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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Auslose der Begabten

des Lateinischen zu einem trennenden Walle zwischen den Schichten der akademisch
Gebildeten und der anderen Welt ausgewachsen. Soziale Vorurteile traten nun
an die Stelle jener ersten Gründe. Und deshalb wurde auch fernerhin das
Studium des Lateinischen an den höheren Schulen für das erste unterscheidende
Merkmal der höheren Schule von der Volksschule gehalten. Diejenigen aber,
denen es oblag, seine Beibehaltung an den Gelehrtenschulen zu verteidigen, er¬
fanden die Illusion, als ob dem Studium gerade dieser Sprache eine sonderliche
Kraft innewohne, "formale Bildung", d. h. eine Bildung ohne Rücksicht auf
den Inhalt, zu fördern. Diese Ansicht ist durch die Psychologie, durch das
Zeugnis urteilsfähiger Personen und durch reiche Erfahrung längst als Irrtum
erkannt. Und dennoch ist das alte Standesvorurteil in seinem ganzen Umfange
geblieben und hat dem Gymnasium eine unberechtigte Ausnahmestellung ver¬
schafft, gegen die bis zur Stunde keine andere Schule aufkommen konnte. Das
beginnende 19. Jahrhundert hatte als schädigenden Fremdkörper das Be¬
rechtigungswesen in die höhere Schule gebracht, und das Gymnasium wurde
der Träger des Berechtigungsmonopoles. Dadurch erhielt es im Urteile der
herrschenden Volksschichten das Ansehen "der höheren Bildungsanstalt". Das
19. Jahrhundert stellte aber neben das Gymnasium andere höhere Schulen,
deren Lehrpläne dem Gegenwartsleben gebührende Rechnung trugen. Standes-
vorurteile hinderten aber ihr Aufblühen und drückten sie zu Schulen niederen
Grades herab. So wurden diese modernen höheren Schulen um ihrer Existenz
willen gegen Ende des Jahrhunderts zur Aufnahme eines Kampfes gegen das
Berechtigungsmonopol des Gymnasiums gezwungen, der vier Jahrzehnte mit
außerordentlicher Erbitterung auf beiden Seiten geführt und erst durch den kaiser¬
lichen Erlaß vom Jahre 1906 beendet wurde, der die neunklassigen Realanstalten
dem Gymnasium für gleichwertig und im wesentlichen gleichberechtigt erklärte.

Gleichzeitig mit diesen Vorgängen, und teilweise parallel mit ihnen spielte
sich Ähnliches bei einer anderen Schulgattung ab. Die im beginnenden
19. Jahrhundert entstandenen Realschulen sollten ursprünglich die Bildungs¬
stätten der in praktischen Berufsarten tätigen Bürger werden, die zur Aus¬
übung ihres Berufes wohl eine tiefer und breiter angelegte, aber nicht eine
gelehrte Bildung nötig hatten. Standesvorurteile und der Mangel an Be¬
rechtigungen hatten ihnen aber die Lebensadern unterbunden, so daß sie genötigt
wurden, jenen Existenzkampf mit den herrschenden Vorurteilen aufzunehmen. Wenn
sie auch siegten, so ging dieser Kampf doch nicht spurlos an ihnenvorüber. Sie mußten
ihre Eigenart aufgeben und sich mehr und mehr der Gelehrtenschule anpassen. Die
Realschule wurde dadurch selbst zur Gelehrtenschule, zur humanistischen Bildungs¬
anstalt und Vorschule für fachwissenschaftliche Studien. Damit verloren aber die
praktischen Berufsstände ihre Berufsbildungsanstalten wieder und waren aufs
neue gezwungen, sich mit dem für sie gänzlich ungeeigneten und zwecklos zett¬
raubenden Aufenthalte in den Unter- und Mittelklassen der höheren Lehr¬
anstalten abzufinden. Der Mangel an einer geeigneten Schule für diese breiten


