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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Auslese der Begabte"

Hier muß die Reform für die Auslese einsetzen. Vor wenigen Jahren ist
die alte Mittelschule einer durchgreifenden Erneuerung unterzogen worden. Di?
Entwicklung auf dem Gebiete des Handwerks, des Kunstgewerbes, des Handels
und der Industrie hatte sie notwendig gemacht. Dadurch ist eine neue moderne
Schulgattung entstanden, die heute bereits gegen 200 Anstalten mit etwa
100 000 Schülern umfaßt. Entsprechende Schulen sind für Mädchen gegründet
worden. Der vortreffliche Lehrplan dieser Schulen, der in weiser Beschränkung
grundsätzlich den Unterricht in nur einer Fremdsprache vorsieht, nimmt nach
Möglichkeit auf die Bedürfnisse des praktischen Berufslebens Rücksicht. Was
die Volksschule auch in ihrer entwickeltsten Gestaltung wegen der mannigfachen
Schwierigkeiten, unter denen sie als allgemeine Pflichtschule arbeitet, nicht zu
leisten vermag, kann die neue Mittelschule leisten. Das hat seinen Grund
einmal in der durch Verlängerung des Schulbesuches um ein Jahr erheblich
höheren Reife des Schülers, aber auch in der geringeren Schülerzahl einer Klasse
und in den der Schularbeit günstigeren häuslichen Verhältnissen der Schüler. Die
Schule schließt mit sechs aufsteigenden Klassen an die dritte Volksschulklasse an und
entläßt die Kinder mit dem vollendeten fünfzehnten Lebensjahre. Unter grund¬
sätzlicher Vermeidung auch des Scheines wissenschaftlichen Betriebes macht sie
ihre Schüler in ihrem Lebenskreise heimisch und befähigt sie, sich in ihrem
späteren Berufe zurechtzufinden. Diese Mittelschule ist diejenige Organisation,
welche die Auslese der Begabten und Tüchtigen schon im jugendlichen Alter
treffen kann.

Die höhere Schule ist in keiner ihrer Formen zu dieser Aufgabe befähigt.
Ihre Ziele liegen ausschließlich auf der wissenschaftlichen Seite; denn sie soll
die Vorschule für Hochschulstudien sein. Aber auch aus anderen Gründen kann
sie für eine Auslese nicht in Betracht kommen. Der Versuch einer solchen Aus¬
lese wird nur unter den Kindern der Bevölkerungsschichten gemacht werden
können, bei denen man nicht die genügende Einsicht und das zutreffende Urteil
erwarten kann, um die hinreichend Begabten und Tüchtigen zu erkennen und
sachgemäß zu fördern. Mit diesen Bevölkerungsschichten kommt aber die höhere
Schule in keinerlei Berührung. Ihre Schüler treten in die unterste Klasse ein
mit der Absicht "zu studieren" und lassen diesen Plan im Laufe der Schulzeit
nur deshalb fallen, weil sie einsehen müssen, daß ihre Kräfte nicht ausreichen.
Sie lassen sich auch nicht "auslesen"; denn ihre Eltern entscheiden selbständig
über ihre Zukunft und lehnen unerbetenen Rat entschieden ab. Selbst ihren
wenig begabten Kindern ist der Weg nach oben in den meisten Fällen schon
durch die soziale Stellung, oder die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern
leichter geebnet. Sie brauchen nur ihre, wenn auch mühsam erworbenen,
Kenntnisse zu beweisen, oder werden durchgepreßt mit allerlei Hilfsmitteln, die
sich begüterte Leute verschaffen können. Deshalb macht man, in der absichtlich
betonten Allgemeinheit freilich mit Unrecht, den höheren Schulen gar oft den
Vorwurf, sie seien das Monopol der Reichen. Daß es nicht so ist, dafür ist


Die Auslese der Begabte»

Hier muß die Reform für die Auslese einsetzen. Vor wenigen Jahren ist
die alte Mittelschule einer durchgreifenden Erneuerung unterzogen worden. Di?
Entwicklung auf dem Gebiete des Handwerks, des Kunstgewerbes, des Handels
und der Industrie hatte sie notwendig gemacht. Dadurch ist eine neue moderne
Schulgattung entstanden, die heute bereits gegen 200 Anstalten mit etwa
100 000 Schülern umfaßt. Entsprechende Schulen sind für Mädchen gegründet
worden. Der vortreffliche Lehrplan dieser Schulen, der in weiser Beschränkung
grundsätzlich den Unterricht in nur einer Fremdsprache vorsieht, nimmt nach
Möglichkeit auf die Bedürfnisse des praktischen Berufslebens Rücksicht. Was
die Volksschule auch in ihrer entwickeltsten Gestaltung wegen der mannigfachen
Schwierigkeiten, unter denen sie als allgemeine Pflichtschule arbeitet, nicht zu
leisten vermag, kann die neue Mittelschule leisten. Das hat seinen Grund
einmal in der durch Verlängerung des Schulbesuches um ein Jahr erheblich
höheren Reife des Schülers, aber auch in der geringeren Schülerzahl einer Klasse
und in den der Schularbeit günstigeren häuslichen Verhältnissen der Schüler. Die
Schule schließt mit sechs aufsteigenden Klassen an die dritte Volksschulklasse an und
entläßt die Kinder mit dem vollendeten fünfzehnten Lebensjahre. Unter grund¬
sätzlicher Vermeidung auch des Scheines wissenschaftlichen Betriebes macht sie
ihre Schüler in ihrem Lebenskreise heimisch und befähigt sie, sich in ihrem
späteren Berufe zurechtzufinden. Diese Mittelschule ist diejenige Organisation,
welche die Auslese der Begabten und Tüchtigen schon im jugendlichen Alter
treffen kann.

