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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Auslese der Begabten

wendig eigenartig sein und getrennt werden von der Unter- und Mittelstufe der
höheren Schulen. Dafür sollte die Mittelschule ausdrücklich in den Vordergrund
gerückt werden, ohne daß durch diese Trennung alle gegenseitigen Beziehungen
abgebrochen zu werden brauchen. Auf der Unterstufe kann ein Übergang von
einem zum anderen System noch ohne Schaden erlaubt werden unter Bedin¬
gungen, die der Begabte leicht erfüllen kann. Die beiden Bildungswege müssen
aber, soweit es sich um den Eintritt in das Berufsleben handelt, als relativ
gleichwertig und absolut gleichberechtigt gelten.

Wie soll die Auswahl, die verlangt werden muß, nun erfolgen? Soll sie
Zwangsauslese werden? Für manche Menschen ist die Zwangsauslese das
Pädagogische Evangelium der neuen Zeit. Der "Aufstieg" soll nur noch dem
Talente gestattet sein. d. h. dem Talente, das dafür gehalten wird. Der Sohn
des Ministers soll Arbeiter werden, wenn man ihn nicht als Begabten aus¬
gelesen hat, und der ausgelesene Sohn des Arbeiters wird gezwungen, sich
derjenigen Ausbildung zu unterwerfen, die ihn zu den höchsten Stellen führt.
So soll die Auslese gleichzeitig den sozialen Ausgleich herbeiführen und die
sogenannte Einheitsschule soll das Hilfsmittel werden. In ihr muß nach dem
Willen der Propheten jeder junge Deutsche ohne Ausnahme die ersten sechs
Jahre seiner Schulzeit zubringen, bis die Lehrer entschieden haben, ob er zu
den auserlesenen Begabten gehört, oder zu denen, die auch den Rest ihrer
Schulpflichttage in der Volksschule zu bleiben haben. Der Elternwille ist aus¬
geschaltet; denn der Staat hat dem Unbemittelten durch Stipendien den Aufstieg
zu ermöglichen. Die sozialen Gegensätze will man auf diese Weise aus der
Welt schaffen, übersieht dabei aber, daß sie durch die Schule künstlich von außen
her in die einzelnen Familien getragen werden. Man denkt auch nicht daran,
ob es denn immer ein reines Glück für den Heranwachsenden bedeutet, wenn
er eine Kluft sich auftun sieht zwischen den Lebenskreisen, in die man ihn stellt
und denen, in welchen seine Angehörigen bleiben. Und wer will endlich die
Verantwortung dafür tragen, ob die Auslese richtig war? Die vielseitig
Begabten, besonders die mit gutem Gedächtnis, die wegen ihrer Schulleistungen
auf den ersten Plätzen sitzen, leisten im Leben nicht immer am meisten. Sicher
gibt es auch unter ihnen solche, die halten, was sie versprachen; daß aber der viel
versprechende Musterabiturient nicht immer der erfolgreichste Student ist, weiß
jeder von der Hochschule her. Auf allen Altersstufen ist jede Auslese eine
gewagte Sache. Es sind auch nicht alle Lehrer zu einer solchen Auslese befähigt.
Eine völlige Aussonderung der viel versprechenden Jugendlichen erscheint deshalb
trotz allem, was dafür sprechen mag, untunlich in ihrem eigenen wie im
allgemeinen Interesse. Das hindert nicht, auftauchende Talente nach Möglichkeit
M fördern, und dazu soll der Staat in freigiebigster Weise Mittel zur Ver¬
fügung stellen.

Die Theoretiker der Zwangsauslese übersehen auch gänzlich die Abhängigkeit
der geistigen Entwicklung von Vererbung und Umgebung. Solange sie nicht


Die Auslese der Begabten

wendig eigenartig sein und getrennt werden von der Unter- und Mittelstufe der
höheren Schulen. Dafür sollte die Mittelschule ausdrücklich in den Vordergrund
gerückt werden, ohne daß durch diese Trennung alle gegenseitigen Beziehungen
abgebrochen zu werden brauchen. Auf der Unterstufe kann ein Übergang von
einem zum anderen System noch ohne Schaden erlaubt werden unter Bedin¬
gungen, die der Begabte leicht erfüllen kann. Die beiden Bildungswege müssen
aber, soweit es sich um den Eintritt in das Berufsleben handelt, als relativ
gleichwertig und absolut gleichberechtigt gelten.

