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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

ein Ragout läßt sich wieder warm machen, eine Schüssel mit fetter Leber kann
einen ganzen Monat aushalten, ein Schinken kann seine Bewunderer wieder
um sich versammeln, aber ein Zeitungsartikel hat nur den nächsten Tag. Man
wirst ihn auf den Schreibtisch, wie man die Serviette auf den Tisch wirft,
wenn man gespeist hat". -- Mit dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreiches
verliert die französische Presse die stolze, vornehme Haltung, die ihre besten Blätter
bis dahin gewahrt hatten. Nicht eine einzige Zeitung ist zu nennen, die 1870
nicht in das Huronengeheul des Chauvinismus einstimmte, die nicht angefressen
war von dem Wahne nationaler Selbstvergötterung, die den Mut hatte, den
Tatsachen ehrlich ins Gesicht zu schauen. Aber auch in ihrem Niedergange ist
die französiche Presse bis zum heutigen Tage eine nicht zu unterschätzende Macht,
sie übt noch immer in dem Zeitungswesen der kleinen Staaten eine Herrschaft
aus, wie ein Veteran unter Rekruten, sie ist noch immer wie keine andere eine
europäische Lektüre. -- Die Gründe für diese einzige Erscheinung liegen
nicht bloß in der weiten Verbreitung der französischen Sprache, auch nicht
in der verhältnismäßig großen Freiheit der französischen Presse, sondern in der
ganzen Art ihrer Entwicklung und Ausbildung, die in innigster Wechselwirkung
mit dem französischen Nationalcharakter steht. Man hat das französische Volk
ein "psuple könne" genannt. Jedenfalls hat es mit der edlen Weiblichkeit
die gewandte Zunge und die Lust am Plaudern gemeinsam. Der Franzose ist
ein geborener Schauspieler, er ist auch ein geborener Journalist. Der Trieb
dazu liegt im Blute. Von den alten Galliern erzählt Cäsar (Lommenwrii as
bello (ZaUiLO 4. 3.) "Lst autem roe Oallieae eonsustuciinis, ut et viatoreg,
etiam mviro3 con8i8lere coZant, et quoä qui8que eorum cke quaqus re
auctierit eine coMoverit, quaerant, et mercatores in oppiäis volAU8
circum8l8tat. quibu8 ex reZionibu8 vsniant qua8qus re3 ibi cOMO-
verint. pronuritiare coMt". Jene Gallier, welche die Reisenden anzu-
halten und nach Neuigkeiten auszufragen pflegten, d. h. sie gewaltsam zu
Journalisten preßten, sind die echten Stammväter der französischen Ansiedler in
Louisiana, die von Zeit zu Zeit in die Stadt kamen, nur "um ein wenig zu
plaudern", nämlich hundert und mehr Meilen zurücklegten, um in New-Orleans
ihrem Drange nach geselliger Unterhaltung Genüge zu leisten. Aus diesem all¬
mächtigen Trieb zur Konversation erwuchs im Laufe des siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderts das Pariser Salonleben mit seiner feinen, geselligen
Kultur, seinem Vergnügen an Witz und Geist. In den Salons fanden sich die
Männer zusammen, die als Schriftleiter oder Mitarbeiter angesehener Zeitungen
die öffentliche Meinung schufen. Ein im Salon geprägtes Witzwort wurde
durch die Presse in Paris und Frankreich verbreitet und ging so für den
Volksgeschmack nicht verloren. Eine Idee, die zündete, lief elektrisch durch alle
Stände, um möglicherweise noch beim Proletariat einzuschlagen. Durch die
Wechselwirkung mit der Salonwelt empfing das Pariser Zeitungsleben sein
besonderes Gepräge, dort gewann es jene vornehme Haltung, jene altfranzösische


Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

ein Ragout läßt sich wieder warm machen, eine Schüssel mit fetter Leber kann
einen ganzen Monat aushalten, ein Schinken kann seine Bewunderer wieder
um sich versammeln, aber ein Zeitungsartikel hat nur den nächsten Tag. Man
wirst ihn auf den Schreibtisch, wie man die Serviette auf den Tisch wirft,
wenn man gespeist hat". — Mit dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreiches
verliert die französische Presse die stolze, vornehme Haltung, die ihre besten Blätter
bis dahin gewahrt hatten. Nicht eine einzige Zeitung ist zu nennen, die 1870
nicht in das Huronengeheul des Chauvinismus einstimmte, die nicht angefressen
war von dem Wahne nationaler Selbstvergötterung, die den Mut hatte, den
Tatsachen ehrlich ins Gesicht zu schauen. Aber auch in ihrem Niedergange ist
die französiche Presse bis zum heutigen Tage eine nicht zu unterschätzende Macht,
sie übt noch immer in dem Zeitungswesen der kleinen Staaten eine Herrschaft
aus, wie ein Veteran unter Rekruten, sie ist noch immer wie keine andere eine
europäische Lektüre. — Die Gründe für diese einzige Erscheinung liegen
nicht bloß in der weiten Verbreitung der französischen Sprache, auch nicht
in der verhältnismäßig großen Freiheit der französischen Presse, sondern in der
ganzen Art ihrer Entwicklung und Ausbildung, die in innigster Wechselwirkung
mit dem französischen Nationalcharakter steht. Man hat das französische Volk
ein „psuple könne" genannt. Jedenfalls hat es mit der edlen Weiblichkeit
die gewandte Zunge und die Lust am Plaudern gemeinsam. Der Franzose ist
ein geborener Schauspieler, er ist auch ein geborener Journalist. Der Trieb
dazu liegt im Blute. Von den alten Galliern erzählt Cäsar (Lommenwrii as
bello (ZaUiLO 4. 3.) „Lst autem roe Oallieae eonsustuciinis, ut et viatoreg,
etiam mviro3 con8i8lere coZant, et quoä qui8que eorum cke quaqus re
auctierit eine coMoverit, quaerant, et mercatores in oppiäis volAU8
circum8l8tat. quibu8 ex reZionibu8 vsniant qua8qus re3 ibi cOMO-
verint. pronuritiare coMt". Jene Gallier, welche die Reisenden anzu-
halten und nach Neuigkeiten auszufragen pflegten, d. h. sie gewaltsam zu
Journalisten preßten, sind die echten Stammväter der französischen Ansiedler in
Louisiana, die von Zeit zu Zeit in die Stadt kamen, nur „um ein wenig zu
plaudern", nämlich hundert und mehr Meilen zurücklegten, um in New-Orleans
ihrem Drange nach geselliger Unterhaltung Genüge zu leisten. Aus diesem all¬
mächtigen Trieb zur Konversation erwuchs im Laufe des siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderts das Pariser Salonleben mit seiner feinen, geselligen
Kultur, seinem Vergnügen an Witz und Geist. In den Salons fanden sich die
Männer zusammen, die als Schriftleiter oder Mitarbeiter angesehener Zeitungen
die öffentliche Meinung schufen. Ein im Salon geprägtes Witzwort wurde
durch die Presse in Paris und Frankreich verbreitet und ging so für den
Volksgeschmack nicht verloren. Eine Idee, die zündete, lief elektrisch durch alle
Stände, um möglicherweise noch beim Proletariat einzuschlagen. Durch die
Wechselwirkung mit der Salonwelt empfing das Pariser Zeitungsleben sein
besonderes Gepräge, dort gewann es jene vornehme Haltung, jene altfranzösische