Die höhere Schule ist in keiner ihrer Formen zu dieser Aufgabe befähigt.
Ihre Ziele liegen ausschließlich auf der wissenschaftlichen Seite; denn sie soll
die Vorschule für Hochschulstudien sein. Aber auch aus anderen Gründen kann
sie für eine Auslese nicht in Betracht kommen. Der Versuch einer solchen Aus¬
lese wird nur unter den Kindern der Bevölkerungsschichten gemacht werden
können, bei denen man nicht die genügende Einsicht und das zutreffende Urteil
erwarten kann, um die hinreichend Begabten und Tüchtigen zu erkennen und
sachgemäß zu fördern. Mit diesen Bevölkerungsschichten kommt aber die höhere
Schule in keinerlei Berührung. Ihre Schüler treten in die unterste Klasse ein
mit der Absicht „zu studieren" und lassen diesen Plan im Laufe der Schulzeit
nur deshalb fallen, weil sie einsehen müssen, daß ihre Kräfte nicht ausreichen.
Sie lassen sich auch nicht „auslesen"; denn ihre Eltern entscheiden selbständig
über ihre Zukunft und lehnen unerbetenen Rat entschieden ab. Selbst ihren
wenig begabten Kindern ist der Weg nach oben in den meisten Fällen schon
durch die soziale Stellung, oder die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern
leichter geebnet. Sie brauchen nur ihre, wenn auch mühsam erworbenen,
Kenntnisse zu beweisen, oder werden durchgepreßt mit allerlei Hilfsmitteln, die
sich begüterte Leute verschaffen können. Deshalb macht man, in der absichtlich
betonten Allgemeinheit freilich mit Unrecht, den höheren Schulen gar oft den
Vorwurf, sie seien das Monopol der Reichen. Daß es nicht so ist, dafür ist


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[0180] Die Auslese der Begabte» Hier muß die Reform für die Auslese einsetzen. Vor wenigen Jahren ist die alte Mittelschule einer durchgreifenden Erneuerung unterzogen worden. Di? Entwicklung auf dem Gebiete des Handwerks, des Kunstgewerbes, des Handels und der Industrie hatte sie notwendig gemacht. Dadurch ist eine neue moderne Schulgattung entstanden, die heute bereits gegen 200 Anstalten mit etwa 100 000 Schülern umfaßt. Entsprechende Schulen sind für Mädchen gegründet worden. Der vortreffliche Lehrplan dieser Schulen, der in weiser Beschränkung grundsätzlich den Unterricht in nur einer Fremdsprache vorsieht, nimmt nach Möglichkeit auf die Bedürfnisse des praktischen Berufslebens Rücksicht. Was die Volksschule auch in ihrer entwickeltsten Gestaltung wegen der mannigfachen Schwierigkeiten, unter denen sie als allgemeine Pflichtschule arbeitet, nicht zu leisten vermag, kann die neue Mittelschule leisten. Das hat seinen Grund einmal in der durch Verlängerung des Schulbesuches um ein Jahr erheblich höheren Reife des Schülers, aber auch in der geringeren Schülerzahl einer Klasse und in den der Schularbeit günstigeren häuslichen Verhältnissen der Schüler. Die Schule schließt mit sechs aufsteigenden Klassen an die dritte Volksschulklasse an und entläßt die Kinder mit dem vollendeten fünfzehnten Lebensjahre. Unter grund¬ sätzlicher Vermeidung auch des Scheines wissenschaftlichen Betriebes macht sie ihre Schüler in ihrem Lebenskreise heimisch und befähigt sie, sich in ihrem späteren Berufe zurechtzufinden. Diese Mittelschule ist diejenige Organisation, welche die Auslese der Begabten und Tüchtigen schon im jugendlichen Alter treffen kann. Die höhere Schule ist in keiner ihrer Formen zu dieser Aufgabe befähigt. Ihre Ziele liegen ausschließlich auf der wissenschaftlichen Seite; denn sie soll die Vorschule für Hochschulstudien sein. Aber auch aus anderen Gründen kann sie für eine Auslese nicht in Betracht kommen. Der Versuch einer solchen Aus¬ lese wird nur unter den Kindern der Bevölkerungsschichten gemacht werden können, bei denen man nicht die genügende Einsicht und das zutreffende Urteil erwarten kann, um die hinreichend Begabten und Tüchtigen zu erkennen und sachgemäß zu fördern. Mit diesen Bevölkerungsschichten kommt aber die höhere Schule in keinerlei Berührung. Ihre Schüler treten in die unterste Klasse ein mit der Absicht „zu studieren" und lassen diesen Plan im Laufe der Schulzeit nur deshalb fallen, weil sie einsehen müssen, daß ihre Kräfte nicht ausreichen. Sie lassen sich auch nicht „auslesen"; denn ihre Eltern entscheiden selbständig über ihre Zukunft und lehnen unerbetenen Rat entschieden ab. Selbst ihren wenig begabten Kindern ist der Weg nach oben in den meisten Fällen schon durch die soziale Stellung, oder die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern leichter geebnet. Sie brauchen nur ihre, wenn auch mühsam erworbenen, Kenntnisse zu beweisen, oder werden durchgepreßt mit allerlei Hilfsmitteln, die sich begüterte Leute verschaffen können. Deshalb macht man, in der absichtlich betonten Allgemeinheit freilich mit Unrecht, den höheren Schulen gar oft den Vorwurf, sie seien das Monopol der Reichen. Daß es nicht so ist, dafür ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/180>, abgerufen am 02.09.2024.