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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Mütter

Herzogin Luise-Marie fuhr vom Bahnhof zum Schloß zurück. Der Herzog
war abgereist.

Sie saß sehr aufrecht und blaß im Wagen und grüßte die vielen Menschen,
die stehen blieben, die Hüte abnahmen und ihr nachsähen. Recht fühlbar wurde
es heute, wie lieb man sie halte. Es war viel Leid in der Stadt und das
Volk nahm das Leid der Herzogin mit zu dem seinen und trug es mit und
blickte mit guten Augen auf das schmale Gesicht, das zu lächeln versuchte. Es
flutete wie eine große Welle der Liebe und des Verstehens zu ihr empor. "Uns'
Herzog" zog nicht zum Spaß ins Feld. Das wußte jeder.

Tilla war von der Herzogin gerufen worden und wartete in dem Arbeits¬
zimmer, dessen hohe Fenster in den Park schauten.

Luise-Marie war müde eingetreten, doch ein Blick auf Tillas Hand elektrisierte
sie plötzlich. Denn auf Tillas sonst gänzlich ringlosen Händen glänzte ein schmaler,
goldener Reif.

Die Augen der Herzogin waren eine einzige große Frage.

"Kriegstrauung, Hoheit," sagte Tilla. "Übermorgen, Sonntag. Da bekommt
er Urlaub. Wenn er bis dahin nichts auffrißt, heißt das."
"

"Wer?I fragte die Herzogin und griff nach Tillas Händen.

"Hoheit haben überhaupt die ganze Schuld", sagte Tilla. "Es ist alles
für das Luisenpalais und die Zwillinge Müller. Das habe ich ihm auch
gesagt."

"Wem?" fragte die Herzogin und ihre Augen lachten.
"

"Harm von Groot, sagte Tilla und wurde rot.

Luise-Marie schloß sie in die Arme.

"Gott, TillaI" sagte sie. "Hat das gedauertl! Das hätte doch längst
sein können."

"Keine SpurI" sagte Tilla. "längst früh genug. Außerdem hat Harm
erst jetzt eine gesicherte Stellung."

"Gesicherte?" fragte die Herzogin verständnislos.

"Natürlich. Als Gemeiner. Er hat jetzt seiner Frau etwas zu bieten.
Sogar Witwenpension bekomme ich. Das war alles vorher nicht. Da traute
er sich nicht."

Die Herzogin schüttelte den Kopf.

"Wahrhaftig, Hoheit", sagte Tilla. "Wir hatten eine scheußliche Angst,
uns gegenseitig miteinander zu belasten. Wir gingen umeinander herum und
fürchteten uns zu Tode. Ein geteiltes Stück Brot ist ein halbes Stück Brot
und kein doppeltes. Und Harms Stück Brot ist schon eigentlich für ihn zu
klein. Um mein Stück Brot muß ich arbeiten und tu's rasend gern, auch als
seine Frau -- aber Harm war eben altmodisch und dumm in diesen Dingen.
Ein ganz, ganz dummer Mensch -- bis jetzt --"

"Und jetzt?" fragte die Herzogin.

"Jetzt -- wo er die gesicherte Stellung hat --" lachte Tilla und hatte
nasse Augen.

"Kindskopf", sagte die Herzogin. "Daß Ihr nur gescheit geworden seid l"

"Ja", sagte Tilla aus tiefster Seele, "Gott sei Dank!"

Von der Straße her klang abgerissen und gedämpft Musik und das Rauschen
von schweren Tritten. "Muß i denn--", Pfeifen und Trommeln.

Die Herzogin erblaßte. Sie preßte Tillas Hand.

"Aber nun geht er doch fort ins Feld", sagte sie leise. "O Tilla, sind
wir nicht arm --"


Mütter

Herzogin Luise-Marie fuhr vom Bahnhof zum Schloß zurück. Der Herzog
war abgereist.

Sie saß sehr aufrecht und blaß im Wagen und grüßte die vielen Menschen,
die stehen blieben, die Hüte abnahmen und ihr nachsähen. Recht fühlbar wurde
es heute, wie lieb man sie halte. Es war viel Leid in der Stadt und das
Volk nahm das Leid der Herzogin mit zu dem seinen und trug es mit und
blickte mit guten Augen auf das schmale Gesicht, das zu lächeln versuchte. Es
flutete wie eine große Welle der Liebe und des Verstehens zu ihr empor. „Uns'
Herzog" zog nicht zum Spaß ins Feld. Das wußte jeder.

Tilla war von der Herzogin gerufen worden und wartete in dem Arbeits¬
zimmer, dessen hohe Fenster in den Park schauten.

Luise-Marie war müde eingetreten, doch ein Blick auf Tillas Hand elektrisierte
sie plötzlich. Denn auf Tillas sonst gänzlich ringlosen Händen glänzte ein schmaler,
goldener Reif.

Die Augen der Herzogin waren eine einzige große Frage.

„Kriegstrauung, Hoheit," sagte Tilla. „Übermorgen, Sonntag. Da bekommt
er Urlaub. Wenn er bis dahin nichts auffrißt, heißt das."
"

„Wer?I fragte die Herzogin und griff nach Tillas Händen.

„Hoheit haben überhaupt die ganze Schuld", sagte Tilla. „Es ist alles
für das Luisenpalais und die Zwillinge Müller. Das habe ich ihm auch
gesagt."

„Wem?" fragte die Herzogin und ihre Augen lachten.
"

„Harm von Groot, sagte Tilla und wurde rot.

Luise-Marie schloß sie in die Arme.

