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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die böhmische Frage

konnte man verfolgen, wie diese durch die Wahnidee des Panslawismus ge¬
einigten ungleichen Brüder die Einheit des Staates zu sprengen drohten.

In der richtigen Erkenntnis, daß . die böhmische Frage eine gesamt¬
deutsche Frage ist, hat man bisher in Frankreich und Rußland die Vorgänge
in Böhmen fast mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt als bei uns. Die Er¬
wartungen unserer Feinde sind betrogen worden -- das "österreichische Wunder"
begab sich, einmütig erhob sich der Völkerschaftsstaat im Angesicht der drohenden
Gefahr. Ohne uns leichtgläubig zu dünken, sollte uns dies Wunder auch
mutiger machen, die Lösung des alten Rätsels aufs neue zu versuchen. Alle
Großstaaten haben ja Nationalitätenfragen, kein Staat ist im vollen Sinne
Nationalstaat.

Nationalität liegt wie das Staatsempfinden im Bewußtsein. Jellinek
deutet den Begriff der Nation als eine Vielheit von Menschen, die durch eine
Vielheit gemeinsamer, eigentümlicher Kulturelemente und eine gemeinsame ge¬
schichtliche Vergangenheit sich geeinigt und dadurch von anderen geschieden weiß.
Wenn wir die Geschichte befragen, so finden wir, daß die Kultur der Tschechen
und die der Deutschen auf dem Boden Böhmens sich durchaus nicht so wesens¬
fremd gegenüberstehen und es gibt genug der gemeinsamen Erlebnisse bis in
den jetzigen Krieg hinein, daß eine Verständigung leichter möglich erscheint als
wohl viele Schwarzseher glauben.

Wir haben im Deutschen die Redensart: "Das sind mir böhmische Dörfer",
und wir wollen damit sagen, etwas sei uns unverständlich. Das Wort, das
seinen Ursprung in dem für deutsche Ohren und deutsche Zungen schwer zu
fassenden Klänge der böhmischen Ortsnamen hat, ist charakteristisch für unsere
Stellung zu Böhmen überhaupt. Wir kennen die Böhmen, will sagen die
Tschechen, im allgemeinen nur aus Karrikaturen der Witzblätter, wir hören
von ihnen nur bei Gelegenheit von Pöbelausschreitungen und Kammerreden
nationaler Heißsporne. Nicht viel besser steht es mit unserer Kenntnis der
Deutschböhmen.

Man hat von einer Tragik der böhmischen Geschichte gesprochen.
Sie liegt in dein Verlust der staatlichen Selbständigkeit des Landes.
Den Verlust konnten die Deutschen leicht verschmerzen, weil mit ihm auch eine
Germanisierung und die Befreiung von einem unerträglichen Druck verbunden
war. Den Tschechen aber steht der selbständige Staat der Luxemburger leuchtend
vor Augen und noch alljährlich am 8. November pilgert die Jugend Prags
über den Hradschin zum weißen Berg, um sich in der Erinnerung an die mit
romantischem Schimmer umgossene Herrlichkeit zu begeistern. Wohl ist es mehr
Legende als Geschichte, woran man sich da erbaut, aber gerade diese Legende
vereint immer aufs neue das demokratische Tschechentum mit dem tschechischen Adel.

Auch unsere Auffassung der geschichtlichen Hergange leidet oft an Irr¬
tümern. Gewöhnlich beurteilen wir alle slawischen Fragen unter dem Gesichts¬
winkel des Panslawismus. So tief ist uns diese Idee, die sich, wie wir sehen werden,


Die böhmische Frage

konnte man verfolgen, wie diese durch die Wahnidee des Panslawismus ge¬
einigten ungleichen Brüder die Einheit des Staates zu sprengen drohten.

In der richtigen Erkenntnis, daß . die böhmische Frage eine gesamt¬
deutsche Frage ist, hat man bisher in Frankreich und Rußland die Vorgänge
in Böhmen fast mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt als bei uns. Die Er¬
wartungen unserer Feinde sind betrogen worden — das „österreichische Wunder"
begab sich, einmütig erhob sich der Völkerschaftsstaat im Angesicht der drohenden
Gefahr. Ohne uns leichtgläubig zu dünken, sollte uns dies Wunder auch
mutiger machen, die Lösung des alten Rätsels aufs neue zu versuchen. Alle
Großstaaten haben ja Nationalitätenfragen, kein Staat ist im vollen Sinne
Nationalstaat.

Nationalität liegt wie das Staatsempfinden im Bewußtsein. Jellinek
deutet den Begriff der Nation als eine Vielheit von Menschen, die durch eine
Vielheit gemeinsamer, eigentümlicher Kulturelemente und eine gemeinsame ge¬
schichtliche Vergangenheit sich geeinigt und dadurch von anderen geschieden weiß.
Wenn wir die Geschichte befragen, so finden wir, daß die Kultur der Tschechen
und die der Deutschen auf dem Boden Böhmens sich durchaus nicht so wesens¬
fremd gegenüberstehen und es gibt genug der gemeinsamen Erlebnisse bis in
den jetzigen Krieg hinein, daß eine Verständigung leichter möglich erscheint als
wohl viele Schwarzseher glauben.

