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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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noch nicht geschützt waren durch Besitzrechte
und Denkmalpflege, wie in unserer alles
Plazierenden und regulierenden Kulturwslt!

Deckt man nun heute ein solches Grab
auf, in dem der Urbewohner ausgestreckt am
Grunde liegt, dann macht man immer aufs
neue die Erfahrung, daß die Erdarbeiter, die
mit Spaten und Hacke ihr Bestes an der
Sache getan haben, beim ersten Anblick des
Skeletts erstaunt ausrufen: "Das ist aber
ein langer Mann gewesen I" Hält man dann
etwa den Oberschenkelknochen des Skeletts
neben den des Arbeiters, so zeigt sich regel¬
mäßig, daß der Tote keineswegs von langer
Gestalt gewesen sein kann, meist ist er kürzer
als die an der Grabung Beteiligten. Die
Täuschung entsteht dadurch, daß sich der Tote
beim Schwinden der Muskelbänder gleichsam
gestreckt hat: der Schädel ist hintenüber ge¬
fallen, die Fußknochen vornüber, so daß der
Mann im Grab einen längeren Raum ein¬
nimmt, als einst im Leben. stießen in
grauer Vorzeit naive Kinder unseres Volkes,
die nicht gewohnt waren, eine Sinnes¬
täuschung sogleich durch den Versuch zu be¬
richtigen, auf einen solchen Toten, so blieb
der Eindruck unkorrigiert bestehen und er
wurde formuliert, wie ihn unsere Kinder
heute noch formulieren: "Hier liegt ein Niese
begraben". Die Riesenformen der Stein-
sctzungen, die Ungeschlachtheit der bei den
Toten gefundenen Waffen und Geräte waren
geeignet, diesen Eindruck zu verstärken, und
wir gehen Wohl nicht fehl, wenn wir hier
einen der Anstöße erkennen, der die Märchen¬
phantasie zum Glauben an die Riesen der
Borzeit anregte.

Tatsächlich ist jedes Eroberervolk den Vor¬
bewohnern überlegen gewesen, sonst hätte es
sie ja nicht besiegt, und da die Vorzeit ihre
Kämpfe durch rohe Körperkraft entschied, ist
im allgemeinen anzunehmen, daß die Sieger
auch um Körperlünge den Besiegten "über"
waren. Nun sind die besiegten Vorbewohner
in den seltensten Fällen völlig vernichtet oder
ganz aus dem Lande verdrängt worden.
Das Herrenvolk hatte Raum genug in den
fruchtbaren Talebenen, auf dem besten Boden
des Landes, und kümmerte sich wenig darum,
wer und was in den Wäldern, auf den

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Bergen und in abgelegenen Talwinkeln sein
Wesen trieb. Hier mochten zurückgedrängte
Reste der Vorbevölkerung noch lange ein
Schattenleben fristen, hier mochten Germanen"
linder beim Spiel und Beerensuchen, in
Stimmungen, die der Phantasietätigkeit günstig
waren, Gruppen der Urbewohner antreffen,
die ihnen im Vergleich mit den eigenen hoch¬
gewachsenen Eltern zwerghaft klein er¬
schienen -- eine Quelle des Glaubens an
Zwerge scheint damit aufgedeckt.

Die Bermutung läßt sich weiter stützen.
Nur eine Bevölkerung, die lange in: gleichen
Lande sitzt, kann sich eine gute Kenntnis der
Bodenschätze erwerben. Das Eroberervolk
bleibt lange Zeit, namentlich was Metall¬
funde angeht, auf die Angaben angewiesen,
die die Vorbevölkerung ihm macht. Ein
stammesfremder Mann ist darum typisch in
jedem Erobererdors der Welt: der Schmied.
Deutsche Dichtung nun stellt den Schmied als
Zwerg dar, so sehr das der Erfahrung unserer
Gegenwart widerspricht: Minie als Zwerg
in Richard Wagners Siegfried ist das be¬
kannteste von vielen Beispielen hierfür. Ihre
Kenntnis der Bodenschätze konnten die Vor¬
bewohner auch noch verwerten, wenn sie vom
Eroberervolk in die Wälder und Berge zu¬
rückgedrängt waren, und wie leicht konnte es
dann geschehen, daß einmal Germanen die
Vorbewohner am Schmelzfeuer überraschten.
DaS Feuer wurde beim eiligen Rückzug
flüchtig überdecktnnü die nachstöbernden Stören¬
friede fanden unter Holzkohlenresten und
Schlacken staunend das blinkende Metall --
ganz wie es das Märchen beim Zwerg findet.