„Gott, TillaI" sagte sie. „Hat das gedauertl! Das hätte doch längst
sein können."

„Keine SpurI" sagte Tilla. „längst früh genug. Außerdem hat Harm
erst jetzt eine gesicherte Stellung."

„Gesicherte?" fragte die Herzogin verständnislos.

„Natürlich. Als Gemeiner. Er hat jetzt seiner Frau etwas zu bieten.
Sogar Witwenpension bekomme ich. Das war alles vorher nicht. Da traute
er sich nicht."

Die Herzogin schüttelte den Kopf.

„Wahrhaftig, Hoheit", sagte Tilla. „Wir hatten eine scheußliche Angst,
uns gegenseitig miteinander zu belasten. Wir gingen umeinander herum und
fürchteten uns zu Tode. Ein geteiltes Stück Brot ist ein halbes Stück Brot
und kein doppeltes. Und Harms Stück Brot ist schon eigentlich für ihn zu
klein. Um mein Stück Brot muß ich arbeiten und tu's rasend gern, auch als
seine Frau — aber Harm war eben altmodisch und dumm in diesen Dingen.
Ein ganz, ganz dummer Mensch — bis jetzt —"

„Und jetzt?" fragte die Herzogin.

„Jetzt — wo er die gesicherte Stellung hat —" lachte Tilla und hatte
nasse Augen.

„Kindskopf", sagte die Herzogin. „Daß Ihr nur gescheit geworden seid l"

„Ja", sagte Tilla aus tiefster Seele, „Gott sei Dank!"

Von der Straße her klang abgerissen und gedämpft Musik und das Rauschen
von schweren Tritten. „Muß i denn--", Pfeifen und Trommeln.

Die Herzogin erblaßte. Sie preßte Tillas Hand.

„Aber nun geht er doch fort ins Feld", sagte sie leise. „O Tilla, sind
wir nicht arm —"


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[0328] Mütter Herzogin Luise-Marie fuhr vom Bahnhof zum Schloß zurück. Der Herzog war abgereist. Sie saß sehr aufrecht und blaß im Wagen und grüßte die vielen Menschen, die stehen blieben, die Hüte abnahmen und ihr nachsähen. Recht fühlbar wurde es heute, wie lieb man sie halte. Es war viel Leid in der Stadt und das Volk nahm das Leid der Herzogin mit zu dem seinen und trug es mit und blickte mit guten Augen auf das schmale Gesicht, das zu lächeln versuchte. Es flutete wie eine große Welle der Liebe und des Verstehens zu ihr empor. „Uns' Herzog" zog nicht zum Spaß ins Feld. Das wußte jeder. Tilla war von der Herzogin gerufen worden und wartete in dem Arbeits¬ zimmer, dessen hohe Fenster in den Park schauten. Luise-Marie war müde eingetreten, doch ein Blick auf Tillas Hand elektrisierte sie plötzlich. Denn auf Tillas sonst gänzlich ringlosen Händen glänzte ein schmaler, goldener Reif. Die Augen der Herzogin waren eine einzige große Frage. „Kriegstrauung, Hoheit," sagte Tilla. „Übermorgen, Sonntag. Da bekommt er Urlaub. Wenn er bis dahin nichts auffrißt, heißt das." " „Wer?I fragte die Herzogin und griff nach Tillas Händen. „Hoheit haben überhaupt die ganze Schuld", sagte Tilla. „Es ist alles für das Luisenpalais und die Zwillinge Müller. Das habe ich ihm auch gesagt." „Wem?" fragte die Herzogin und ihre Augen lachten. " „Harm von Groot, sagte Tilla und wurde rot. Luise-Marie schloß sie in die Arme. „Gott, TillaI" sagte sie. „Hat das gedauertl! Das hätte doch längst sein können." „Keine SpurI" sagte Tilla. „längst früh genug. Außerdem hat Harm erst jetzt eine gesicherte Stellung." „Gesicherte?" fragte die Herzogin verständnislos. „Natürlich. Als Gemeiner. Er hat jetzt seiner Frau etwas zu bieten. Sogar Witwenpension bekomme ich. Das war alles vorher nicht. Da traute er sich nicht." Die Herzogin schüttelte den Kopf. „Wahrhaftig, Hoheit", sagte Tilla. „Wir hatten eine scheußliche Angst, uns gegenseitig miteinander zu belasten. Wir gingen umeinander herum und fürchteten uns zu Tode. Ein geteiltes Stück Brot ist ein halbes Stück Brot und kein doppeltes. Und Harms Stück Brot ist schon eigentlich für ihn zu klein. Um mein Stück Brot muß ich arbeiten und tu's rasend gern, auch als seine Frau — aber Harm war eben altmodisch und dumm in diesen Dingen. Ein ganz, ganz dummer Mensch — bis jetzt —" „Und jetzt?" fragte die Herzogin. „Jetzt — wo er die gesicherte Stellung hat —" lachte Tilla und hatte nasse Augen. „Kindskopf", sagte die Herzogin. „Daß Ihr nur gescheit geworden seid l" „Ja", sagte Tilla aus tiefster Seele, „Gott sei Dank!" Von der Straße her klang abgerissen und gedämpft Musik und das Rauschen von schweren Tritten. „Muß i denn--", Pfeifen und Trommeln. Die Herzogin erblaßte. Sie preßte Tillas Hand. „Aber nun geht er doch fort ins Feld", sagte sie leise. „O Tilla, sind wir nicht arm —"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/328>, abgerufen am 22.12.2024.