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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die böhmische Frage

Auf dem Wiener Kongreß feierte die alte rationalistische Staatskunst ihre
letzten Triumphe, aber man war schon mitten drin im Zeitalter der Romantik,
dessen starker Voluntarismus die Massen in Bewegung setzte und dessen nationale
Forderungen die politischen Gebilde Mitteleuropas so eigenartig zersetzen und
umgestalten sollten.

Auch das tschechische Volkstum erlebte im Zeitalter der Romantik seine
Wiedergeburt. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß diese Renaissance aus
deutschem Geiste stammt, zum mindesten aus das nachhaltigste von ihm beeinflußt
wurde. Es ist der Geist Herders. Ein durch die Erfahrungen des napoleonischen
Zeitalters bereichertes, energischer gestimmtes Geschlecht begrüßte den mannhaften
Propheten als den seinen. Die Tschechen wurden zu dem großen Apostel des
Humanitätsideals in ihrem gleichgestimmten frommen Eifer böhmisch-protestantischen
Gemeinschaftsgeistes geführt und sie fanden bei ihm mit freudigem Stolze
warme Sympathien für die Slawen. In den Ideen zu einer Philosophie der
Geschichte der Menschheit werden die Slawen den Deutschen gegenübergestellt:
friedliche Arkadier, die ein fröhliches musikalisches Leben führten, mildtätig und
gastfrei -- hart haben sich an ihnen "die Nationen vom deutschen Stamme
versündigt". Ist dieses Bild mehr auf den damaligen Standpunkt der Wissen¬
schaft oder philosophische Geschichtskonstruktion zurückzuführen? Die Slawen
haben keinen Cäsar und keinen Tacitus gehabt, so hat uns die Dichtung und
späterhin eine durch geschickte Fälschungen unterstützte Pseudowissenschaft eine
Idylle vorgezaubert. Natürlich waren die Slawen genau so kriegerisch, genau
so fähig zum Bösen wie zum Guten wie die Germanen. Was insbesondere
Böhmen anlangt, so wissen wir, daß es Ströme Blutes gekostet hat, ehe die
slawischen Stämme dort unter einheitlicher Gewalt zusammengeschweißt wurden.
Herder aber prophezeit den Slawen noch eine glückliche Zukunft, in der sie ihre
schönen Gegenden vom Adriatischen Meer bis zum Karpathengebirge, vom Don
bis zur Multa als Eigentum nutzen und ihre alten Feste des ruhigen Fleißes
und Handels auf ihnen feiern würden. Der fast kindlich harmlose Kosmo¬
politismus Herders dachte bei diesem Zukunftsgemälde nicht an plötzliche politische
Umwälzungen. Auch wenn in den Humanitätsbriefen schon der Ge¬
danke des Panflawismus und die Vorstellung von der Jugendlichkeit der sla¬
wischen Völker im Vergleich zu der angeblichen Überalterung der germanischen
Kultur auftaucht, liegen ihm politische Folgerungen ganz fern. Uns politischer
Denkenden erscheint das seltsam, noch seltsamer aber muß es uns bei Grillparzer
berühren, daß Libussa den Tschechen die Herrschaft prophezeit als den letzten
Aufschwung einer matten Welt. Derselbe Grillparzer hat seiner Zeit die war¬
nenden Worte zugerufen: Von der Humanität durch die Nationalität zur
Bestialität.

Zweierlei erschwert uns Deutschen ein Verständnis der Nationalitätenfrage:
das Gefühl unserer geistigen und moralischen Überlegenheit oder anders gewandt,
die Vorstellung einer relativen oder absoluten Minderwertigkeit der anderen und


Die böhmische Frage

Auf dem Wiener Kongreß feierte die alte rationalistische Staatskunst ihre
letzten Triumphe, aber man war schon mitten drin im Zeitalter der Romantik,
dessen starker Voluntarismus die Massen in Bewegung setzte und dessen nationale
Forderungen die politischen Gebilde Mitteleuropas so eigenartig zersetzen und
umgestalten sollten.