Lange können Eroberer und Besiegte im
gleichen Land zusammenwohnen, ohne sich je¬
mals zu sehen. So ist eS heute auf Ceylon:
das indische Eroberervolk rings an den
Küsten hat die Weddas ins gebirgige Innere
der Insel zurückgedrängt und jedes Volk
meidet die Berührung mit dem andern aufs
strengste. Aber wirtschaftlich sind beide auf¬
einander angewiesen und so stellt der Wedda
nachts seinen Honig, seine Weh- und Flecht¬
waren vor die Türen des Inders, und
nimmt dafür Salz, Getreide und Reis mit,
die ihm der Inder am Abend vorher als
Tauschware bereitgestellt hat. Solches Zu-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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noch nicht geschützt waren durch Besitzrechte
und Denkmalpflege, wie in unserer alles
Plazierenden und regulierenden Kulturwslt!

Deckt man nun heute ein solches Grab
auf, in dem der Urbewohner ausgestreckt am
Grunde liegt, dann macht man immer aufs
neue die Erfahrung, daß die Erdarbeiter, die
mit Spaten und Hacke ihr Bestes an der
Sache getan haben, beim ersten Anblick des
Skeletts erstaunt ausrufen: „Das ist aber
ein langer Mann gewesen I" Hält man dann
etwa den Oberschenkelknochen des Skeletts
neben den des Arbeiters, so zeigt sich regel¬
mäßig, daß der Tote keineswegs von langer
Gestalt gewesen sein kann, meist ist er kürzer
als die an der Grabung Beteiligten. Die
Täuschung entsteht dadurch, daß sich der Tote
beim Schwinden der Muskelbänder gleichsam
gestreckt hat: der Schädel ist hintenüber ge¬
fallen, die Fußknochen vornüber, so daß der
Mann im Grab einen längeren Raum ein¬
nimmt, als einst im Leben. stießen in
grauer Vorzeit naive Kinder unseres Volkes,
die nicht gewohnt waren, eine Sinnes¬
täuschung sogleich durch den Versuch zu be¬
richtigen, auf einen solchen Toten, so blieb
der Eindruck unkorrigiert bestehen und er
wurde formuliert, wie ihn unsere Kinder
heute noch formulieren: „Hier liegt ein Niese
begraben". Die Riesenformen der Stein-
sctzungen, die Ungeschlachtheit der bei den
Toten gefundenen Waffen und Geräte waren
geeignet, diesen Eindruck zu verstärken, und
wir gehen Wohl nicht fehl, wenn wir hier
einen der Anstöße erkennen, der die Märchen¬
phantasie zum Glauben an die Riesen der
Borzeit anregte.

Tatsächlich ist jedes Eroberervolk den Vor¬
bewohnern überlegen gewesen, sonst hätte es
sie ja nicht besiegt, und da die Vorzeit ihre
Kämpfe durch rohe Körperkraft entschied, ist
im allgemeinen anzunehmen, daß die Sieger
auch um Körperlünge den Besiegten „über"
waren. Nun sind die besiegten Vorbewohner
in den seltensten Fällen völlig vernichtet oder
ganz aus dem Lande verdrängt worden.
Das Herrenvolk hatte Raum genug in den
fruchtbaren Talebenen, auf dem besten Boden
des Landes, und kümmerte sich wenig darum,
wer und was in den Wäldern, auf den

