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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Bausteine zur Geschichte des Laltenlandes

litauisches Heer rückt gegen die Schweden vor. Die diplomatische Arbeit wird
von dem Großmarschall und Kanzler von Litauen, Nikolaus Nadziwill, geleitet.
Er stößt vor allem bei Riga, das sich nicht unterwerfen will, auf Widerstand.
Schwierigkeiten macht bei den Verhandlungen die Frage, ob der Anschluß an
Polen oder an Litauen, das zu einem wirksamen Schutz nicht im Stande ist,
erfolgen solle, ferner die Entlassung vom Deutschen Reiche. Es wird vereinbart,
daß die Unterwerfung, wenn sie von Polen nicht angenommen werden sollte,
für Litauen gelten solle. Am 28. November 1561 huldigen die livländischen
unterworfenen Teile des Landes dem König Sigismund August, nur Riga schließt
sich aus. In dem Privilegium Sigismundi Augusti, der für den Adel bestimmten
Bestätigungsurkunde, ist das zugesichert, was die Grundlage des deutsch-baltischen
Lebens unter fremder Herrschaft sein sollte: Gewissensfreiheit, deutsche Ver¬
waltung und Obrigkeit, deutsches Recht. Kettler wurde zum Herzog von Kurland
und Semgallen ohne das Stift Kurland erhoben und sollte bei Lebzeiten königlicher
Administrator vonLivland sein. Riga unterwirft sich nur bedingungsweise--nämlich
für den Fall der Vereinigung mit Polen -- dem Könige. Als diese nicht erfolgte,
erklärte die Stadt den Eid für nichtig und blieb noch zwanzig Jahre selbständig.

So endet das deutsche Livland, zwar im Widerstreit mit mächtigen Gegnern,
aber doch uneinig und ruhmlos. Der Abschluß darf uns aber nicht über die
Bedeutung der Gesamtleistung täuschen. Die Eroberung und noch mehr die
Behauptung dieses räumlich vom Mutterlande getrennten, inmitten großer
Nachbarreiche, die sich teilweise in voller Machtentfaltung befanden, gelegenen
Landes ist eine außerordentliche Leistung, die erst der voll überblickt, der sich
die geringe Zahl der Deutschen und die innere Zersplitterung vergegenwärtigt.
Die Kraft des Landes spricht auch daraus, daß es sich fast hundert Jahre länger
als Preußen von fremder Oberherrschaft freihielt. Nicht gering ist die geschichtliche
Bedeutung dieses Staatsgebildes. Verhinderte es doch, daß auf baltischen
Boden ein anderes festgegründetes Staatswesen entstand: Letten und Ehlen blieb
die Bildung eines Staates versagt und die nach 1560 sich abwechselnde Herr¬
schaft Polens, Schwedens, Rußlands hatte den Charakter des Episodenhaften.
Keine dieser Mächte konnte den Charakter des Landes ändern, es war Fremd¬
herrschaft, die, ohne eine Spur zu hinterlassen, vorüberging. Das öffentliche
Leben des Landes: Verfassung, Recht, Bildung blieben deutsch, erst die letzten
Jahrzehnte stellten dies infolge des Erstarkens der Letten und Ehlen in Frage-
So stark war die Nachwirkung der Zeit deutscher Herrschaft in Verbindung mit
zähem Festhalten an eigner Art. Noch heute macht das Land deutlich den
Eindruck politischer Unfertigkeit, wartet auf eine Macht, die ihm dauernde
Gestalt gibt. Aus der soweit zurückliegenden, vergessenen, anscheinend wirkungs¬
losen Geschichte der Jahre 1200--1560 ergibt sich für Deutschland ein starkes
Recht, eine starke Pflicht, dieser Bildner zu sein.




Bausteine zur Geschichte des Laltenlandes

litauisches Heer rückt gegen die Schweden vor. Die diplomatische Arbeit wird
von dem Großmarschall und Kanzler von Litauen, Nikolaus Nadziwill, geleitet.
Er stößt vor allem bei Riga, das sich nicht unterwerfen will, auf Widerstand.
Schwierigkeiten macht bei den Verhandlungen die Frage, ob der Anschluß an
Polen oder an Litauen, das zu einem wirksamen Schutz nicht im Stande ist,
erfolgen solle, ferner die Entlassung vom Deutschen Reiche. Es wird vereinbart,
daß die Unterwerfung, wenn sie von Polen nicht angenommen werden sollte,
für Litauen gelten solle. Am 28. November 1561 huldigen die livländischen
unterworfenen Teile des Landes dem König Sigismund August, nur Riga schließt
sich aus. In dem Privilegium Sigismundi Augusti, der für den Adel bestimmten
Bestätigungsurkunde, ist das zugesichert, was die Grundlage des deutsch-baltischen
Lebens unter fremder Herrschaft sein sollte: Gewissensfreiheit, deutsche Ver¬
waltung und Obrigkeit, deutsches Recht. Kettler wurde zum Herzog von Kurland
und Semgallen ohne das Stift Kurland erhoben und sollte bei Lebzeiten königlicher
Administrator vonLivland sein. Riga unterwirft sich nur bedingungsweise—nämlich
für den Fall der Vereinigung mit Polen — dem Könige. Als diese nicht erfolgte,
erklärte die Stadt den Eid für nichtig und blieb noch zwanzig Jahre selbständig.

So endet das deutsche Livland, zwar im Widerstreit mit mächtigen Gegnern,
aber doch uneinig und ruhmlos. Der Abschluß darf uns aber nicht über die
Bedeutung der Gesamtleistung täuschen. Die Eroberung und noch mehr die
Behauptung dieses räumlich vom Mutterlande getrennten, inmitten großer
Nachbarreiche, die sich teilweise in voller Machtentfaltung befanden, gelegenen
Landes ist eine außerordentliche Leistung, die erst der voll überblickt, der sich
die geringe Zahl der Deutschen und die innere Zersplitterung vergegenwärtigt.
Die Kraft des Landes spricht auch daraus, daß es sich fast hundert Jahre länger
als Preußen von fremder Oberherrschaft freihielt. Nicht gering ist die geschichtliche
Bedeutung dieses Staatsgebildes. Verhinderte es doch, daß auf baltischen
Boden ein anderes festgegründetes Staatswesen entstand: Letten und Ehlen blieb
die Bildung eines Staates versagt und die nach 1560 sich abwechselnde Herr¬
schaft Polens, Schwedens, Rußlands hatte den Charakter des Episodenhaften.
Keine dieser Mächte konnte den Charakter des Landes ändern, es war Fremd¬
herrschaft, die, ohne eine Spur zu hinterlassen, vorüberging. Das öffentliche
Leben des Landes: Verfassung, Recht, Bildung blieben deutsch, erst die letzten
Jahrzehnte stellten dies infolge des Erstarkens der Letten und Ehlen in Frage-
So stark war die Nachwirkung der Zeit deutscher Herrschaft in Verbindung mit
zähem Festhalten an eigner Art. Noch heute macht das Land deutlich den
Eindruck politischer Unfertigkeit, wartet auf eine Macht, die ihm dauernde
Gestalt gibt. Aus der soweit zurückliegenden, vergessenen, anscheinend wirkungs¬
losen Geschichte der Jahre 1200—1560 ergibt sich für Deutschland ein starkes
Recht, eine starke Pflicht, dieser Bildner zu sein.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/288>, abgerufen am 22.12.2024.