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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

"Kourtoisie", die erst den Hut vor dem Gegner zieht, ehe sie den Degen wider
ihn kehrt, und die ihm, wenn er den dreischneidigen Stich im Leibe hat,
manierlich den Sekundanten schickt, um sich nach dem Befinden des Feindes zu
erkundigen. Und die Vornehmheit des Tones war eine wesentliche Bedingung
des Einflusses der französischen Presse. "Denn die Freiheit und Gleichheit",
so sagt Thiers 1839. "besteht weniger darin, daß der Marquis ein Bürger,
als daß der Bürger ein Marquis geworden ist." Gefügig und schmiegsam
wußte sich die französische Presse den geselligen Verhältnissen, den Bedürfnissen,
dem Geschmack der Nation anzupassen und alle Züge ihres Charaktersbildes
aufzufassen und widerzuspiegeln. Sie war eine glänzende Verkörperung des
Pariser Geistes und, da Paris im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts
allmählich Frankreich wurde, des Nationalgeistes überhaupt. Die Vereinigung
des politischen und literarischen Lebens in einem Mittelpunkt, in einer Haupt¬
stadt, war eine der wichtigsten Bedingungen für den Aufschwung der Presse.
In Deutschland hatte das Zeitungswesen keinen einheitlichen Mittelpunkt,
Provinzblätter wie die "Augsburger Allgemeine Zeitung", die "Kölnische Zeitung"
hatten jahrzehntelang für unser politisches und literarisches Leben eine größere
Bedeutung, als irgendein Blatt in Berlin oder Wien. Auch in Frankreich
suchte man während der dreißiger Jahre gegen die Zentralisation der Presse
einen Sturmlauf zu machen. Es waren die Legitimisten der "Gazette de France",
die diesen Gedanken faßten. Alsbald entstanden an allen Ecken und Enden
kleine "Gazellen", die gewaltig in die Trompete stießen und Himmel und Erde
in Bewegung setzten zur "Emanzipation der Provinzen". Aber eine humorvolle
Fügung wollte es, daß die Sache schnöde ins Gegenteil umschlug. Denn die
Befreiungsavostel der Provinzen fristeten nur dadurch als Zeitungsschreiber ihr
Dasein, daß sie mit jeder Post von Paris aus ihre Losung empfingen und
von dem Mittelpunkt, gegen den sie ankämpften, an Marionettenfäden gezogen
wurden. Es waren Strohmänner, die ihre Seelen verleugneten und sich als
Provinzler gebärdeten, während ihr Herz in Paris war. Die literarische Vor¬
herrschaft der Hauptstadt blieb unerschüttert, die Provinzen verhielten sich
lediglich empfangend. In Paris selbst aber hatte jede Zeitung gewissermaßen
ihre Provinz, nämlich ihr Publikum, das auf sie eingeschworen, für das ihr
Urteil entscheidend ist. Es sind die treuen Gläubigen, die alles mißachten, was
nicht in ihr Leibblatt kommt, und keine Gedanken haben als die. welche die
Zeitung ihnen liefert, Leute, deren kindliche Unbefangenheit in einer so welt¬
klugen Hauptstadt fast idyllisch berührt. Und dieser Teil des Publikums ist
auch heute noch größer als man glaubt. Nicht das große Paris, aber jedes
kleine Stadtviertel hat seine Kleinstädter, so treuherzig wie in der Provinz
und beseelt von dem gleichen aufrichtigen politischen Köhlerglauben.

Die politische Zentralisation ermöglichte die machtvolle Entwicklung
des französischen Zeitungswesens und versorgte die Tageblätter mit einem
glänzenden Stäbe von Mitarbeitern. Durch den Umstand, daß man die


Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

„Kourtoisie", die erst den Hut vor dem Gegner zieht, ehe sie den Degen wider
ihn kehrt, und die ihm, wenn er den dreischneidigen Stich im Leibe hat,
manierlich den Sekundanten schickt, um sich nach dem Befinden des Feindes zu
erkundigen. Und die Vornehmheit des Tones war eine wesentliche Bedingung
des Einflusses der französischen Presse. „Denn die Freiheit und Gleichheit",
so sagt Thiers 1839. „besteht weniger darin, daß der Marquis ein Bürger,
als daß der Bürger ein Marquis geworden ist." Gefügig und schmiegsam
wußte sich die französische Presse den geselligen Verhältnissen, den Bedürfnissen,
dem Geschmack der Nation anzupassen und alle Züge ihres Charaktersbildes
aufzufassen und widerzuspiegeln. Sie war eine glänzende Verkörperung des
Pariser Geistes und, da Paris im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts
allmählich Frankreich wurde, des Nationalgeistes überhaupt. Die Vereinigung
des politischen und literarischen Lebens in einem Mittelpunkt, in einer Haupt¬
stadt, war eine der wichtigsten Bedingungen für den Aufschwung der Presse.
In Deutschland hatte das Zeitungswesen keinen einheitlichen Mittelpunkt,
Provinzblätter wie die „Augsburger Allgemeine Zeitung", die „Kölnische Zeitung"
hatten jahrzehntelang für unser politisches und literarisches Leben eine größere
Bedeutung, als irgendein Blatt in Berlin oder Wien. Auch in Frankreich
suchte man während der dreißiger Jahre gegen die Zentralisation der Presse
einen Sturmlauf zu machen. Es waren die Legitimisten der „Gazette de France",
die diesen Gedanken faßten. Alsbald entstanden an allen Ecken und Enden
kleine „Gazellen", die gewaltig in die Trompete stießen und Himmel und Erde
in Bewegung setzten zur „Emanzipation der Provinzen". Aber eine humorvolle
Fügung wollte es, daß die Sache schnöde ins Gegenteil umschlug. Denn die
Befreiungsavostel der Provinzen fristeten nur dadurch als Zeitungsschreiber ihr
Dasein, daß sie mit jeder Post von Paris aus ihre Losung empfingen und
von dem Mittelpunkt, gegen den sie ankämpften, an Marionettenfäden gezogen
wurden. Es waren Strohmänner, die ihre Seelen verleugneten und sich als
Provinzler gebärdeten, während ihr Herz in Paris war. Die literarische Vor¬
herrschaft der Hauptstadt blieb unerschüttert, die Provinzen verhielten sich
lediglich empfangend. In Paris selbst aber hatte jede Zeitung gewissermaßen
ihre Provinz, nämlich ihr Publikum, das auf sie eingeschworen, für das ihr
Urteil entscheidend ist. Es sind die treuen Gläubigen, die alles mißachten, was
nicht in ihr Leibblatt kommt, und keine Gedanken haben als die. welche die
Zeitung ihnen liefert, Leute, deren kindliche Unbefangenheit in einer so welt¬
klugen Hauptstadt fast idyllisch berührt. Und dieser Teil des Publikums ist
auch heute noch größer als man glaubt. Nicht das große Paris, aber jedes
kleine Stadtviertel hat seine Kleinstädter, so treuherzig wie in der Provinz
und beseelt von dem gleichen aufrichtigen politischen Köhlerglauben.

