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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Der Ruf nach einem neuen Bismarck

zeichneten Urteutonen in Kanonenstiefeln, der als "Realpolitiker" immer nur
Macht-, nie Menschheitsfragen sieht, inmitten einer reichen und vielgestaltigen
Kulturwelt sich gebürdet, als sei er allein auf weiter Flur. Der wirkliche
Bismarck hatte vielleicht einige Mängel in der Richtung dieser Karrikatur.
Seinem eigentlichen Wesen nach aber war er sehr anders. Insbesondere war
seine Diplomatie weit öfter fein und leise als grob und laut, und seine Politik
hat sich fast immer von der und jener Seite den Vorwurf zu großer Mäßigung
machen lassen müssen. Der Friedensschluß von 1866 genügte, weil er Öster¬
reich, Sachsen und Bayern zu sehr schonte, bekanntlich dem König nicht. Ähnlich
tadelte man in Militärkreisen den Frieden voll 1871, während der Kanzler
selbst hier doch schon das Gefühl hatte, "mehr erreicht zu haben, als nützlich
sei". Später hat man ihn falscher Rücksichten gegen Rußland, auch gegen
England beschuldigt; und Frankreich ist er vielleicht wirklich in den Kolonial¬
fragen lange Zeit zu weit entgegengekommen. Ein Eisenfresser war der eiserne
Kanzler nicht. Niemand wußte besser, daß Politik die Kunst des Möglichen
sei und also nicht nur in Fordern, sondern auch in Nachgeben bestehe.

Was er jetzt tun würde, ist eine müßige Frage. Würde er Frankreich
gegenüber das berühmte saiZner ü blanc in Anwendung bringen, würde er
Rußland eine Amputation zumuten, die im Verhältnis seiner ungeheueren Aus¬
dehnung wäre, oder den Kampf gegen England als auf Leben und Tod auf¬
fassen ? Ich zweifle nicht, daß sich für die Bejahung jeder dieser Fragen aus seinen
Reden und Schriften Stellen anführen ließen. Denn aus den Reden und Schriften
eines Mannes, der viel geredet und geschrieben hat, oft aus vorübergehenden Ein¬
drücken heraus, läßt sich mit einigem dialektischen Geschick alles beweisen. Aber
eben deshalb beweist das Bewiesene nichts. Auch will eine neue Zeit neue
Männer und neue Rezepte. Als man 1814 daran ging, das Ergebnis aus
den Befreiungskriegen zu ziehen, war es ein Glück, daß die Rezepte Friedrichs
des Großen, der immer nur Sachsen begehrt und die Rheinlande gering ge¬
schätzt hatte, schließlich nicht zur Anwendung kamen.

Gerade die Erinnerung an die Zeit vor hundert Jahren aber ist über¬
haupt lehrreich. Die Entwicklung in den Einheitskriegen 1864--1871 knüpft
an einige wenige große Männer an: Kaiser Wilhelm. Bismarck, Moltke, Roon.
In den Befreiungskriegen gab es gewiß auch glänzende Persönlichkeiten, aber
als ihr Held erscheint in der Überlieferung doch mehr das Volk selbst. Heute
sehen wir das in noch höherem Maß. Die eigentlichen Träger des heroischen
Ringens, in dem wir stehen, bilden die großen Massen. Das besagt nicht,
daß Persönlichkeiten fehlen, daß es schlecht um die Führung bestellt sei. Die
militärische Führung erkennt ja auch jeder an. Dürfen wir in die politische
nicht dasselbe Vertrauen haben?

Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wollte man nicht sehen, daß
gerade in manchen Kreisen, die bisher für einflußreich galten, eine gewisse Un¬
zufriedenheit Nut dem gegenwärtigen Reichskanzler herrscht. Sie halten ihn


Der Ruf nach einem neuen Bismarck

zeichneten Urteutonen in Kanonenstiefeln, der als „Realpolitiker" immer nur
Macht-, nie Menschheitsfragen sieht, inmitten einer reichen und vielgestaltigen
Kulturwelt sich gebürdet, als sei er allein auf weiter Flur. Der wirkliche
Bismarck hatte vielleicht einige Mängel in der Richtung dieser Karrikatur.
Seinem eigentlichen Wesen nach aber war er sehr anders. Insbesondere war
seine Diplomatie weit öfter fein und leise als grob und laut, und seine Politik
hat sich fast immer von der und jener Seite den Vorwurf zu großer Mäßigung
machen lassen müssen. Der Friedensschluß von 1866 genügte, weil er Öster¬
reich, Sachsen und Bayern zu sehr schonte, bekanntlich dem König nicht. Ähnlich
tadelte man in Militärkreisen den Frieden voll 1871, während der Kanzler
selbst hier doch schon das Gefühl hatte, „mehr erreicht zu haben, als nützlich
sei". Später hat man ihn falscher Rücksichten gegen Rußland, auch gegen
England beschuldigt; und Frankreich ist er vielleicht wirklich in den Kolonial¬
fragen lange Zeit zu weit entgegengekommen. Ein Eisenfresser war der eiserne
Kanzler nicht. Niemand wußte besser, daß Politik die Kunst des Möglichen
sei und also nicht nur in Fordern, sondern auch in Nachgeben bestehe.

Was er jetzt tun würde, ist eine müßige Frage. Würde er Frankreich
gegenüber das berühmte saiZner ü blanc in Anwendung bringen, würde er
Rußland eine Amputation zumuten, die im Verhältnis seiner ungeheueren Aus¬
dehnung wäre, oder den Kampf gegen England als auf Leben und Tod auf¬
fassen ? Ich zweifle nicht, daß sich für die Bejahung jeder dieser Fragen aus seinen
Reden und Schriften Stellen anführen ließen. Denn aus den Reden und Schriften
eines Mannes, der viel geredet und geschrieben hat, oft aus vorübergehenden Ein¬
drücken heraus, läßt sich mit einigem dialektischen Geschick alles beweisen. Aber
eben deshalb beweist das Bewiesene nichts. Auch will eine neue Zeit neue
Männer und neue Rezepte. Als man 1814 daran ging, das Ergebnis aus
den Befreiungskriegen zu ziehen, war es ein Glück, daß die Rezepte Friedrichs
des Großen, der immer nur Sachsen begehrt und die Rheinlande gering ge¬
schätzt hatte, schließlich nicht zur Anwendung kamen.

Gerade die Erinnerung an die Zeit vor hundert Jahren aber ist über¬
haupt lehrreich. Die Entwicklung in den Einheitskriegen 1864—1871 knüpft
an einige wenige große Männer an: Kaiser Wilhelm. Bismarck, Moltke, Roon.
In den Befreiungskriegen gab es gewiß auch glänzende Persönlichkeiten, aber
als ihr Held erscheint in der Überlieferung doch mehr das Volk selbst. Heute
sehen wir das in noch höherem Maß. Die eigentlichen Träger des heroischen
Ringens, in dem wir stehen, bilden die großen Massen. Das besagt nicht,
daß Persönlichkeiten fehlen, daß es schlecht um die Führung bestellt sei. Die
militärische Führung erkennt ja auch jeder an. Dürfen wir in die politische
nicht dasselbe Vertrauen haben?

Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wollte man nicht sehen, daß
gerade in manchen Kreisen, die bisher für einflußreich galten, eine gewisse Un¬
zufriedenheit Nut dem gegenwärtigen Reichskanzler herrscht. Sie halten ihn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/174>, abgerufen am 01.09.2024.