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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

Anonymität in der Presse aufgab, daß in den führenden Blättern die Verfasser
ihre Artikel mit ihren Namen unterzeichneten, war dem Journalisten die Mög¬
lichkeit geboten, als schriftstellerische Persönlichkeit unmittelbare Fühlung mit
dem Publikum zu gewinnen und seiner Feder Ruhm und Ansehen zu erwerben.
Er stand nicht mehr hinter den Kulissen wie sein deutscher Kollege, er trat mit
offenem Visier auf die Bühne und redete zum Volk. Bald waren die ersten
Geister der Nation in den Journalen vertreten, und mehr Befriedigung als die
Erlangung eines Maubads für die Deputiertenkammer erweckte das Gefühl,
von einem großen Publikum gelesen, verstanden, besprochen und bewundert zu
werden. Man drängte sich an das Steuer der Presse wie zum Staatsruder.
Chateaubriand, Villemain, Salvandy, Robler, Jules Janin, "le prince ac la
critique", wie man ihn nannte, schrieben für die "Döbats"; beim "Cor°
stitutionel" trat 1821 der junge Thiers als Mitarbeiter ein. im "Moniteur"
veröffentlichte Sande Beuve seine "Lau8frih8 us lunäi", Theophile Gautier,
Alexander Dumas, Arsöne, About u. a. stellten ihre Feder diesem Blatte zur
Verfügung. Das alte Rom holte seine Staatslenker und Feldherren hinter
dem Pfluge her, Frankreich seine politischen Führer von dem Redaktionstische.
Benjamin Constant, Lebrun, Thiers, Girardin waren Journalisten, ehe sie
Ministerposten bekleideten. Und heute noch ist Frankreich diesem Brauche treu
geblieben. Der vielgenannte Gesandte in Rom, Barröre, war ehemals Journalist.
Hat er seine Sendung weniger geschickt erfüllt als Herr von Flotow oder
Bülow? Soviel steht fest, daß er die Macht der Presse in Italien kannte und
damit die öffentliche Meinung wirksam bearbeitete, lange ehe dieser Weltkrieg
begann. --

Wie die politische Welt, so beherrschte die Tagespresse auch das lite¬
rarische Leben. Ihre Übersichten und Besprechungen sicherten oder beschränkten
die Erfolge dichterischer Leistungen, gingen den literarischen Berühmtheiten mit
schonungsloser Kritik oder den feinen Nadelstichen der Schalkheit zu Leibe,
hoben unbekannte Talente aus dem Dunkel der Verborgenheit und stellten sie
in das Licht des öffentlichen Interesses. Eine schlimme Schattenseite ihrer
Tätigkeit war dann freilich die raffinierte Ausbildung des Reklamewesens, der
gegenseitigen Lobesversicherungen, die den Buchhandel zu einer Spekulation
und die Literatur zu einem Geschäft erniedrigten. -- In die Entwicklung der
erzählenden Literatur griffen die französischen Zeitungen durch eine Neuerung
ein, die bald die ganze europäische Presse übernahm. Es war das "Journal
des Döbats", das 1830 den Zeitungsroman einführte. Es begann mit dem
Abdruck einiger kleiner Erzählungen von sonus, veröffentlichte dann sofort den
großen Roman "Die Geheimnisse von Paris" von Sue, denen "Die drei
Musketiere" von Dumas folgten. Diese Erzählungen waren gewiß von frag¬
würdiger Bedeutung, aber sie erregten ein gewaltiges Aufsehen und vergrößerten
den Leserkreis des Blattes. Fortan war das Feuilleton ein wichtiger Bestandteil
einer Zeitung, von dem ihre Anziehungskraft heute nicht zum wenigsten abhängt.


Grenzboten II 191S 2
Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

Anonymität in der Presse aufgab, daß in den führenden Blättern die Verfasser
ihre Artikel mit ihren Namen unterzeichneten, war dem Journalisten die Mög¬
lichkeit geboten, als schriftstellerische Persönlichkeit unmittelbare Fühlung mit
dem Publikum zu gewinnen und seiner Feder Ruhm und Ansehen zu erwerben.
Er stand nicht mehr hinter den Kulissen wie sein deutscher Kollege, er trat mit
offenem Visier auf die Bühne und redete zum Volk. Bald waren die ersten
Geister der Nation in den Journalen vertreten, und mehr Befriedigung als die
Erlangung eines Maubads für die Deputiertenkammer erweckte das Gefühl,
von einem großen Publikum gelesen, verstanden, besprochen und bewundert zu
werden. Man drängte sich an das Steuer der Presse wie zum Staatsruder.
Chateaubriand, Villemain, Salvandy, Robler, Jules Janin, „le prince ac la
critique", wie man ihn nannte, schrieben für die „Döbats"; beim „Cor°
stitutionel" trat 1821 der junge Thiers als Mitarbeiter ein. im „Moniteur"
veröffentlichte Sande Beuve seine „Lau8frih8 us lunäi", Theophile Gautier,
Alexander Dumas, Arsöne, About u. a. stellten ihre Feder diesem Blatte zur
Verfügung. Das alte Rom holte seine Staatslenker und Feldherren hinter
dem Pfluge her, Frankreich seine politischen Führer von dem Redaktionstische.
Benjamin Constant, Lebrun, Thiers, Girardin waren Journalisten, ehe sie
Ministerposten bekleideten. Und heute noch ist Frankreich diesem Brauche treu
geblieben. Der vielgenannte Gesandte in Rom, Barröre, war ehemals Journalist.
Hat er seine Sendung weniger geschickt erfüllt als Herr von Flotow oder
Bülow? Soviel steht fest, daß er die Macht der Presse in Italien kannte und
damit die öffentliche Meinung wirksam bearbeitete, lange ehe dieser Weltkrieg
begann. —

