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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Ueber Hccreszcchlcn alter und neuer Zeit

reicht. Selbst die Schlacht bei Mulden, die doch nur ein reichliches Jahrzehnt
zurückliegt, nimmt sich mit ihren rund 400000 Streitern auf jeder Seite und
einer Front, die ungefähr der Entfernung von Königsberg i. Pr. bis Gumbinnen
entspricht, neben der Schlachtfront von Riga bis Czcrnowitz beinahe winzig aus.
Über die Größe der einzelnen Heere und die Gesamtzahl der Kämpfer jetzt
irgendwelche Vermutungen anzustellen, ist müßig. Desgleichen geht es über den
Zweck des vorliegenden Aussatzes hinaus, aus der einzigartigen lriegsgeschichtlichen
Periode, an derem Ende vorläufig der gegenwärtige Krieg steht, eine leicht
aufzustellende Übersicht von Heereszahlen zu geben. Kurz erwähnt sei bloß,
daß auch unter ihnen gar manche schwanken, weil sie nicht sicher feststellbar
sind. So wissen wir bekanntlich von der Gesamtstärke der Heere, die Napoleon
der Dritte Anfang August 1870 den Deutschen entgegenführte, nur soviel gewiß,
daß sie nicht viel mehr als 300000 betrug, kennen aber keine genaue Ziffer,
Erst recht gehen die Berechnungen auseinander über die Größe der Heere, die
die französische Republik im Winter 1870/71 auf die Beine brachte. Mag
ferner die Angabe, daß die Truppenzahl der Verbündeten 1813 sich bis auf
860000 und die Napoleons auf 700000 belaufen habe, von vornherein als
übertrieben abzulehnen sein, nicht unwesentlich ist doch schon die Frage, ob in
der "großen Augustwoche" in den Heeren der Verbündeten 520000 oder 480000
und unter den Fahnen Napoleons 470000 oder 450000 auf deutschem Boden
gefochten haben. Von dem russischen Feldzuge des Jahres 1812 wird einer¬
seits behauptet, daß er Napoleon nachweislich 550000 Mann gekostet habe,
während andererseits berechnet worden ist, daß nur 450000 über die russische
Grenze gelangt sind. Nach Beendigung des russisch-japanischen Krieges wurde
in deutschen Büchern und Zeitschriften für die Schlacht bei Mulden die Zahl
der Streiter mit derselben Sicherheit zuerst auf 310000, dann auf etwa 400000
für jede Seite, und ein andermal auf 320000 Japaner und 330000 Russen
angegeben.

Solche Unterschiede sind verblüffend, werden aber begreiflich, wenn man
bedenkt, daß richtiges Zählen (nicht richtiges Zusammenzählen!) großer Mengen
eine schwierigere Sache ist als es scheint. Müssen doch die mit peinlicher
Sorgfalt vorbereiteten und durchgeführten Volkszählungen mit einer Fehlergrenze
von Tausenden, wahrscheinlich von Zehntausenden rechnen. Kein Wunder also,
wenn die Zählungen im Kriege ungenau ausfallen.

Noch mißlicher ist es, wenn die Heereszahlen auf Schätzung beruhen.
Große Massen selbst bei unbehinderter Übersicht annähernd richtig schätzen zu
können, setzt planmäßige Übung voraus; im Kriege ist es auch unter dieser
Voraussetzung unmöglich, sich von der Stärke des Gegners allein durch den
Augenschein eine richtige Vorstellung zu machen. Als 1829 die Russen 25000
Mann stark über den Balkan nach Adrianopel vordrangen, brachte ein zur
Aufklärung abgeschickter Offizier dem türkischen Befehlshaber die Meldung, man
könne eher die Blätter im Walde als die Köpfe im feindlichen Heer zählen.


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reicht. Selbst die Schlacht bei Mulden, die doch nur ein reichliches Jahrzehnt
zurückliegt, nimmt sich mit ihren rund 400000 Streitern auf jeder Seite und
einer Front, die ungefähr der Entfernung von Königsberg i. Pr. bis Gumbinnen
entspricht, neben der Schlachtfront von Riga bis Czcrnowitz beinahe winzig aus.
Über die Größe der einzelnen Heere und die Gesamtzahl der Kämpfer jetzt
irgendwelche Vermutungen anzustellen, ist müßig. Desgleichen geht es über den
Zweck des vorliegenden Aussatzes hinaus, aus der einzigartigen lriegsgeschichtlichen
Periode, an derem Ende vorläufig der gegenwärtige Krieg steht, eine leicht
aufzustellende Übersicht von Heereszahlen zu geben. Kurz erwähnt sei bloß,
daß auch unter ihnen gar manche schwanken, weil sie nicht sicher feststellbar
sind. So wissen wir bekanntlich von der Gesamtstärke der Heere, die Napoleon
der Dritte Anfang August 1870 den Deutschen entgegenführte, nur soviel gewiß,
daß sie nicht viel mehr als 300000 betrug, kennen aber keine genaue Ziffer,
Erst recht gehen die Berechnungen auseinander über die Größe der Heere, die
die französische Republik im Winter 1870/71 auf die Beine brachte. Mag
ferner die Angabe, daß die Truppenzahl der Verbündeten 1813 sich bis auf
860000 und die Napoleons auf 700000 belaufen habe, von vornherein als
übertrieben abzulehnen sein, nicht unwesentlich ist doch schon die Frage, ob in
der „großen Augustwoche" in den Heeren der Verbündeten 520000 oder 480000
und unter den Fahnen Napoleons 470000 oder 450000 auf deutschem Boden
gefochten haben. Von dem russischen Feldzuge des Jahres 1812 wird einer¬
seits behauptet, daß er Napoleon nachweislich 550000 Mann gekostet habe,
während andererseits berechnet worden ist, daß nur 450000 über die russische
Grenze gelangt sind. Nach Beendigung des russisch-japanischen Krieges wurde
in deutschen Büchern und Zeitschriften für die Schlacht bei Mulden die Zahl
der Streiter mit derselben Sicherheit zuerst auf 310000, dann auf etwa 400000
für jede Seite, und ein andermal auf 320000 Japaner und 330000 Russen
angegeben.

Solche Unterschiede sind verblüffend, werden aber begreiflich, wenn man
bedenkt, daß richtiges Zählen (nicht richtiges Zusammenzählen!) großer Mengen
eine schwierigere Sache ist als es scheint. Müssen doch die mit peinlicher
Sorgfalt vorbereiteten und durchgeführten Volkszählungen mit einer Fehlergrenze
von Tausenden, wahrscheinlich von Zehntausenden rechnen. Kein Wunder also,
wenn die Zählungen im Kriege ungenau ausfallen.

Noch mißlicher ist es, wenn die Heereszahlen auf Schätzung beruhen.
Große Massen selbst bei unbehinderter Übersicht annähernd richtig schätzen zu
können, setzt planmäßige Übung voraus; im Kriege ist es auch unter dieser
Voraussetzung unmöglich, sich von der Stärke des Gegners allein durch den
Augenschein eine richtige Vorstellung zu machen. Als 1829 die Russen 25000
Mann stark über den Balkan nach Adrianopel vordrangen, brachte ein zur
Aufklärung abgeschickter Offizier dem türkischen Befehlshaber die Meldung, man
könne eher die Blätter im Walde als die Köpfe im feindlichen Heer zählen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/227>, abgerufen am 28.07.2024.