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[0027] Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht ein Ragout läßt sich wieder warm machen, eine Schüssel mit fetter Leber kann einen ganzen Monat aushalten, ein Schinken kann seine Bewunderer wieder um sich versammeln, aber ein Zeitungsartikel hat nur den nächsten Tag. Man wirst ihn auf den Schreibtisch, wie man die Serviette auf den Tisch wirft, wenn man gespeist hat". — Mit dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreiches verliert die französische Presse die stolze, vornehme Haltung, die ihre besten Blätter bis dahin gewahrt hatten. Nicht eine einzige Zeitung ist zu nennen, die 1870 nicht in das Huronengeheul des Chauvinismus einstimmte, die nicht angefressen war von dem Wahne nationaler Selbstvergötterung, die den Mut hatte, den Tatsachen ehrlich ins Gesicht zu schauen. Aber auch in ihrem Niedergange ist die französiche Presse bis zum heutigen Tage eine nicht zu unterschätzende Macht, sie übt noch immer in dem Zeitungswesen der kleinen Staaten eine Herrschaft aus, wie ein Veteran unter Rekruten, sie ist noch immer wie keine andere eine europäische Lektüre. — Die Gründe für diese einzige Erscheinung liegen nicht bloß in der weiten Verbreitung der französischen Sprache, auch nicht in der verhältnismäßig großen Freiheit der französischen Presse, sondern in der ganzen Art ihrer Entwicklung und Ausbildung, die in innigster Wechselwirkung mit dem französischen Nationalcharakter steht. Man hat das französische Volk ein „psuple könne" genannt. Jedenfalls hat es mit der edlen Weiblichkeit die gewandte Zunge und die Lust am Plaudern gemeinsam. Der Franzose ist ein geborener Schauspieler, er ist auch ein geborener Journalist. Der Trieb dazu liegt im Blute. Von den alten Galliern erzählt Cäsar (Lommenwrii as bello (ZaUiLO 4. 3.) „Lst autem roe Oallieae eonsustuciinis, ut et viatoreg, etiam mviro3 con8i8lere coZant, et quoä qui8que eorum cke quaqus re auctierit eine coMoverit, quaerant, et mercatores in oppiäis volAU8 circum8l8tat. quibu8 ex reZionibu8 vsniant qua8qus re3 ibi cOMO- verint. pronuritiare coMt". Jene Gallier, welche die Reisenden anzu- halten und nach Neuigkeiten auszufragen pflegten, d. h. sie gewaltsam zu Journalisten preßten, sind die echten Stammväter der französischen Ansiedler in Louisiana, die von Zeit zu Zeit in die Stadt kamen, nur „um ein wenig zu plaudern", nämlich hundert und mehr Meilen zurücklegten, um in New-Orleans ihrem Drange nach geselliger Unterhaltung Genüge zu leisten. Aus diesem all¬ mächtigen Trieb zur Konversation erwuchs im Laufe des siebzehnten und acht¬ zehnten Jahrhunderts das Pariser Salonleben mit seiner feinen, geselligen Kultur, seinem Vergnügen an Witz und Geist. In den Salons fanden sich die Männer zusammen, die als Schriftleiter oder Mitarbeiter angesehener Zeitungen die öffentliche Meinung schufen. Ein im Salon geprägtes Witzwort wurde durch die Presse in Paris und Frankreich verbreitet und ging so für den Volksgeschmack nicht verloren. Eine Idee, die zündete, lief elektrisch durch alle Stände, um möglicherweise noch beim Proletariat einzuschlagen. Durch die Wechselwirkung mit der Salonwelt empfing das Pariser Zeitungsleben sein besonderes Gepräge, dort gewann es jene vornehme Haltung, jene altfranzösische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/27>, abgerufen am 22.12.2024.