und biwakierte. Endlich
marschierte sie an einem Sommertage mit Sang und Klang ab; wohin? wußte
zunächst niemand. Dann hieß es: die sächsische Armee ist nach Böhmen und
der König auch. Das wurde nun als große landesväterliche Weisheit gepriesen,
um Sachsens Verwüstung durch den Krieg zu verhindern. Dies aber galt den
meisten als Hauptsache. Dann kam die tröstliche Nachricht: die Bayern kommen
und werden Sachsen gegen die Preußen verteidigen. -- Und der ehrsame
Ratsdiener ging herum und sah sich die Häuser an, um die erwarteten Bayern
einquartieren zu können.

Da, es war ein herrlicher Sommernachmittag, sprengten ein Reiteroffizier
und drei Mann mit gespannten Karabinern durch das alte Stadttor und im
Nu durch die Straßen aufs Rathaus. Was waren das? Sie hatten hellblaue
Röcke mit roten Aufschlägen, schwarze Hosen und kleine schwarze Käppis, nach
französischem Schnitt. Bayern waren es sicherlich nicht, aber Preußen konnten
es auch nicht sein. Es waren Mecklenburger, also Feinde. Da wurde denn
schleunigst der Bürgermeister gesucht, der aber hatte eiligst die Staatsgelder
nach der nächsten Bahnstation befördert und rannte dann in ganz respekt¬
widrigem Tempo durch die Stadt. Die Einwohner guckten und wunderten
sich. Manche hatten wohl ihre besten Sachen versteckt und befürchteten eine
Plünderung; aber die meisten waren so vernünftig, daß sie das den Preußen
und ihren Bundesgenossen nicht zutrauten. Und gleich darauf zog eine ganze
Schwadron Dragoner ein, stramme, blühende Gestalten mit gutmütigen Bauern¬
gesichtern auf prächtigen Pferden. Auf der Straße traf ich einige Schul¬
kameraden. "Es kommen noch mehr Soldaten", hieß es. "Ich laufe ihnen
entgegen", rief ich aus. "Ach nein, bleib da! Die schießen dich tot", erwiderte
einer. "Das tun sie nicht, es sind ja Deutsche", antwortete ich. Doch nur
einer der Knaben wagte es, mir zu folgen. Als wir dreiviertel Stunde
gelaufen waren, blitzte es aus dem Walde heraus. Dann sahen wir ein
Bataillon Mecklenburger Infanterie anmarschiert kommen. Ihre Uniform unter¬
schied sich von der der Reiter nur durch das dunklere Blau der Röcke. Als
wir nun umkehrten, näherte sich uns ein alter Feldwebel mit zwei Mann, die


Erinnerungen an Sachsens Besetzung durch Preußen ^866

jetzigen Ersatzreserve entsprach, angehörte. Nur die schnelle Beendigung des
Krieges verhinderte, daß beide Brüder auf verschiedenen Seiten fochten. Von
zwei Vettern eines meiner Schulfreunde war der eine sächsischer, der andere
preußischer Offizier.

Auch in meiner drei Wegstunden von Altenburg gelegenen Vaterstadt
schimpften kurz vor Ausbruch des Krieges fast alle auf Preußen und besonders
auf Bismarck; ja ein Offizier der dort in Garnison liegenden Reiterschwadron
nannte sogar seinen Hund nach diesem verhaßten Preußen. Endlich munkelte
man, der Krieg sei erklärt, der König habe sich wie alle anderen größeren
deutschen Fürsten mit Österreich verbündet, auch Frankreich wolle helfen, das
großmäulige Preußen werde seine Schläge schon bekommen. Die Schwadron
zog ihre Reservisten ein, hielt zahlreiche Übungen ab und biwakierte. Endlich
marschierte sie an einem Sommertage mit Sang und Klang ab; wohin? wußte
zunächst niemand. Dann hieß es: die sächsische Armee ist nach Böhmen und
der König auch. Das wurde nun als große landesväterliche Weisheit gepriesen,
um Sachsens Verwüstung durch den Krieg zu verhindern. Dies aber galt den
meisten als Hauptsache. Dann kam die tröstliche Nachricht: die Bayern kommen
und werden Sachsen gegen die Preußen verteidigen. — Und der ehrsame
Ratsdiener ging herum und sah sich die Häuser an, um die erwarteten Bayern
einquartieren zu können.

Da, es war ein herrlicher Sommernachmittag, sprengten ein Reiteroffizier
und drei Mann mit gespannten Karabinern durch das alte Stadttor und im
Nu durch die Straßen aufs Rathaus. Was waren das? Sie hatten hellblaue
Röcke mit roten Aufschlägen, schwarze Hosen und kleine schwarze Käppis, nach
französischem Schnitt. Bayern waren es sicherlich nicht, aber Preußen konnten
es auch nicht sein. Es waren Mecklenburger, also Feinde. Da wurde denn
schleunigst der Bürgermeister gesucht, der aber hatte eiligst die Staatsgelder
nach der nächsten Bahnstation befördert und rannte dann in ganz respekt¬
widrigem Tempo durch die Stadt. Die Einwohner guckten und wunderten
sich. Manche hatten wohl ihre besten Sachen versteckt und befürchteten eine
Plünderung; aber die meisten waren so vernünftig, daß sie das den Preußen
und ihren Bundesgenossen nicht zutrauten. Und gleich darauf zog eine ganze
Schwadron Dragoner ein, stramme, blühende Gestalten mit gutmütigen Bauern¬
gesichtern auf prächtigen Pferden. Auf der Straße traf ich einige Schul¬
kameraden. „Es kommen noch mehr Soldaten", hieß es. „Ich laufe ihnen
entgegen", rief ich aus. „Ach nein, bleib da! Die schießen dich tot", erwiderte
einer. „Das tun sie nicht, es sind ja Deutsche", antwortete ich. Doch nur
einer der Knaben wagte es, mir zu folgen. Als wir dreiviertel Stunde
gelaufen waren, blitzte es aus dem Walde heraus. Dann sahen wir ein
Bataillon Mecklenburger Infanterie anmarschiert kommen. Ihre Uniform unter¬
schied sich von der der Reiter nur durch das dunklere Blau der Röcke. Als
wir nun umkehrten, näherte sich uns ein alter Feldwebel mit zwei Mann, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/352>, abgerufen am 22.12.2024.