Wie soll die Auswahl, die verlangt werden muß, nun erfolgen? Soll sie
Zwangsauslese werden? Für manche Menschen ist die Zwangsauslese das
Pädagogische Evangelium der neuen Zeit. Der „Aufstieg" soll nur noch dem
Talente gestattet sein. d. h. dem Talente, das dafür gehalten wird. Der Sohn
des Ministers soll Arbeiter werden, wenn man ihn nicht als Begabten aus¬
gelesen hat, und der ausgelesene Sohn des Arbeiters wird gezwungen, sich
derjenigen Ausbildung zu unterwerfen, die ihn zu den höchsten Stellen führt.
So soll die Auslese gleichzeitig den sozialen Ausgleich herbeiführen und die
sogenannte Einheitsschule soll das Hilfsmittel werden. In ihr muß nach dem
Willen der Propheten jeder junge Deutsche ohne Ausnahme die ersten sechs
Jahre seiner Schulzeit zubringen, bis die Lehrer entschieden haben, ob er zu
den auserlesenen Begabten gehört, oder zu denen, die auch den Rest ihrer
Schulpflichttage in der Volksschule zu bleiben haben. Der Elternwille ist aus¬
geschaltet; denn der Staat hat dem Unbemittelten durch Stipendien den Aufstieg
zu ermöglichen. Die sozialen Gegensätze will man auf diese Weise aus der
Welt schaffen, übersieht dabei aber, daß sie durch die Schule künstlich von außen
her in die einzelnen Familien getragen werden. Man denkt auch nicht daran,
ob es denn immer ein reines Glück für den Heranwachsenden bedeutet, wenn
er eine Kluft sich auftun sieht zwischen den Lebenskreisen, in die man ihn stellt
und denen, in welchen seine Angehörigen bleiben. Und wer will endlich die
Verantwortung dafür tragen, ob die Auslese richtig war? Die vielseitig
Begabten, besonders die mit gutem Gedächtnis, die wegen ihrer Schulleistungen
auf den ersten Plätzen sitzen, leisten im Leben nicht immer am meisten. Sicher
gibt es auch unter ihnen solche, die halten, was sie versprachen; daß aber der viel
versprechende Musterabiturient nicht immer der erfolgreichste Student ist, weiß
jeder von der Hochschule her. Auf allen Altersstufen ist jede Auslese eine
gewagte Sache. Es sind auch nicht alle Lehrer zu einer solchen Auslese befähigt.
Eine völlige Aussonderung der viel versprechenden Jugendlichen erscheint deshalb
trotz allem, was dafür sprechen mag, untunlich in ihrem eigenen wie im
allgemeinen Interesse. Das hindert nicht, auftauchende Talente nach Möglichkeit
M fördern, und dazu soll der Staat in freigiebigster Weise Mittel zur Ver¬
fügung stellen.

Die Theoretiker der Zwangsauslese übersehen auch gänzlich die Abhängigkeit
der geistigen Entwicklung von Vererbung und Umgebung. Solange sie nicht


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[0183] Die Auslese der Begabten wendig eigenartig sein und getrennt werden von der Unter- und Mittelstufe der höheren Schulen. Dafür sollte die Mittelschule ausdrücklich in den Vordergrund gerückt werden, ohne daß durch diese Trennung alle gegenseitigen Beziehungen abgebrochen zu werden brauchen. Auf der Unterstufe kann ein Übergang von einem zum anderen System noch ohne Schaden erlaubt werden unter Bedin¬ gungen, die der Begabte leicht erfüllen kann. Die beiden Bildungswege müssen aber, soweit es sich um den Eintritt in das Berufsleben handelt, als relativ gleichwertig und absolut gleichberechtigt gelten. Wie soll die Auswahl, die verlangt werden muß, nun erfolgen? Soll sie Zwangsauslese werden? Für manche Menschen ist die Zwangsauslese das Pädagogische Evangelium der neuen Zeit. Der „Aufstieg" soll nur noch dem Talente gestattet sein. d. h. dem Talente, das dafür gehalten wird. Der Sohn des Ministers soll Arbeiter werden, wenn man ihn nicht als Begabten aus¬ gelesen hat, und der ausgelesene Sohn des Arbeiters wird gezwungen, sich derjenigen Ausbildung zu unterwerfen, die ihn zu den höchsten Stellen führt. So soll die Auslese gleichzeitig den sozialen Ausgleich herbeiführen und die sogenannte Einheitsschule soll das Hilfsmittel werden. In ihr muß nach dem Willen der Propheten jeder junge Deutsche ohne Ausnahme die ersten sechs Jahre seiner Schulzeit zubringen, bis die Lehrer entschieden haben, ob er zu den auserlesenen Begabten gehört, oder zu denen, die auch den Rest ihrer Schulpflichttage in der Volksschule zu bleiben haben. Der Elternwille ist aus¬ geschaltet; denn der Staat hat dem Unbemittelten durch Stipendien den Aufstieg zu ermöglichen. Die sozialen Gegensätze will man auf diese Weise aus der Welt schaffen, übersieht dabei aber, daß sie durch die Schule künstlich von außen her in die einzelnen Familien getragen werden. Man denkt auch nicht daran, ob es denn immer ein reines Glück für den Heranwachsenden bedeutet, wenn er eine Kluft sich auftun sieht zwischen den Lebenskreisen, in die man ihn stellt und denen, in welchen seine Angehörigen bleiben. Und wer will endlich die Verantwortung dafür tragen, ob die Auslese richtig war? Die vielseitig Begabten, besonders die mit gutem Gedächtnis, die wegen ihrer Schulleistungen auf den ersten Plätzen sitzen, leisten im Leben nicht immer am meisten. Sicher gibt es auch unter ihnen solche, die halten, was sie versprachen; daß aber der viel versprechende Musterabiturient nicht immer der erfolgreichste Student ist, weiß jeder von der Hochschule her. Auf allen Altersstufen ist jede Auslese eine gewagte Sache. Es sind auch nicht alle Lehrer zu einer solchen Auslese befähigt. Eine völlige Aussonderung der viel versprechenden Jugendlichen erscheint deshalb trotz allem, was dafür sprechen mag, untunlich in ihrem eigenen wie im allgemeinen Interesse. Das hindert nicht, auftauchende Talente nach Möglichkeit M fördern, und dazu soll der Staat in freigiebigster Weise Mittel zur Ver¬ fügung stellen. Die Theoretiker der Zwangsauslese übersehen auch gänzlich die Abhängigkeit der geistigen Entwicklung von Vererbung und Umgebung. Solange sie nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/183>, abgerufen am 01.09.2024.