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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die böhmische Frage

erst im neunzehnten Jahrhundert entwickelt hat, eingegangen. Um zu einem
richtigen Verständnis der böhmischen Dinge zu gelangen, müssen wir aber
davon ausgehen, daß von Anfang an die böhmische Geschichte ein Teil der
deutschen Reichsgeschichte, und zwar ein integrierender Teil gewesen ist.

Böhmen bietet scheinbar alle Voraussetzungen zur Entwicklung einer eigen¬
artigen, in sich abgeschlossenen nationalen Kultur. Auf drei Seiten ist das
Land von hohen Gebirgszügen umschlossen, auch nach Südosten gegen Mähren
durch eine wasserscheidende Bodenschwelle abgegrenzt. Und doch hat es selbst
in einer Zeit primitiver Volkswirtschaft niemals einen selbständigen, in sich
ruhenden Organismus bilden können. Schon durch einen physischen Grund
ist Böhmen in den Bereich der westlichen Kultur einbezogen worden. Es fehlte
dem mit den mannigfaltigsten Bodenschätzen gesegneten Lande völlig das Salz.
Die Salzlager Galiziens sind erst verhältnismäßig spät aufgefunden und noch
viel später, nur durch Zuziehung deutscher Bergleute ertragreich ausgebeutet
worden.

Ausschlaggebend war natürlich nicht dieses physische und wirtschaftliche Ver¬
hältnis, sondern der dynastische Anschluß an das Reich. Als die Tschechen
nach vielen Wirren zur Einheit unter einer herzoglichen Gewalt gelangt waren,
befanden sie sich bereits in der Machtsphäre des von Karl dem Großen ge¬
schaffenen deutschen Kaiserreichs. Die Anlehung an das Reich legte keine
schweren Verpflichtungen auf und gab andererseits Sicherheit gegen Wider¬
wärtigkeiten im Inneren und Bedrohungen von außen, von Ungarn, Mähren
und Polen. Die Zugehörigkeit zu Polen unter Boleslaw dem Kühnen im
zehnten Jahrhundert blieb eine kurze Episode. Die kirchliche Entwicklung besiegelte
die Einbeziehung Böhmens in den germano-romanischen Kulturkreis. Der
Versuch, dem slawischen Osten eine eigene Liturgie zu schaffen, scheiterte. Das
Bistum Prag war dem Erzbischof von Mainz unterstellt, lag also im Bereich
der deutschen Kirchenpolitik, während die Gründung des Erzbistums Gnesen
die innere Festigung des Polenreichs förderte. Schon die Christianisierung Böh¬
mens war eine Tat des Gesamtdeutschtums: vom Niederrhein, vom Bodensee
und von der Donau kamen die Mönche, die hier ihre Klöster gründeten. Und
sie wußten nicht nur im Brevier, sondern auch in der Landwirtschaft Bescheid.
Doch die Kulturarbeit der mittelalterlichen Kirche ist im Grunde universal,
nicht national. Die Herzöge aber trieben Reichspolitik. Schon 1024 ist Böhmen
an der deutschen Königswahl beteiligt und so bleibt es in der Folge. Im
dreizehnten Jahrhundert ist der Przemyslidenkönig -- der Tscheche -- nahe
daran, selbst König des deutschen Reiches zu werden.

Von früher Zeit her war nationales Selbstbewußtsein bei den tschechischen
Böhmen vorhanden, aber sie fand ihre Nahrung nicht in dem Widerspruch
gegen die deutsche Reichspolitik.

Die Tschechen haben das Land nie in seiner ganzen Ausdehnung besiedelt.
Nur die Ebenen waren von ihnen besetzt worden, als sie im 5. und 6. Jahr-


Die böhmische Frage

erst im neunzehnten Jahrhundert entwickelt hat, eingegangen. Um zu einem
richtigen Verständnis der böhmischen Dinge zu gelangen, müssen wir aber
davon ausgehen, daß von Anfang an die böhmische Geschichte ein Teil der
deutschen Reichsgeschichte, und zwar ein integrierender Teil gewesen ist.

Böhmen bietet scheinbar alle Voraussetzungen zur Entwicklung einer eigen¬
artigen, in sich abgeschlossenen nationalen Kultur. Auf drei Seiten ist das
Land von hohen Gebirgszügen umschlossen, auch nach Südosten gegen Mähren
durch eine wasserscheidende Bodenschwelle abgegrenzt. Und doch hat es selbst
in einer Zeit primitiver Volkswirtschaft niemals einen selbständigen, in sich
ruhenden Organismus bilden können. Schon durch einen physischen Grund
ist Böhmen in den Bereich der westlichen Kultur einbezogen worden. Es fehlte
dem mit den mannigfaltigsten Bodenschätzen gesegneten Lande völlig das Salz.
Die Salzlager Galiziens sind erst verhältnismäßig spät aufgefunden und noch
viel später, nur durch Zuziehung deutscher Bergleute ertragreich ausgebeutet
worden.