Wir haben im Deutschen die Redensart: „Das sind mir böhmische Dörfer",
und wir wollen damit sagen, etwas sei uns unverständlich. Das Wort, das
seinen Ursprung in dem für deutsche Ohren und deutsche Zungen schwer zu
fassenden Klänge der böhmischen Ortsnamen hat, ist charakteristisch für unsere
Stellung zu Böhmen überhaupt. Wir kennen die Böhmen, will sagen die
Tschechen, im allgemeinen nur aus Karrikaturen der Witzblätter, wir hören
von ihnen nur bei Gelegenheit von Pöbelausschreitungen und Kammerreden
nationaler Heißsporne. Nicht viel besser steht es mit unserer Kenntnis der
Deutschböhmen.

Man hat von einer Tragik der böhmischen Geschichte gesprochen.
Sie liegt in dein Verlust der staatlichen Selbständigkeit des Landes.
Den Verlust konnten die Deutschen leicht verschmerzen, weil mit ihm auch eine
Germanisierung und die Befreiung von einem unerträglichen Druck verbunden
war. Den Tschechen aber steht der selbständige Staat der Luxemburger leuchtend
vor Augen und noch alljährlich am 8. November pilgert die Jugend Prags
über den Hradschin zum weißen Berg, um sich in der Erinnerung an die mit
romantischem Schimmer umgossene Herrlichkeit zu begeistern. Wohl ist es mehr
Legende als Geschichte, woran man sich da erbaut, aber gerade diese Legende
vereint immer aufs neue das demokratische Tschechentum mit dem tschechischen Adel.

Auch unsere Auffassung der geschichtlichen Hergange leidet oft an Irr¬
tümern. Gewöhnlich beurteilen wir alle slawischen Fragen unter dem Gesichts¬
winkel des Panslawismus. So tief ist uns diese Idee, die sich, wie wir sehen werden,


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[0308] Die böhmische Frage konnte man verfolgen, wie diese durch die Wahnidee des Panslawismus ge¬ einigten ungleichen Brüder die Einheit des Staates zu sprengen drohten. In der richtigen Erkenntnis, daß . die böhmische Frage eine gesamt¬ deutsche Frage ist, hat man bisher in Frankreich und Rußland die Vorgänge in Böhmen fast mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt als bei uns. Die Er¬ wartungen unserer Feinde sind betrogen worden — das „österreichische Wunder" begab sich, einmütig erhob sich der Völkerschaftsstaat im Angesicht der drohenden Gefahr. Ohne uns leichtgläubig zu dünken, sollte uns dies Wunder auch mutiger machen, die Lösung des alten Rätsels aufs neue zu versuchen. Alle Großstaaten haben ja Nationalitätenfragen, kein Staat ist im vollen Sinne Nationalstaat. Nationalität liegt wie das Staatsempfinden im Bewußtsein. Jellinek deutet den Begriff der Nation als eine Vielheit von Menschen, die durch eine Vielheit gemeinsamer, eigentümlicher Kulturelemente und eine gemeinsame ge¬ schichtliche Vergangenheit sich geeinigt und dadurch von anderen geschieden weiß. Wenn wir die Geschichte befragen, so finden wir, daß die Kultur der Tschechen und die der Deutschen auf dem Boden Böhmens sich durchaus nicht so wesens¬ fremd gegenüberstehen und es gibt genug der gemeinsamen Erlebnisse bis in den jetzigen Krieg hinein, daß eine Verständigung leichter möglich erscheint als wohl viele Schwarzseher glauben. Wir haben im Deutschen die Redensart: „Das sind mir böhmische Dörfer", und wir wollen damit sagen, etwas sei uns unverständlich. Das Wort, das seinen Ursprung in dem für deutsche Ohren und deutsche Zungen schwer zu fassenden Klänge der böhmischen Ortsnamen hat, ist charakteristisch für unsere Stellung zu Böhmen überhaupt. Wir kennen die Böhmen, will sagen die Tschechen, im allgemeinen nur aus Karrikaturen der Witzblätter, wir hören von ihnen nur bei Gelegenheit von Pöbelausschreitungen und Kammerreden nationaler Heißsporne. Nicht viel besser steht es mit unserer Kenntnis der Deutschböhmen. Man hat von einer Tragik der böhmischen Geschichte gesprochen. Sie liegt in dein Verlust der staatlichen Selbständigkeit des Landes. Den Verlust konnten die Deutschen leicht verschmerzen, weil mit ihm auch eine Germanisierung und die Befreiung von einem unerträglichen Druck verbunden war. Den Tschechen aber steht der selbständige Staat der Luxemburger leuchtend vor Augen und noch alljährlich am 8. November pilgert die Jugend Prags über den Hradschin zum weißen Berg, um sich in der Erinnerung an die mit romantischem Schimmer umgossene Herrlichkeit zu begeistern. Wohl ist es mehr Legende als Geschichte, woran man sich da erbaut, aber gerade diese Legende vereint immer aufs neue das demokratische Tschechentum mit dem tschechischen Adel. Auch unsere Auffassung der geschichtlichen Hergange leidet oft an Irr¬ tümern. Gewöhnlich beurteilen wir alle slawischen Fragen unter dem Gesichts¬ winkel des Panslawismus. So tief ist uns diese Idee, die sich, wie wir sehen werden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/308>, abgerufen am 01.09.2024.