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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa

industrie, erforderte der Streik nicht weniger als sechzig Opfer an Menschen¬
leben. Ende Juli 1915 brach in Jwano-Wosnesensk ein Streik aus, der aber¬
mals den Verlust einer ganzen Anzahl von Menschenleben -- ungefähr
hundert -- zur Folge hatte. AIs Protest gegen das Eingreifen der öffent¬
lichen Sicherheitsorgane wurde darauf ein Streik in Petersburg proklamiert, an
welchem 50 000 Arbeiter teilnahmen. Die Folge hiervon war, daß die Polizei
in den Monaten August und September unter der Arbeiterschaft von Peters¬
burg und Moskau Massenuntersuchungen vornahm, welche mit der Verhaftung
von etwa hundert Personen endeten. Diese Ereignisse und verschiedene andere
Umstände, wie zum Beispiel die Weigerung der russischen Regierung, die
Jnterpellation über das Vorgehen gegen streikende Arbeiter zu beantworten,
gaben den Anlaß zu einem großen politischen Demonstrationsstreik. In Peters¬
burg streikten 150 000 Arbeiter. Auf den Putilow-Werken, bekanntlich eine
der größten Munitionswerkstätten Rußlands, zogen die Arbeiter mit roten
Fahnen auf und sangen revolutionäre Lieder. Als die Nachricht von dieser
großen Kampfbewegung nach Moskau gelangte, beschlossen die dortigen Arbeiter
mit ihren Petersburger Kollegen gemeinsame Sache zu machen. Drei Tage
lang fuhr in Moskau keine Straßenbahn und erschienen keine Zeitungen. Von
Moskau sprang die Streitbewegung nach Nischni-Nowgorod über, wo 25 000 Ar¬
beiter einen Tag lang streikten, und dann nach Charkow.

Zum größten Teile politischer Natur war auch die Ausstandsbewegung in
Italien. Aber auch die stetige Verteuerung der Lebensmittel spielte hier eine nicht
unbeträchtliche Rolle. So wurde im Februar 1915 von einem Generalstreik von
über 100 000 Arbeitern in Neapel infolge der rapiden Steigerung der Brot¬
uno Fleischpreise berichtet. Nach Mitteilungen des Mailänder "Avanti" kam es
Mitte April 1915 in Mailand wegen der Tötung eines Arbeiters bei den
Kundgebungen gegen den Krieg auf dem Domplatz zu einem vierundzwanzig-
stündigen Generalstreik. Typisch für die Arbeiterbewegung Italiens während
der Kriegszeit sind die vielen partiellen Streikbewegungen in den Munitions¬
und Heeresausrüstungsindustrien.

Aber auch die neutralen Länder sind von der Streitbewegung nicht ver¬
schont worden. Nicht zuletzt gilt dies von den drei skandinavischen Königreichen.
Hier fanden verschiedentlich partielle Streikbewegungen in den mit Heeres¬
aufträgen für die kriegführenden Staaten beschäftigten Industrien und Gewerbe
statt, so zum Beispiel im Kopenhagener Sattlergewerbe. Größere Arbeitskämpfe
des Jahres 1915 waren der Täbakarbeiterstreik in Christiania zu Beginn des
Jahres, ferner der 5000 Personen umfassende Kampf im norwegischen Bau¬
gewerbe, der Hafenarbeiterstreik in Bergen u. v. a. in. Heftiger setzte aber die
Streitbewegung in den drei nordischen Reichen im Jahre 1916 ein, wo die
meisten Tarifvereinbarungen abliefen. Die bedeutendsten Bewegungen sind hier
der am 19. Januar 1916 begonnene Streik von 1800 Maurern in Kopen¬
hagen, ferner der Streik der 4000 norwegischen Grubenarbeiter, der im Februar


Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa

industrie, erforderte der Streik nicht weniger als sechzig Opfer an Menschen¬
leben. Ende Juli 1915 brach in Jwano-Wosnesensk ein Streik aus, der aber¬
mals den Verlust einer ganzen Anzahl von Menschenleben — ungefähr
hundert — zur Folge hatte. AIs Protest gegen das Eingreifen der öffent¬
lichen Sicherheitsorgane wurde darauf ein Streik in Petersburg proklamiert, an
welchem 50 000 Arbeiter teilnahmen. Die Folge hiervon war, daß die Polizei
in den Monaten August und September unter der Arbeiterschaft von Peters¬
burg und Moskau Massenuntersuchungen vornahm, welche mit der Verhaftung
von etwa hundert Personen endeten. Diese Ereignisse und verschiedene andere
Umstände, wie zum Beispiel die Weigerung der russischen Regierung, die
Jnterpellation über das Vorgehen gegen streikende Arbeiter zu beantworten,
gaben den Anlaß zu einem großen politischen Demonstrationsstreik. In Peters¬
burg streikten 150 000 Arbeiter. Auf den Putilow-Werken, bekanntlich eine
der größten Munitionswerkstätten Rußlands, zogen die Arbeiter mit roten
Fahnen auf und sangen revolutionäre Lieder. Als die Nachricht von dieser
großen Kampfbewegung nach Moskau gelangte, beschlossen die dortigen Arbeiter
mit ihren Petersburger Kollegen gemeinsame Sache zu machen. Drei Tage
lang fuhr in Moskau keine Straßenbahn und erschienen keine Zeitungen. Von
Moskau sprang die Streitbewegung nach Nischni-Nowgorod über, wo 25 000 Ar¬
beiter einen Tag lang streikten, und dann nach Charkow.