[Spaltenumbruch]

Bergen und in abgelegenen Talwinkeln sein
Wesen trieb. Hier mochten zurückgedrängte
Reste der Vorbevölkerung noch lange ein
Schattenleben fristen, hier mochten Germanen»
linder beim Spiel und Beerensuchen, in
Stimmungen, die der Phantasietätigkeit günstig
waren, Gruppen der Urbewohner antreffen,
die ihnen im Vergleich mit den eigenen hoch¬
gewachsenen Eltern zwerghaft klein er¬
schienen — eine Quelle des Glaubens an
Zwerge scheint damit aufgedeckt.

Die Bermutung läßt sich weiter stützen.
Nur eine Bevölkerung, die lange in: gleichen
Lande sitzt, kann sich eine gute Kenntnis der
Bodenschätze erwerben. Das Eroberervolk
bleibt lange Zeit, namentlich was Metall¬
funde angeht, auf die Angaben angewiesen,
die die Vorbevölkerung ihm macht. Ein
stammesfremder Mann ist darum typisch in
jedem Erobererdors der Welt: der Schmied.
Deutsche Dichtung nun stellt den Schmied als
Zwerg dar, so sehr das der Erfahrung unserer
Gegenwart widerspricht: Minie als Zwerg
in Richard Wagners Siegfried ist das be¬
kannteste von vielen Beispielen hierfür. Ihre
Kenntnis der Bodenschätze konnten die Vor¬
bewohner auch noch verwerten, wenn sie vom
Eroberervolk in die Wälder und Berge zu¬
rückgedrängt waren, und wie leicht konnte es
dann geschehen, daß einmal Germanen die
Vorbewohner am Schmelzfeuer überraschten.
DaS Feuer wurde beim eiligen Rückzug
flüchtig überdecktnnü die nachstöbernden Stören¬
friede fanden unter Holzkohlenresten und
Schlacken staunend das blinkende Metall —
ganz wie es das Märchen beim Zwerg findet.

Lange können Eroberer und Besiegte im
gleichen Land zusammenwohnen, ohne sich je¬
mals zu sehen. So ist eS heute auf Ceylon:
das indische Eroberervolk rings an den
Küsten hat die Weddas ins gebirgige Innere
der Insel zurückgedrängt und jedes Volk
meidet die Berührung mit dem andern aufs
strengste. Aber wirtschaftlich sind beide auf¬
einander angewiesen und so stellt der Wedda
nachts seinen Honig, seine Weh- und Flecht¬
waren vor die Türen des Inders, und
nimmt dafür Salz, Getreide und Reis mit,
die ihm der Inder am Abend vorher als
Tauschware bereitgestellt hat. Solches Zu-

