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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Treitschke in englischer Beleuchtung

unbescheiden sei in einer Zeit, wo Frankreich das marokkanische Riesenretch
einsteckte, England, nachdem es kaum die ruchlos vernichteten Burenstaaten
verdaut hat, in Vordersten die phantastischsten Expansionspläne betreibt und
im Einvernehmen mit Rußland das unabhängige Persien in "Einflußsphären"
zerlegt -- und all dies, obschon jene Staaten schon weltumspannende Kolonial¬
reiche besitzen, neben denen sich unsere Besitzungen zwergenhaft genug ausnehmen.
McCabe zitiert sechs Seiten, um zu beweisen, daß schon Treitschke jene in den
Augen eines echten Briten ganz frevelhaften Bestrebungen geteilt und verfochten
hat. Wir wissen es und rechnen es ihm zur Ehre an.

Der weitaus längste Teil des betreffenden Kapitels handelt aber nicht von
Impsnal expansion, sondern von moral laxv. Denn es gehört ja zum
System der britischen Weltbearbeitung, gehüllt in den Mantel fleckenloser Tugend¬
haftigkeit den Abscheu der zivilisierten Welt gegen Deutschlands absolut moralin¬
freie Politik und Kriegführung zu erregen und für die letztere einen geistigen
Urheber ausfindig zu machen.

Das dafür geeignete Objekt heißt im allgemeinen Nietzsche; in unserem
Buch muß es aber natürlich Treitschke sein, und auch das laßt sich beweisen.
Wenn man die Arcklageredensarten vorher gelesen hätte, müßte man Entsetzliches
erwarten. Was finden wir? Treischke verteidigt das Recht einer besonderen,
von der Jndividualmoral verschiedenen, der Natur des Staates angemessenen
Sittlichkeit -- eine Frage, die gewiß diskutabel ist, bei der er aber, soviel ist
ganz sicher, jedenfalls die Praxis aller Zeiten und Völker, ganz besonders
des englischen Volks, für sich hat. Er legt ferner eine Lanze für Machia-
velli ein, indem er ihn, ganz wie Ranke und H. Baumgarten, historisch zu
verstehen sucht, und erregt dadurch das Entsetzen (amA?Lenert) des erschröcklich
tugendhaften Herrn McCabe. dessen Landsleuten bekanntlich aller Machiavellis-
mus jederzeit ein Greuel war -- in der Theorie I Ausgehend von seinem
Kernsatze, daß der Staat Macht sei -- den übrigens in dieser Ausschließlichkeit
kein namhafter Staatsrechtslehrer vertritt -- entschuldigt er Gewaltsamkeiten
gegenüber wilden Völkern, wie sie die Engländer gegenüber aufständischen
Hindus anwandten -- die allerdings kein wildes Volk sind; aber die gemüt¬
vollen Erfinder der Dumdumlugeln, der Konzentrationslager und des Aus'
Hungerungskrieges brauchen das ja nicht so genau zu nehmen. Wir werden
schwerlich Treitschkes Ansicht hier billigen; McCabe findet in ihr "das Evange¬
lium, auf dem die brutale Kriegführung von 1914 beruht". Treitschke ver¬
breitet sich endlich darüber, daß Verträge immer mit dem Vorbehalt l-edu8 8in
Ztantibu8 geschlossen werden, und daß es im Belieben jedes souveränen Staates
steht, von ihnen -- natürlich in rechtmäßiger Form -- zurückzutreten, wenn
sie seinem Interesse nicht mehr entsprechen. Es gehört wirklich die ganze
Dreistigkeit eines true-horn LnKlisdman dazu, um diese selbstverständlichen
Sätze, die sowohl von der Praxis der Politik wie von der wissenschaftlichen
Theorie aller Völker bestätigt werden, als Verleugnung jeglicher Sittlichkeit und


Treitschke in englischer Beleuchtung

unbescheiden sei in einer Zeit, wo Frankreich das marokkanische Riesenretch
einsteckte, England, nachdem es kaum die ruchlos vernichteten Burenstaaten
verdaut hat, in Vordersten die phantastischsten Expansionspläne betreibt und
im Einvernehmen mit Rußland das unabhängige Persien in „Einflußsphären"
zerlegt — und all dies, obschon jene Staaten schon weltumspannende Kolonial¬
reiche besitzen, neben denen sich unsere Besitzungen zwergenhaft genug ausnehmen.
McCabe zitiert sechs Seiten, um zu beweisen, daß schon Treitschke jene in den
Augen eines echten Briten ganz frevelhaften Bestrebungen geteilt und verfochten
hat. Wir wissen es und rechnen es ihm zur Ehre an.

Der weitaus längste Teil des betreffenden Kapitels handelt aber nicht von
Impsnal expansion, sondern von moral laxv. Denn es gehört ja zum
System der britischen Weltbearbeitung, gehüllt in den Mantel fleckenloser Tugend¬
haftigkeit den Abscheu der zivilisierten Welt gegen Deutschlands absolut moralin¬
freie Politik und Kriegführung zu erregen und für die letztere einen geistigen
Urheber ausfindig zu machen.

Das dafür geeignete Objekt heißt im allgemeinen Nietzsche; in unserem
Buch muß es aber natürlich Treitschke sein, und auch das laßt sich beweisen.
Wenn man die Arcklageredensarten vorher gelesen hätte, müßte man Entsetzliches
erwarten. Was finden wir? Treischke verteidigt das Recht einer besonderen,
von der Jndividualmoral verschiedenen, der Natur des Staates angemessenen
Sittlichkeit — eine Frage, die gewiß diskutabel ist, bei der er aber, soviel ist
ganz sicher, jedenfalls die Praxis aller Zeiten und Völker, ganz besonders
des englischen Volks, für sich hat. Er legt ferner eine Lanze für Machia-
velli ein, indem er ihn, ganz wie Ranke und H. Baumgarten, historisch zu
verstehen sucht, und erregt dadurch das Entsetzen (amA?Lenert) des erschröcklich
tugendhaften Herrn McCabe. dessen Landsleuten bekanntlich aller Machiavellis-
mus jederzeit ein Greuel war — in der Theorie I Ausgehend von seinem
Kernsatze, daß der Staat Macht sei — den übrigens in dieser Ausschließlichkeit
kein namhafter Staatsrechtslehrer vertritt — entschuldigt er Gewaltsamkeiten
gegenüber wilden Völkern, wie sie die Engländer gegenüber aufständischen
Hindus anwandten — die allerdings kein wildes Volk sind; aber die gemüt¬
vollen Erfinder der Dumdumlugeln, der Konzentrationslager und des Aus'
Hungerungskrieges brauchen das ja nicht so genau zu nehmen. Wir werden
schwerlich Treitschkes Ansicht hier billigen; McCabe findet in ihr „das Evange¬
lium, auf dem die brutale Kriegführung von 1914 beruht". Treitschke ver¬
breitet sich endlich darüber, daß Verträge immer mit dem Vorbehalt l-edu8 8in
Ztantibu8 geschlossen werden, und daß es im Belieben jedes souveränen Staates
steht, von ihnen — natürlich in rechtmäßiger Form — zurückzutreten, wenn
sie seinem Interesse nicht mehr entsprechen. Es gehört wirklich die ganze
Dreistigkeit eines true-horn LnKlisdman dazu, um diese selbstverständlichen
Sätze, die sowohl von der Praxis der Politik wie von der wissenschaftlichen
Theorie aller Völker bestätigt werden, als Verleugnung jeglicher Sittlichkeit und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/158>, abgerufen am 01.09.2024.