Die Auslose der Begabten

des Lateinischen zu einem trennenden Walle zwischen den Schichten der akademisch
Gebildeten und der anderen Welt ausgewachsen. Soziale Vorurteile traten nun
an die Stelle jener ersten Gründe. Und deshalb wurde auch fernerhin das
Studium des Lateinischen an den höheren Schulen für das erste unterscheidende
Merkmal der höheren Schule von der Volksschule gehalten. Diejenigen aber,
denen es oblag, seine Beibehaltung an den Gelehrtenschulen zu verteidigen, er¬
fanden die Illusion, als ob dem Studium gerade dieser Sprache eine sonderliche
Kraft innewohne, „formale Bildung", d. h. eine Bildung ohne Rücksicht auf
den Inhalt, zu fördern. Diese Ansicht ist durch die Psychologie, durch das
Zeugnis urteilsfähiger Personen und durch reiche Erfahrung längst als Irrtum
erkannt. Und dennoch ist das alte Standesvorurteil in seinem ganzen Umfange
geblieben und hat dem Gymnasium eine unberechtigte Ausnahmestellung ver¬
schafft, gegen die bis zur Stunde keine andere Schule aufkommen konnte. Das
beginnende 19. Jahrhundert hatte als schädigenden Fremdkörper das Be¬
rechtigungswesen in die höhere Schule gebracht, und das Gymnasium wurde
der Träger des Berechtigungsmonopoles. Dadurch erhielt es im Urteile der
herrschenden Volksschichten das Ansehen „der höheren Bildungsanstalt". Das
19. Jahrhundert stellte aber neben das Gymnasium andere höhere Schulen,
deren Lehrpläne dem Gegenwartsleben gebührende Rechnung trugen. Standes-
vorurteile hinderten aber ihr Aufblühen und drückten sie zu Schulen niederen
Grades herab. So wurden diese modernen höheren Schulen um ihrer Existenz
willen gegen Ende des Jahrhunderts zur Aufnahme eines Kampfes gegen das
Berechtigungsmonopol des Gymnasiums gezwungen, der vier Jahrzehnte mit
außerordentlicher Erbitterung auf beiden Seiten geführt und erst durch den kaiser¬
lichen Erlaß vom Jahre 1906 beendet wurde, der die neunklassigen Realanstalten
dem Gymnasium für gleichwertig und im wesentlichen gleichberechtigt erklärte.

Gleichzeitig mit diesen Vorgängen, und teilweise parallel mit ihnen spielte
sich Ähnliches bei einer anderen Schulgattung ab. Die im beginnenden
19. Jahrhundert entstandenen Realschulen sollten ursprünglich die Bildungs¬
stätten der in praktischen Berufsarten tätigen Bürger werden, die zur Aus¬
übung ihres Berufes wohl eine tiefer und breiter angelegte, aber nicht eine
gelehrte Bildung nötig hatten. Standesvorurteile und der Mangel an Be¬
rechtigungen hatten ihnen aber die Lebensadern unterbunden, so daß sie genötigt
wurden, jenen Existenzkampf mit den herrschenden Vorurteilen aufzunehmen. Wenn
sie auch siegten, so ging dieser Kampf doch nicht spurlos an ihnenvorüber. Sie mußten
ihre Eigenart aufgeben und sich mehr und mehr der Gelehrtenschule anpassen. Die
Realschule wurde dadurch selbst zur Gelehrtenschule, zur humanistischen Bildungs¬
anstalt und Vorschule für fachwissenschaftliche Studien. Damit verloren aber die
praktischen Berufsstände ihre Berufsbildungsanstalten wieder und waren aufs
neue gezwungen, sich mit dem für sie gänzlich ungeeigneten und zwecklos zett¬
raubenden Aufenthalte in den Unter- und Mittelklassen der höheren Lehr¬
anstalten abzufinden. Der Mangel an einer geeigneten Schule für diese breiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/178>, abgerufen am 28.07.2024.