Auch das tschechische Volkstum erlebte im Zeitalter der Romantik seine
Wiedergeburt. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß diese Renaissance aus
deutschem Geiste stammt, zum mindesten aus das nachhaltigste von ihm beeinflußt
wurde. Es ist der Geist Herders. Ein durch die Erfahrungen des napoleonischen
Zeitalters bereichertes, energischer gestimmtes Geschlecht begrüßte den mannhaften
Propheten als den seinen. Die Tschechen wurden zu dem großen Apostel des
Humanitätsideals in ihrem gleichgestimmten frommen Eifer böhmisch-protestantischen
Gemeinschaftsgeistes geführt und sie fanden bei ihm mit freudigem Stolze
warme Sympathien für die Slawen. In den Ideen zu einer Philosophie der
Geschichte der Menschheit werden die Slawen den Deutschen gegenübergestellt:
friedliche Arkadier, die ein fröhliches musikalisches Leben führten, mildtätig und
gastfrei — hart haben sich an ihnen „die Nationen vom deutschen Stamme
versündigt". Ist dieses Bild mehr auf den damaligen Standpunkt der Wissen¬
schaft oder philosophische Geschichtskonstruktion zurückzuführen? Die Slawen
haben keinen Cäsar und keinen Tacitus gehabt, so hat uns die Dichtung und
späterhin eine durch geschickte Fälschungen unterstützte Pseudowissenschaft eine
Idylle vorgezaubert. Natürlich waren die Slawen genau so kriegerisch, genau
so fähig zum Bösen wie zum Guten wie die Germanen. Was insbesondere
Böhmen anlangt, so wissen wir, daß es Ströme Blutes gekostet hat, ehe die
slawischen Stämme dort unter einheitlicher Gewalt zusammengeschweißt wurden.
Herder aber prophezeit den Slawen noch eine glückliche Zukunft, in der sie ihre
schönen Gegenden vom Adriatischen Meer bis zum Karpathengebirge, vom Don
bis zur Multa als Eigentum nutzen und ihre alten Feste des ruhigen Fleißes
und Handels auf ihnen feiern würden. Der fast kindlich harmlose Kosmo¬
politismus Herders dachte bei diesem Zukunftsgemälde nicht an plötzliche politische
Umwälzungen. Auch wenn in den Humanitätsbriefen schon der Ge¬
danke des Panflawismus und die Vorstellung von der Jugendlichkeit der sla¬
wischen Völker im Vergleich zu der angeblichen Überalterung der germanischen
Kultur auftaucht, liegen ihm politische Folgerungen ganz fern. Uns politischer
Denkenden erscheint das seltsam, noch seltsamer aber muß es uns bei Grillparzer
berühren, daß Libussa den Tschechen die Herrschaft prophezeit als den letzten
Aufschwung einer matten Welt. Derselbe Grillparzer hat seiner Zeit die war¬
nenden Worte zugerufen: Von der Humanität durch die Nationalität zur
Bestialität.

Zweierlei erschwert uns Deutschen ein Verständnis der Nationalitätenfrage:
das Gefühl unserer geistigen und moralischen Überlegenheit oder anders gewandt,
die Vorstellung einer relativen oder absoluten Minderwertigkeit der anderen und


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[0314] Die böhmische Frage Auf dem Wiener Kongreß feierte die alte rationalistische Staatskunst ihre letzten Triumphe, aber man war schon mitten drin im Zeitalter der Romantik, dessen starker Voluntarismus die Massen in Bewegung setzte und dessen nationale Forderungen die politischen Gebilde Mitteleuropas so eigenartig zersetzen und umgestalten sollten. Auch das tschechische Volkstum erlebte im Zeitalter der Romantik seine Wiedergeburt. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß diese Renaissance aus deutschem Geiste stammt, zum mindesten aus das nachhaltigste von ihm beeinflußt wurde. Es ist der Geist Herders. Ein durch die Erfahrungen des napoleonischen Zeitalters bereichertes, energischer gestimmtes Geschlecht begrüßte den mannhaften Propheten als den seinen. Die Tschechen wurden zu dem großen Apostel des Humanitätsideals in ihrem gleichgestimmten frommen Eifer böhmisch-protestantischen Gemeinschaftsgeistes geführt und sie fanden bei ihm mit freudigem Stolze warme Sympathien für die Slawen. In den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit werden die Slawen den Deutschen gegenübergestellt: friedliche Arkadier, die ein fröhliches musikalisches Leben führten, mildtätig und gastfrei — hart haben sich an ihnen „die Nationen vom deutschen Stamme versündigt". Ist dieses Bild mehr auf den damaligen Standpunkt der Wissen¬ schaft oder philosophische Geschichtskonstruktion zurückzuführen? Die Slawen haben keinen Cäsar und keinen Tacitus gehabt, so hat uns die Dichtung und späterhin eine durch geschickte Fälschungen unterstützte Pseudowissenschaft eine Idylle vorgezaubert. Natürlich waren die Slawen genau so kriegerisch, genau so fähig zum Bösen wie zum Guten wie die Germanen. Was insbesondere Böhmen anlangt, so wissen wir, daß es Ströme Blutes gekostet hat, ehe die slawischen Stämme dort unter einheitlicher Gewalt zusammengeschweißt wurden. Herder aber prophezeit den Slawen noch eine glückliche Zukunft, in der sie ihre schönen Gegenden vom Adriatischen Meer bis zum Karpathengebirge, vom Don bis zur Multa als Eigentum nutzen und ihre alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern würden. Der fast kindlich harmlose Kosmo¬ politismus Herders dachte bei diesem Zukunftsgemälde nicht an plötzliche politische Umwälzungen. Auch wenn in den Humanitätsbriefen schon der Ge¬ danke des Panflawismus und die Vorstellung von der Jugendlichkeit der sla¬ wischen Völker im Vergleich zu der angeblichen Überalterung der germanischen Kultur auftaucht, liegen ihm politische Folgerungen ganz fern. Uns politischer Denkenden erscheint das seltsam, noch seltsamer aber muß es uns bei Grillparzer berühren, daß Libussa den Tschechen die Herrschaft prophezeit als den letzten Aufschwung einer matten Welt. Derselbe Grillparzer hat seiner Zeit die war¬ nenden Worte zugerufen: Von der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität. Zweierlei erschwert uns Deutschen ein Verständnis der Nationalitätenfrage: das Gefühl unserer geistigen und moralischen Überlegenheit oder anders gewandt, die Vorstellung einer relativen oder absoluten Minderwertigkeit der anderen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/314>, abgerufen am 28.07.2024.