Wie die politische Welt, so beherrschte die Tagespresse auch das lite¬
rarische Leben. Ihre Übersichten und Besprechungen sicherten oder beschränkten
die Erfolge dichterischer Leistungen, gingen den literarischen Berühmtheiten mit
schonungsloser Kritik oder den feinen Nadelstichen der Schalkheit zu Leibe,
hoben unbekannte Talente aus dem Dunkel der Verborgenheit und stellten sie
in das Licht des öffentlichen Interesses. Eine schlimme Schattenseite ihrer
Tätigkeit war dann freilich die raffinierte Ausbildung des Reklamewesens, der
gegenseitigen Lobesversicherungen, die den Buchhandel zu einer Spekulation
und die Literatur zu einem Geschäft erniedrigten. — In die Entwicklung der
erzählenden Literatur griffen die französischen Zeitungen durch eine Neuerung
ein, die bald die ganze europäische Presse übernahm. Es war das „Journal
des Döbats", das 1830 den Zeitungsroman einführte. Es begann mit dem
Abdruck einiger kleiner Erzählungen von sonus, veröffentlichte dann sofort den
großen Roman „Die Geheimnisse von Paris" von Sue, denen „Die drei
Musketiere" von Dumas folgten. Diese Erzählungen waren gewiß von frag¬
würdiger Bedeutung, aber sie erregten ein gewaltiges Aufsehen und vergrößerten
den Leserkreis des Blattes. Fortan war das Feuilleton ein wichtiger Bestandteil
einer Zeitung, von dem ihre Anziehungskraft heute nicht zum wenigsten abhängt.


Grenzboten II 191S 2
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[0029] Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht Anonymität in der Presse aufgab, daß in den führenden Blättern die Verfasser ihre Artikel mit ihren Namen unterzeichneten, war dem Journalisten die Mög¬ lichkeit geboten, als schriftstellerische Persönlichkeit unmittelbare Fühlung mit dem Publikum zu gewinnen und seiner Feder Ruhm und Ansehen zu erwerben. Er stand nicht mehr hinter den Kulissen wie sein deutscher Kollege, er trat mit offenem Visier auf die Bühne und redete zum Volk. Bald waren die ersten Geister der Nation in den Journalen vertreten, und mehr Befriedigung als die Erlangung eines Maubads für die Deputiertenkammer erweckte das Gefühl, von einem großen Publikum gelesen, verstanden, besprochen und bewundert zu werden. Man drängte sich an das Steuer der Presse wie zum Staatsruder. Chateaubriand, Villemain, Salvandy, Robler, Jules Janin, „le prince ac la critique", wie man ihn nannte, schrieben für die „Döbats"; beim „Cor° stitutionel" trat 1821 der junge Thiers als Mitarbeiter ein. im „Moniteur" veröffentlichte Sande Beuve seine „Lau8frih8 us lunäi", Theophile Gautier, Alexander Dumas, Arsöne, About u. a. stellten ihre Feder diesem Blatte zur Verfügung. Das alte Rom holte seine Staatslenker und Feldherren hinter dem Pfluge her, Frankreich seine politischen Führer von dem Redaktionstische. Benjamin Constant, Lebrun, Thiers, Girardin waren Journalisten, ehe sie Ministerposten bekleideten. Und heute noch ist Frankreich diesem Brauche treu geblieben. Der vielgenannte Gesandte in Rom, Barröre, war ehemals Journalist. Hat er seine Sendung weniger geschickt erfüllt als Herr von Flotow oder Bülow? Soviel steht fest, daß er die Macht der Presse in Italien kannte und damit die öffentliche Meinung wirksam bearbeitete, lange ehe dieser Weltkrieg begann. — Wie die politische Welt, so beherrschte die Tagespresse auch das lite¬ rarische Leben. Ihre Übersichten und Besprechungen sicherten oder beschränkten die Erfolge dichterischer Leistungen, gingen den literarischen Berühmtheiten mit schonungsloser Kritik oder den feinen Nadelstichen der Schalkheit zu Leibe, hoben unbekannte Talente aus dem Dunkel der Verborgenheit und stellten sie in das Licht des öffentlichen Interesses. Eine schlimme Schattenseite ihrer Tätigkeit war dann freilich die raffinierte Ausbildung des Reklamewesens, der gegenseitigen Lobesversicherungen, die den Buchhandel zu einer Spekulation und die Literatur zu einem Geschäft erniedrigten. — In die Entwicklung der erzählenden Literatur griffen die französischen Zeitungen durch eine Neuerung ein, die bald die ganze europäische Presse übernahm. Es war das „Journal des Döbats", das 1830 den Zeitungsroman einführte. Es begann mit dem Abdruck einiger kleiner Erzählungen von sonus, veröffentlichte dann sofort den großen Roman „Die Geheimnisse von Paris" von Sue, denen „Die drei Musketiere" von Dumas folgten. Diese Erzählungen waren gewiß von frag¬ würdiger Bedeutung, aber sie erregten ein gewaltiges Aufsehen und vergrößerten den Leserkreis des Blattes. Fortan war das Feuilleton ein wichtiger Bestandteil einer Zeitung, von dem ihre Anziehungskraft heute nicht zum wenigsten abhängt. Grenzboten II 191S 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/29>, abgerufen am 22.12.2024.