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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Der Apostel des deutschen Idealismus

kam es nicht darauf an, ob sie, ganz wie einst den Juden und den Griechen
das Evangelium, den Empirikern als ein Ärgernis oder eine Torheit er¬
scheinen mußte. Mochte die empirische Weltgeschichte verlaufen sein, wie sie
wollte, der spekulative Philosoph stellte apriori ihre einzig wahren fünf Zeit¬
alter fest: das der Unschuld und des Vernunftinstinkts, das der Autorität,
das mit Zwangsmitteln den schwindenden Vernunfttnstinkt aufrecht erhielt, das
der Aufklärung, des Skeptizismus und der vollendeten Sündhaftigkeit. In
diesem Stadium sah Fichte seine eigene Zeit, Aber er verkündete zugleich eine
bessere Zukunft: die Vernunftwissenschaft wird durch die Kantsche Freiheitslehre
die Herrschaft der Vernunft wieder anbahnen und die Rechtfertigung beginnen.
Und endlich wird die bloße Wissenschaft zu einem Können, zu einer Virtuosität
des Handelns werden, und im Zeitalter der Vernunftkunst wird sich die Recht¬
fertigung vollenden.

Ohne Fichte Unrecht zu tun, können wir diese apriorischen Spekulationen
über die Menschheitsentwicklung als ziemlich unfruchtbar bezeichnen. Es gibt
für uns nur eine empirische Geschichte, denn über die höheren Wege und Ziele
Gottes wissen wir nichts. Fichte glaubt allerdings mit seinen Spekulationen
den Weg der Vorsehung in der Geschichte zu ergründen, also religiöse Erkenntnis
zu bieten. Rationalismus, aber idealistischer, ist die zeitgemäße und für ihn
allein richtige Form der Religion. Das ist die Hauptsache, daß dieser Nationalis¬
mus leidenschaftlich religiös gemeint ist und mit dem Pathos eines Evangeli¬
ums vorgetragen wird. Denn es unterscheidet ihn von ^ denen, die Kants Lehre
nur als zwar richtige, aber kühle Theorie auffaßten. Ihnen gegenüber hatte
Fichte doppelt recht: in Anbetracht der Leistungsfähigkeit der Kantschen Philo¬
sophie, die auch heute noch an vielen eine mehr als theoretische Kraft bewährt,
und im Sinne des Meisters Kant selber, der im Grunde immer der Inbrunst
seines pietistischen Jugendglaubens treu blieb und seine "Kritiken" schrieb, nicht
um Gott zu entthronen, sondern um ihn zu finden. Fichtes Verhältnis zu
Kant kann man dem des Paulus zu Jesus vergleichen. Auch er ist ein Be¬
kehrter, der mit dem brennenden Eifer des besonders Berufenen in die Propa¬
ganda der Wahrheit eintritt. Kant erscheint in der ruhigen Abgeklärtheit des
Stifters, Fichte mit aller Leidenschaft des begeisterten Apostels, der souverän
die Worte des Meisters nach eigenem Geiste gestaltet und in Taten umsetzt,
wie es Paulus mit der Lehre Jesu ja auch getan hat. In der Tat erscheint
Kant bei Fichte durchaus in der Reihe der Religionsstifter: da wo Platon,
Jesus und Luther stehen. Mit Luther hat er ihn eng in Beziehung gesetzt.
Er erwartete in Anknüpfung an Kants Philosophie einen neuen Protestantis¬
mus, der ins Volk dringen und eine Wiedergeburt deutschen Geistes zuwege
bringen sollte. Denn das damalige Geistesleben der Aufklärung, wie es
Nicolai und die Wolffianer verstanden, erschien ihm als eine wahrhafte Ver¬
derbnis. Er teilte zwar mit diesen Gegnern das rationale Prinzip, aber ihr
Denken ging nicht von der autonomen Freiheit des Geistes aus, sondern von


Der Apostel des deutschen Idealismus

kam es nicht darauf an, ob sie, ganz wie einst den Juden und den Griechen
das Evangelium, den Empirikern als ein Ärgernis oder eine Torheit er¬
scheinen mußte. Mochte die empirische Weltgeschichte verlaufen sein, wie sie
wollte, der spekulative Philosoph stellte apriori ihre einzig wahren fünf Zeit¬
alter fest: das der Unschuld und des Vernunftinstinkts, das der Autorität,
das mit Zwangsmitteln den schwindenden Vernunfttnstinkt aufrecht erhielt, das
der Aufklärung, des Skeptizismus und der vollendeten Sündhaftigkeit. In
diesem Stadium sah Fichte seine eigene Zeit, Aber er verkündete zugleich eine
bessere Zukunft: die Vernunftwissenschaft wird durch die Kantsche Freiheitslehre
die Herrschaft der Vernunft wieder anbahnen und die Rechtfertigung beginnen.
Und endlich wird die bloße Wissenschaft zu einem Können, zu einer Virtuosität
des Handelns werden, und im Zeitalter der Vernunftkunst wird sich die Recht¬
fertigung vollenden.