Die politische Zentralisation ermöglichte die machtvolle Entwicklung
des französischen Zeitungswesens und versorgte die Tageblätter mit einem
glänzenden Stäbe von Mitarbeitern. Durch den Umstand, daß man die


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[0028] Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht „Kourtoisie", die erst den Hut vor dem Gegner zieht, ehe sie den Degen wider ihn kehrt, und die ihm, wenn er den dreischneidigen Stich im Leibe hat, manierlich den Sekundanten schickt, um sich nach dem Befinden des Feindes zu erkundigen. Und die Vornehmheit des Tones war eine wesentliche Bedingung des Einflusses der französischen Presse. „Denn die Freiheit und Gleichheit", so sagt Thiers 1839. „besteht weniger darin, daß der Marquis ein Bürger, als daß der Bürger ein Marquis geworden ist." Gefügig und schmiegsam wußte sich die französische Presse den geselligen Verhältnissen, den Bedürfnissen, dem Geschmack der Nation anzupassen und alle Züge ihres Charaktersbildes aufzufassen und widerzuspiegeln. Sie war eine glänzende Verkörperung des Pariser Geistes und, da Paris im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts allmählich Frankreich wurde, des Nationalgeistes überhaupt. Die Vereinigung des politischen und literarischen Lebens in einem Mittelpunkt, in einer Haupt¬ stadt, war eine der wichtigsten Bedingungen für den Aufschwung der Presse. In Deutschland hatte das Zeitungswesen keinen einheitlichen Mittelpunkt, Provinzblätter wie die „Augsburger Allgemeine Zeitung", die „Kölnische Zeitung" hatten jahrzehntelang für unser politisches und literarisches Leben eine größere Bedeutung, als irgendein Blatt in Berlin oder Wien. Auch in Frankreich suchte man während der dreißiger Jahre gegen die Zentralisation der Presse einen Sturmlauf zu machen. Es waren die Legitimisten der „Gazette de France", die diesen Gedanken faßten. Alsbald entstanden an allen Ecken und Enden kleine „Gazellen", die gewaltig in die Trompete stießen und Himmel und Erde in Bewegung setzten zur „Emanzipation der Provinzen". Aber eine humorvolle Fügung wollte es, daß die Sache schnöde ins Gegenteil umschlug. Denn die Befreiungsavostel der Provinzen fristeten nur dadurch als Zeitungsschreiber ihr Dasein, daß sie mit jeder Post von Paris aus ihre Losung empfingen und von dem Mittelpunkt, gegen den sie ankämpften, an Marionettenfäden gezogen wurden. Es waren Strohmänner, die ihre Seelen verleugneten und sich als Provinzler gebärdeten, während ihr Herz in Paris war. Die literarische Vor¬ herrschaft der Hauptstadt blieb unerschüttert, die Provinzen verhielten sich lediglich empfangend. In Paris selbst aber hatte jede Zeitung gewissermaßen ihre Provinz, nämlich ihr Publikum, das auf sie eingeschworen, für das ihr Urteil entscheidend ist. Es sind die treuen Gläubigen, die alles mißachten, was nicht in ihr Leibblatt kommt, und keine Gedanken haben als die. welche die Zeitung ihnen liefert, Leute, deren kindliche Unbefangenheit in einer so welt¬ klugen Hauptstadt fast idyllisch berührt. Und dieser Teil des Publikums ist auch heute noch größer als man glaubt. Nicht das große Paris, aber jedes kleine Stadtviertel hat seine Kleinstädter, so treuherzig wie in der Provinz und beseelt von dem gleichen aufrichtigen politischen Köhlerglauben. Die politische Zentralisation ermöglichte die machtvolle Entwicklung des französischen Zeitungswesens und versorgte die Tageblätter mit einem glänzenden Stäbe von Mitarbeitern. Durch den Umstand, daß man die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/28>, abgerufen am 01.09.2024.