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[0297] Maßgebliches und Unmaßgebliches noch nicht geschützt waren durch Besitzrechte und Denkmalpflege, wie in unserer alles Plazierenden und regulierenden Kulturwslt! Deckt man nun heute ein solches Grab auf, in dem der Urbewohner ausgestreckt am Grunde liegt, dann macht man immer aufs neue die Erfahrung, daß die Erdarbeiter, die mit Spaten und Hacke ihr Bestes an der Sache getan haben, beim ersten Anblick des Skeletts erstaunt ausrufen: „Das ist aber ein langer Mann gewesen I" Hält man dann etwa den Oberschenkelknochen des Skeletts neben den des Arbeiters, so zeigt sich regel¬ mäßig, daß der Tote keineswegs von langer Gestalt gewesen sein kann, meist ist er kürzer als die an der Grabung Beteiligten. Die Täuschung entsteht dadurch, daß sich der Tote beim Schwinden der Muskelbänder gleichsam gestreckt hat: der Schädel ist hintenüber ge¬ fallen, die Fußknochen vornüber, so daß der Mann im Grab einen längeren Raum ein¬ nimmt, als einst im Leben. stießen in grauer Vorzeit naive Kinder unseres Volkes, die nicht gewohnt waren, eine Sinnes¬ täuschung sogleich durch den Versuch zu be¬ richtigen, auf einen solchen Toten, so blieb der Eindruck unkorrigiert bestehen und er wurde formuliert, wie ihn unsere Kinder heute noch formulieren: „Hier liegt ein Niese begraben". Die Riesenformen der Stein- sctzungen, die Ungeschlachtheit der bei den Toten gefundenen Waffen und Geräte waren geeignet, diesen Eindruck zu verstärken, und wir gehen Wohl nicht fehl, wenn wir hier einen der Anstöße erkennen, der die Märchen¬ phantasie zum Glauben an die Riesen der Borzeit anregte. Tatsächlich ist jedes Eroberervolk den Vor¬ bewohnern überlegen gewesen, sonst hätte es sie ja nicht besiegt, und da die Vorzeit ihre Kämpfe durch rohe Körperkraft entschied, ist im allgemeinen anzunehmen, daß die Sieger auch um Körperlünge den Besiegten „über" waren. Nun sind die besiegten Vorbewohner in den seltensten Fällen völlig vernichtet oder ganz aus dem Lande verdrängt worden. Das Herrenvolk hatte Raum genug in den fruchtbaren Talebenen, auf dem besten Boden des Landes, und kümmerte sich wenig darum, wer und was in den Wäldern, auf den Bergen und in abgelegenen Talwinkeln sein Wesen trieb. Hier mochten zurückgedrängte Reste der Vorbevölkerung noch lange ein Schattenleben fristen, hier mochten Germanen» linder beim Spiel und Beerensuchen, in Stimmungen, die der Phantasietätigkeit günstig waren, Gruppen der Urbewohner antreffen, die ihnen im Vergleich mit den eigenen hoch¬ gewachsenen Eltern zwerghaft klein er¬ schienen — eine Quelle des Glaubens an Zwerge scheint damit aufgedeckt. Die Bermutung läßt sich weiter stützen. Nur eine Bevölkerung, die lange in: gleichen Lande sitzt, kann sich eine gute Kenntnis der Bodenschätze erwerben. Das Eroberervolk bleibt lange Zeit, namentlich was Metall¬ funde angeht, auf die Angaben angewiesen, die die Vorbevölkerung ihm macht. Ein stammesfremder Mann ist darum typisch in jedem Erobererdors der Welt: der Schmied. Deutsche Dichtung nun stellt den Schmied als Zwerg dar, so sehr das der Erfahrung unserer Gegenwart widerspricht: Minie als Zwerg in Richard Wagners Siegfried ist das be¬ kannteste von vielen Beispielen hierfür. Ihre Kenntnis der Bodenschätze konnten die Vor¬ bewohner auch noch verwerten, wenn sie vom Eroberervolk in die Wälder und Berge zu¬ rückgedrängt waren, und wie leicht konnte es dann geschehen, daß einmal Germanen die Vorbewohner am Schmelzfeuer überraschten. DaS Feuer wurde beim eiligen Rückzug flüchtig überdecktnnü die nachstöbernden Stören¬ friede fanden unter Holzkohlenresten und Schlacken staunend das blinkende Metall — ganz wie es das Märchen beim Zwerg findet. Lange können Eroberer und Besiegte im gleichen Land zusammenwohnen, ohne sich je¬ mals zu sehen. So ist eS heute auf Ceylon: das indische Eroberervolk rings an den Küsten hat die Weddas ins gebirgige Innere der Insel zurückgedrängt und jedes Volk meidet die Berührung mit dem andern aufs strengste. Aber wirtschaftlich sind beide auf¬ einander angewiesen und so stellt der Wedda nachts seinen Honig, seine Weh- und Flecht¬ waren vor die Türen des Inders, und nimmt dafür Salz, Getreide und Reis mit, die ihm der Inder am Abend vorher als Tauschware bereitgestellt hat. Solches Zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/297>, abgerufen am 01.09.2024.