Ohne Fichte Unrecht zu tun, können wir diese apriorischen Spekulationen
über die Menschheitsentwicklung als ziemlich unfruchtbar bezeichnen. Es gibt
für uns nur eine empirische Geschichte, denn über die höheren Wege und Ziele
Gottes wissen wir nichts. Fichte glaubt allerdings mit seinen Spekulationen
den Weg der Vorsehung in der Geschichte zu ergründen, also religiöse Erkenntnis
zu bieten. Rationalismus, aber idealistischer, ist die zeitgemäße und für ihn
allein richtige Form der Religion. Das ist die Hauptsache, daß dieser Nationalis¬
mus leidenschaftlich religiös gemeint ist und mit dem Pathos eines Evangeli¬
ums vorgetragen wird. Denn es unterscheidet ihn von ^ denen, die Kants Lehre
nur als zwar richtige, aber kühle Theorie auffaßten. Ihnen gegenüber hatte
Fichte doppelt recht: in Anbetracht der Leistungsfähigkeit der Kantschen Philo¬
sophie, die auch heute noch an vielen eine mehr als theoretische Kraft bewährt,
und im Sinne des Meisters Kant selber, der im Grunde immer der Inbrunst
seines pietistischen Jugendglaubens treu blieb und seine „Kritiken" schrieb, nicht
um Gott zu entthronen, sondern um ihn zu finden. Fichtes Verhältnis zu
Kant kann man dem des Paulus zu Jesus vergleichen. Auch er ist ein Be¬
kehrter, der mit dem brennenden Eifer des besonders Berufenen in die Propa¬
ganda der Wahrheit eintritt. Kant erscheint in der ruhigen Abgeklärtheit des
Stifters, Fichte mit aller Leidenschaft des begeisterten Apostels, der souverän
die Worte des Meisters nach eigenem Geiste gestaltet und in Taten umsetzt,
wie es Paulus mit der Lehre Jesu ja auch getan hat. In der Tat erscheint
Kant bei Fichte durchaus in der Reihe der Religionsstifter: da wo Platon,
Jesus und Luther stehen. Mit Luther hat er ihn eng in Beziehung gesetzt.
Er erwartete in Anknüpfung an Kants Philosophie einen neuen Protestantis¬
mus, der ins Volk dringen und eine Wiedergeburt deutschen Geistes zuwege
bringen sollte. Denn das damalige Geistesleben der Aufklärung, wie es
Nicolai und die Wolffianer verstanden, erschien ihm als eine wahrhafte Ver¬
derbnis. Er teilte zwar mit diesen Gegnern das rationale Prinzip, aber ihr
Denken ging nicht von der autonomen Freiheit des Geistes aus, sondern von


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[0276] Der Apostel des deutschen Idealismus kam es nicht darauf an, ob sie, ganz wie einst den Juden und den Griechen das Evangelium, den Empirikern als ein Ärgernis oder eine Torheit er¬ scheinen mußte. Mochte die empirische Weltgeschichte verlaufen sein, wie sie wollte, der spekulative Philosoph stellte apriori ihre einzig wahren fünf Zeit¬ alter fest: das der Unschuld und des Vernunftinstinkts, das der Autorität, das mit Zwangsmitteln den schwindenden Vernunfttnstinkt aufrecht erhielt, das der Aufklärung, des Skeptizismus und der vollendeten Sündhaftigkeit. In diesem Stadium sah Fichte seine eigene Zeit, Aber er verkündete zugleich eine bessere Zukunft: die Vernunftwissenschaft wird durch die Kantsche Freiheitslehre die Herrschaft der Vernunft wieder anbahnen und die Rechtfertigung beginnen. Und endlich wird die bloße Wissenschaft zu einem Können, zu einer Virtuosität des Handelns werden, und im Zeitalter der Vernunftkunst wird sich die Recht¬ fertigung vollenden. Ohne Fichte Unrecht zu tun, können wir diese apriorischen Spekulationen über die Menschheitsentwicklung als ziemlich unfruchtbar bezeichnen. Es gibt für uns nur eine empirische Geschichte, denn über die höheren Wege und Ziele Gottes wissen wir nichts. Fichte glaubt allerdings mit seinen Spekulationen den Weg der Vorsehung in der Geschichte zu ergründen, also religiöse Erkenntnis zu bieten. Rationalismus, aber idealistischer, ist die zeitgemäße und für ihn allein richtige Form der Religion. Das ist die Hauptsache, daß dieser Nationalis¬ mus leidenschaftlich religiös gemeint ist und mit dem Pathos eines Evangeli¬ ums vorgetragen wird. Denn es unterscheidet ihn von ^ denen, die Kants Lehre nur als zwar richtige, aber kühle Theorie auffaßten. Ihnen gegenüber hatte Fichte doppelt recht: in Anbetracht der Leistungsfähigkeit der Kantschen Philo¬ sophie, die auch heute noch an vielen eine mehr als theoretische Kraft bewährt, und im Sinne des Meisters Kant selber, der im Grunde immer der Inbrunst seines pietistischen Jugendglaubens treu blieb und seine „Kritiken" schrieb, nicht um Gott zu entthronen, sondern um ihn zu finden. Fichtes Verhältnis zu Kant kann man dem des Paulus zu Jesus vergleichen. Auch er ist ein Be¬ kehrter, der mit dem brennenden Eifer des besonders Berufenen in die Propa¬ ganda der Wahrheit eintritt. Kant erscheint in der ruhigen Abgeklärtheit des Stifters, Fichte mit aller Leidenschaft des begeisterten Apostels, der souverän die Worte des Meisters nach eigenem Geiste gestaltet und in Taten umsetzt, wie es Paulus mit der Lehre Jesu ja auch getan hat. In der Tat erscheint Kant bei Fichte durchaus in der Reihe der Religionsstifter: da wo Platon, Jesus und Luther stehen. Mit Luther hat er ihn eng in Beziehung gesetzt. Er erwartete in Anknüpfung an Kants Philosophie einen neuen Protestantis¬ mus, der ins Volk dringen und eine Wiedergeburt deutschen Geistes zuwege bringen sollte. Denn das damalige Geistesleben der Aufklärung, wie es Nicolai und die Wolffianer verstanden, erschien ihm als eine wahrhafte Ver¬ derbnis. Er teilte zwar mit diesen Gegnern das rationale Prinzip, aber ihr Denken ging nicht von der autonomen Freiheit des Geistes aus, sondern von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/276>, abgerufen am 23.12.2024.