Ausschlaggebend war natürlich nicht dieses physische und wirtschaftliche Ver¬
hältnis, sondern der dynastische Anschluß an das Reich. Als die Tschechen
nach vielen Wirren zur Einheit unter einer herzoglichen Gewalt gelangt waren,
befanden sie sich bereits in der Machtsphäre des von Karl dem Großen ge¬
schaffenen deutschen Kaiserreichs. Die Anlehung an das Reich legte keine
schweren Verpflichtungen auf und gab andererseits Sicherheit gegen Wider¬
wärtigkeiten im Inneren und Bedrohungen von außen, von Ungarn, Mähren
und Polen. Die Zugehörigkeit zu Polen unter Boleslaw dem Kühnen im
zehnten Jahrhundert blieb eine kurze Episode. Die kirchliche Entwicklung besiegelte
die Einbeziehung Böhmens in den germano-romanischen Kulturkreis. Der
Versuch, dem slawischen Osten eine eigene Liturgie zu schaffen, scheiterte. Das
Bistum Prag war dem Erzbischof von Mainz unterstellt, lag also im Bereich
der deutschen Kirchenpolitik, während die Gründung des Erzbistums Gnesen
die innere Festigung des Polenreichs förderte. Schon die Christianisierung Böh¬
mens war eine Tat des Gesamtdeutschtums: vom Niederrhein, vom Bodensee
und von der Donau kamen die Mönche, die hier ihre Klöster gründeten. Und
sie wußten nicht nur im Brevier, sondern auch in der Landwirtschaft Bescheid.
Doch die Kulturarbeit der mittelalterlichen Kirche ist im Grunde universal,
nicht national. Die Herzöge aber trieben Reichspolitik. Schon 1024 ist Böhmen
an der deutschen Königswahl beteiligt und so bleibt es in der Folge. Im
dreizehnten Jahrhundert ist der Przemyslidenkönig — der Tscheche — nahe
daran, selbst König des deutschen Reiches zu werden.

Von früher Zeit her war nationales Selbstbewußtsein bei den tschechischen
Böhmen vorhanden, aber sie fand ihre Nahrung nicht in dem Widerspruch
gegen die deutsche Reichspolitik.

Die Tschechen haben das Land nie in seiner ganzen Ausdehnung besiedelt.
Nur die Ebenen waren von ihnen besetzt worden, als sie im 5. und 6. Jahr-


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[0309] Die böhmische Frage erst im neunzehnten Jahrhundert entwickelt hat, eingegangen. Um zu einem richtigen Verständnis der böhmischen Dinge zu gelangen, müssen wir aber davon ausgehen, daß von Anfang an die böhmische Geschichte ein Teil der deutschen Reichsgeschichte, und zwar ein integrierender Teil gewesen ist. Böhmen bietet scheinbar alle Voraussetzungen zur Entwicklung einer eigen¬ artigen, in sich abgeschlossenen nationalen Kultur. Auf drei Seiten ist das Land von hohen Gebirgszügen umschlossen, auch nach Südosten gegen Mähren durch eine wasserscheidende Bodenschwelle abgegrenzt. Und doch hat es selbst in einer Zeit primitiver Volkswirtschaft niemals einen selbständigen, in sich ruhenden Organismus bilden können. Schon durch einen physischen Grund ist Böhmen in den Bereich der westlichen Kultur einbezogen worden. Es fehlte dem mit den mannigfaltigsten Bodenschätzen gesegneten Lande völlig das Salz. Die Salzlager Galiziens sind erst verhältnismäßig spät aufgefunden und noch viel später, nur durch Zuziehung deutscher Bergleute ertragreich ausgebeutet worden. Ausschlaggebend war natürlich nicht dieses physische und wirtschaftliche Ver¬ hältnis, sondern der dynastische Anschluß an das Reich. Als die Tschechen nach vielen Wirren zur Einheit unter einer herzoglichen Gewalt gelangt waren, befanden sie sich bereits in der Machtsphäre des von Karl dem Großen ge¬ schaffenen deutschen Kaiserreichs. Die Anlehung an das Reich legte keine schweren Verpflichtungen auf und gab andererseits Sicherheit gegen Wider¬ wärtigkeiten im Inneren und Bedrohungen von außen, von Ungarn, Mähren und Polen. Die Zugehörigkeit zu Polen unter Boleslaw dem Kühnen im zehnten Jahrhundert blieb eine kurze Episode. Die kirchliche Entwicklung besiegelte die Einbeziehung Böhmens in den germano-romanischen Kulturkreis. Der Versuch, dem slawischen Osten eine eigene Liturgie zu schaffen, scheiterte. Das Bistum Prag war dem Erzbischof von Mainz unterstellt, lag also im Bereich der deutschen Kirchenpolitik, während die Gründung des Erzbistums Gnesen die innere Festigung des Polenreichs förderte. Schon die Christianisierung Böh¬ mens war eine Tat des Gesamtdeutschtums: vom Niederrhein, vom Bodensee und von der Donau kamen die Mönche, die hier ihre Klöster gründeten. Und sie wußten nicht nur im Brevier, sondern auch in der Landwirtschaft Bescheid. Doch die Kulturarbeit der mittelalterlichen Kirche ist im Grunde universal, nicht national. Die Herzöge aber trieben Reichspolitik. Schon 1024 ist Böhmen an der deutschen Königswahl beteiligt und so bleibt es in der Folge. Im dreizehnten Jahrhundert ist der Przemyslidenkönig — der Tscheche — nahe daran, selbst König des deutschen Reiches zu werden. Von früher Zeit her war nationales Selbstbewußtsein bei den tschechischen Böhmen vorhanden, aber sie fand ihre Nahrung nicht in dem Widerspruch gegen die deutsche Reichspolitik. Die Tschechen haben das Land nie in seiner ganzen Ausdehnung besiedelt. Nur die Ebenen waren von ihnen besetzt worden, als sie im 5. und 6. Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/309>, abgerufen am 28.07.2024.