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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die böhmische Frage

bereit erklärten, ergab sich sofort eine ganz neue Konstellation. Die Deutschen
aber verloren dabei die Führung im Parlament und die Herrschaft im Reiche,

Man kann in diesem Versagen der Deutschen in Fragen der Machtpolitik
und in ihrem Verkennen der Orientpolitik im besonderen eine historische Schuld
sehen, aber wir werden diese Schuld minder hart beurteilen, wenn wir an uns
selbst, unsere eigenen Irrtümer denken. Man kann weiter eine Schuld darin
sehen, daß sie auch in der Folge ihren Parteihader fortsetzten, anstatt sich ein¬
heitlich zusammenzuschließen, aber auch diese Fehler find den parlamentarischen
Flegeljahren Deutschlands und Österreichs gemeinsam. Die nationale Leidenschaft
hat sich stärker erwiesen als alle wirtschaftlichen Entwicklungen und Theorien.
Selbst die Sozialdemokratie, die zuerst den Nationalitätenstreit als kapitalistische
Mache bezeichnete, hat sich nach kürzester Zeit in nationale Gruppen geschieden.
Nur die Deutschen begeisterten sich weiter für das Phantom der Internationale.

Andererseits erwuchsen den Slawen wertvolle Mitläufer in den Feudalen,
Großgrundbesitzern und Klerikalen. Die Deutschen, aus ihrer Stellung als
Regierungspartei verdrängt, mehr und mehr in eine Verteidigungsstellung hin¬
eingedrängt, sind doch bald aus ihrer gedankenlosen Gleichgültigkeit erwacht
und haben in nationalen Schutzverbänden, vor allen dem Deutschen Schulverein
und dem Böhmerwaldbund die Volksgenossen zu gemeinsamer Arbeit geschart.
Man kann es zu ihrem Ruhm sagen, daß die Deutschböhmen in dieser Auf¬
klärungsarbeit sich selbst durch Gleichgültigkeit ebenso wie durch Radikalismus zu
einem Standpunkt klarer Erkenntnis ihrer Kräfte und Schwächen durch¬
gerungen haben.

Im Verlaufe des Krieges hat ein Zusammenschluß der deutschen Parteien
stattgefunden, fast gleichzeitig mit der Schaffung eines gesamttschechischen Aus¬
schusses. Solche Bildungen können nur begrüßt werden, da sie die Aus¬
einandersetzungen erleichtern.

Manche bedauerliche Vorgänge, die zum Teil trotz strenger Handhabung der
Zensur in die große Öffentlichkeit gedrungen sind, stimmen viele Reichsdeutsche
wenig zuversichtlich. Dabei spricht die Furcht mit, die Tschechen ersehnten ein
Aufgehen in Rußland. Das Geschlecht solcher weltfremden Romantiker, die
die russische Knute deutscher Freiheit vorziehen, dürfte durch den Krieg bald
aussterben, trotz aller Bemühungen Rußlands bei den Kriegsgefangenen. Selbst
ein Russenfreund wie Masaryk gesteht ein, wie wesensfremd ihm das russische
Fühlen ist. Woher leitet sich denn aber die oft beobachtete Unzuverlässtgkeit
der Tschechen her? Einmal natürlich aus der Demagogie, die eine plan¬
mäßige Wühlarbeit verrichtete, um das Staatsgefüge zu lockern. Dann aber
aus dem starken Einströmen ostslawischer Elemente, das schon eine geraume
Zahl von Jahren währt. Verschiebungen im böhmischen Wirtschaftsleben, im
besonderen die Bildung tschechischer Industrien, haben einen neuen städtischen
und ländlichen Arbeiterstand geschaffen, der sich mehr und mehr aus volks¬
fremden Kreisen ergänzte. Das ostslawische Proletariat ist genau ebenso in


Die böhmische Frage

bereit erklärten, ergab sich sofort eine ganz neue Konstellation. Die Deutschen
aber verloren dabei die Führung im Parlament und die Herrschaft im Reiche,

Man kann in diesem Versagen der Deutschen in Fragen der Machtpolitik
und in ihrem Verkennen der Orientpolitik im besonderen eine historische Schuld
sehen, aber wir werden diese Schuld minder hart beurteilen, wenn wir an uns
selbst, unsere eigenen Irrtümer denken. Man kann weiter eine Schuld darin
sehen, daß sie auch in der Folge ihren Parteihader fortsetzten, anstatt sich ein¬
heitlich zusammenzuschließen, aber auch diese Fehler find den parlamentarischen
Flegeljahren Deutschlands und Österreichs gemeinsam. Die nationale Leidenschaft
hat sich stärker erwiesen als alle wirtschaftlichen Entwicklungen und Theorien.
Selbst die Sozialdemokratie, die zuerst den Nationalitätenstreit als kapitalistische
Mache bezeichnete, hat sich nach kürzester Zeit in nationale Gruppen geschieden.
Nur die Deutschen begeisterten sich weiter für das Phantom der Internationale.

Andererseits erwuchsen den Slawen wertvolle Mitläufer in den Feudalen,
Großgrundbesitzern und Klerikalen. Die Deutschen, aus ihrer Stellung als
Regierungspartei verdrängt, mehr und mehr in eine Verteidigungsstellung hin¬
eingedrängt, sind doch bald aus ihrer gedankenlosen Gleichgültigkeit erwacht
und haben in nationalen Schutzverbänden, vor allen dem Deutschen Schulverein
und dem Böhmerwaldbund die Volksgenossen zu gemeinsamer Arbeit geschart.
Man kann es zu ihrem Ruhm sagen, daß die Deutschböhmen in dieser Auf¬
klärungsarbeit sich selbst durch Gleichgültigkeit ebenso wie durch Radikalismus zu
einem Standpunkt klarer Erkenntnis ihrer Kräfte und Schwächen durch¬
gerungen haben.

Im Verlaufe des Krieges hat ein Zusammenschluß der deutschen Parteien
stattgefunden, fast gleichzeitig mit der Schaffung eines gesamttschechischen Aus¬
schusses. Solche Bildungen können nur begrüßt werden, da sie die Aus¬
einandersetzungen erleichtern.

Manche bedauerliche Vorgänge, die zum Teil trotz strenger Handhabung der
Zensur in die große Öffentlichkeit gedrungen sind, stimmen viele Reichsdeutsche
wenig zuversichtlich. Dabei spricht die Furcht mit, die Tschechen ersehnten ein
Aufgehen in Rußland. Das Geschlecht solcher weltfremden Romantiker, die
die russische Knute deutscher Freiheit vorziehen, dürfte durch den Krieg bald
aussterben, trotz aller Bemühungen Rußlands bei den Kriegsgefangenen. Selbst
ein Russenfreund wie Masaryk gesteht ein, wie wesensfremd ihm das russische
Fühlen ist. Woher leitet sich denn aber die oft beobachtete Unzuverlässtgkeit
der Tschechen her? Einmal natürlich aus der Demagogie, die eine plan¬
mäßige Wühlarbeit verrichtete, um das Staatsgefüge zu lockern. Dann aber
aus dem starken Einströmen ostslawischer Elemente, das schon eine geraume
Zahl von Jahren währt. Verschiebungen im böhmischen Wirtschaftsleben, im
besonderen die Bildung tschechischer Industrien, haben einen neuen städtischen
und ländlichen Arbeiterstand geschaffen, der sich mehr und mehr aus volks¬
fremden Kreisen ergänzte. Das ostslawische Proletariat ist genau ebenso in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/318>, abgerufen am 28.07.2024.