Zum größten Teile politischer Natur war auch die Ausstandsbewegung in
Italien. Aber auch die stetige Verteuerung der Lebensmittel spielte hier eine nicht
unbeträchtliche Rolle. So wurde im Februar 1915 von einem Generalstreik von
über 100 000 Arbeitern in Neapel infolge der rapiden Steigerung der Brot¬
uno Fleischpreise berichtet. Nach Mitteilungen des Mailänder „Avanti" kam es
Mitte April 1915 in Mailand wegen der Tötung eines Arbeiters bei den
Kundgebungen gegen den Krieg auf dem Domplatz zu einem vierundzwanzig-
stündigen Generalstreik. Typisch für die Arbeiterbewegung Italiens während
der Kriegszeit sind die vielen partiellen Streikbewegungen in den Munitions¬
und Heeresausrüstungsindustrien.

Aber auch die neutralen Länder sind von der Streitbewegung nicht ver¬
schont worden. Nicht zuletzt gilt dies von den drei skandinavischen Königreichen.
Hier fanden verschiedentlich partielle Streikbewegungen in den mit Heeres¬
aufträgen für die kriegführenden Staaten beschäftigten Industrien und Gewerbe
statt, so zum Beispiel im Kopenhagener Sattlergewerbe. Größere Arbeitskämpfe
des Jahres 1915 waren der Täbakarbeiterstreik in Christiania zu Beginn des
Jahres, ferner der 5000 Personen umfassende Kampf im norwegischen Bau¬
gewerbe, der Hafenarbeiterstreik in Bergen u. v. a. in. Heftiger setzte aber die
Streitbewegung in den drei nordischen Reichen im Jahre 1916 ein, wo die
meisten Tarifvereinbarungen abliefen. Die bedeutendsten Bewegungen sind hier
der am 19. Januar 1916 begonnene Streik von 1800 Maurern in Kopen¬
hagen, ferner der Streik der 4000 norwegischen Grubenarbeiter, der im Februar


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[0294] Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa industrie, erforderte der Streik nicht weniger als sechzig Opfer an Menschen¬ leben. Ende Juli 1915 brach in Jwano-Wosnesensk ein Streik aus, der aber¬ mals den Verlust einer ganzen Anzahl von Menschenleben — ungefähr hundert — zur Folge hatte. AIs Protest gegen das Eingreifen der öffent¬ lichen Sicherheitsorgane wurde darauf ein Streik in Petersburg proklamiert, an welchem 50 000 Arbeiter teilnahmen. Die Folge hiervon war, daß die Polizei in den Monaten August und September unter der Arbeiterschaft von Peters¬ burg und Moskau Massenuntersuchungen vornahm, welche mit der Verhaftung von etwa hundert Personen endeten. Diese Ereignisse und verschiedene andere Umstände, wie zum Beispiel die Weigerung der russischen Regierung, die Jnterpellation über das Vorgehen gegen streikende Arbeiter zu beantworten, gaben den Anlaß zu einem großen politischen Demonstrationsstreik. In Peters¬ burg streikten 150 000 Arbeiter. Auf den Putilow-Werken, bekanntlich eine der größten Munitionswerkstätten Rußlands, zogen die Arbeiter mit roten Fahnen auf und sangen revolutionäre Lieder. Als die Nachricht von dieser großen Kampfbewegung nach Moskau gelangte, beschlossen die dortigen Arbeiter mit ihren Petersburger Kollegen gemeinsame Sache zu machen. Drei Tage lang fuhr in Moskau keine Straßenbahn und erschienen keine Zeitungen. Von Moskau sprang die Streitbewegung nach Nischni-Nowgorod über, wo 25 000 Ar¬ beiter einen Tag lang streikten, und dann nach Charkow. Zum größten Teile politischer Natur war auch die Ausstandsbewegung in Italien. Aber auch die stetige Verteuerung der Lebensmittel spielte hier eine nicht unbeträchtliche Rolle. So wurde im Februar 1915 von einem Generalstreik von über 100 000 Arbeitern in Neapel infolge der rapiden Steigerung der Brot¬ uno Fleischpreise berichtet. Nach Mitteilungen des Mailänder „Avanti" kam es Mitte April 1915 in Mailand wegen der Tötung eines Arbeiters bei den Kundgebungen gegen den Krieg auf dem Domplatz zu einem vierundzwanzig- stündigen Generalstreik. Typisch für die Arbeiterbewegung Italiens während der Kriegszeit sind die vielen partiellen Streikbewegungen in den Munitions¬ und Heeresausrüstungsindustrien. Aber auch die neutralen Länder sind von der Streitbewegung nicht ver¬ schont worden. Nicht zuletzt gilt dies von den drei skandinavischen Königreichen. Hier fanden verschiedentlich partielle Streikbewegungen in den mit Heeres¬ aufträgen für die kriegführenden Staaten beschäftigten Industrien und Gewerbe statt, so zum Beispiel im Kopenhagener Sattlergewerbe. Größere Arbeitskämpfe des Jahres 1915 waren der Täbakarbeiterstreik in Christiania zu Beginn des Jahres, ferner der 5000 Personen umfassende Kampf im norwegischen Bau¬ gewerbe, der Hafenarbeiterstreik in Bergen u. v. a. in. Heftiger setzte aber die Streitbewegung in den drei nordischen Reichen im Jahre 1916 ein, wo die meisten Tarifvereinbarungen abliefen. Die bedeutendsten Bewegungen sind hier der am 19. Januar 1916 begonnene Streik von 1800 Maurern in Kopen¬ hagen, ferner der Streik der 4000 norwegischen Grubenarbeiter, der im Februar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/294>, abgerufen am 23.12.2024.