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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Zukunftsaufgaben
Professor Fritz Braun Von

ni"/eher die Zukunft der Türkei und allerhand Kuren, durch die man
dem "kranken Mann" zu widerstandsfähiger Gesundheit verhelfen
will, wird heute gerade genug geschrieben, wer aber selber lange
Jahre im osmanischen Reiche gelebt hat, gelangt beim Lesen
solcher Arbeiten recht häufig zu der Ansicht, das Urteil ihrer
Verfasser werde durch keine genauere Sachkenntnis wesentlich beeinflußt.

Jeder, der die Zukunft der Türkei in das Ange faßt, muß auch zu
dem Völkerproblem des osmanischen Reiches Stellung nehmen. Den Haupt¬
grund dafür, daß die Grenze des Kalifenreichs in wenig mehr als zwei Jahr¬
hunderten von Komorn bis Adrianopel zurückwich, müssen wir in dem Umstände
suchen, daß es den Türken glückte, eine große Anzahl von Fremdvölkern durch
kraftvolle Angriffskriege zu unterwerfen, ohne sie doch zu willfährigen Staats¬
bürgern machen zu können. Bei den zahllosen Erhebungen gegen die türkischen
Herren blieben diese Fremdvölker nur selten auf ihre eigenen Kräfte angewiesen;
zumeist fanden sie in dieser oder jener europäischen Großmacht starke Bundes¬
genossen. Auch heute noch, da die Ungarn und Rumänen, Serben und Bulgaren
sich schon längst selbständig gemacht haben, bilden die Fremdvölker der Türkei,
in erster Linie die Griechen und Armenier, eine schwere Gefahr für den Fort¬
bestand des Staates. Durch die Tatsache, daß hin und wieder Zeiten kommen,
in denen auch sie ein rauschendes Loblied auf ihre osmanischen Gebieter singen,
dürfen wir uns in der Erkenntnis nicht irre machen lassen, daß die einen wie
die anderen auf den Zerfall des türkischen Reiches warten; die Armenier, weil
sie, ungeachtet ihrer zerstreuten Siedelung, mit der Wiedergeburt des mithridaüschen
Staates rechnen, und die Griechen, weil die Hoffnung auf ein kommendes
Größeres Griechenland, das auch die von Hellenen besiedelten Teile Kleinasiens
umfaßt, einen der wichtigsten Glaubensartikel ihres politischen Katechismus


Grenzboten II 1916 9


Türkische Zukunftsaufgaben
Professor Fritz Braun Von

ni»/eher die Zukunft der Türkei und allerhand Kuren, durch die man
dem „kranken Mann" zu widerstandsfähiger Gesundheit verhelfen
will, wird heute gerade genug geschrieben, wer aber selber lange
Jahre im osmanischen Reiche gelebt hat, gelangt beim Lesen
solcher Arbeiten recht häufig zu der Ansicht, das Urteil ihrer
Verfasser werde durch keine genauere Sachkenntnis wesentlich beeinflußt.

Jeder, der die Zukunft der Türkei in das Ange faßt, muß auch zu
dem Völkerproblem des osmanischen Reiches Stellung nehmen. Den Haupt¬
grund dafür, daß die Grenze des Kalifenreichs in wenig mehr als zwei Jahr¬
hunderten von Komorn bis Adrianopel zurückwich, müssen wir in dem Umstände
suchen, daß es den Türken glückte, eine große Anzahl von Fremdvölkern durch
kraftvolle Angriffskriege zu unterwerfen, ohne sie doch zu willfährigen Staats¬
bürgern machen zu können. Bei den zahllosen Erhebungen gegen die türkischen
Herren blieben diese Fremdvölker nur selten auf ihre eigenen Kräfte angewiesen;
zumeist fanden sie in dieser oder jener europäischen Großmacht starke Bundes¬
genossen. Auch heute noch, da die Ungarn und Rumänen, Serben und Bulgaren
sich schon längst selbständig gemacht haben, bilden die Fremdvölker der Türkei,
in erster Linie die Griechen und Armenier, eine schwere Gefahr für den Fort¬
bestand des Staates. Durch die Tatsache, daß hin und wieder Zeiten kommen,
in denen auch sie ein rauschendes Loblied auf ihre osmanischen Gebieter singen,
dürfen wir uns in der Erkenntnis nicht irre machen lassen, daß die einen wie
die anderen auf den Zerfall des türkischen Reiches warten; die Armenier, weil
sie, ungeachtet ihrer zerstreuten Siedelung, mit der Wiedergeburt des mithridaüschen
Staates rechnen, und die Griechen, weil die Hoffnung auf ein kommendes
Größeres Griechenland, das auch die von Hellenen besiedelten Teile Kleinasiens
umfaßt, einen der wichtigsten Glaubensartikel ihres politischen Katechismus


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[0141] [Abbildung] Türkische Zukunftsaufgaben Professor Fritz Braun Von ni»/eher die Zukunft der Türkei und allerhand Kuren, durch die man dem „kranken Mann" zu widerstandsfähiger Gesundheit verhelfen will, wird heute gerade genug geschrieben, wer aber selber lange Jahre im osmanischen Reiche gelebt hat, gelangt beim Lesen solcher Arbeiten recht häufig zu der Ansicht, das Urteil ihrer Verfasser werde durch keine genauere Sachkenntnis wesentlich beeinflußt. Jeder, der die Zukunft der Türkei in das Ange faßt, muß auch zu dem Völkerproblem des osmanischen Reiches Stellung nehmen. Den Haupt¬ grund dafür, daß die Grenze des Kalifenreichs in wenig mehr als zwei Jahr¬ hunderten von Komorn bis Adrianopel zurückwich, müssen wir in dem Umstände suchen, daß es den Türken glückte, eine große Anzahl von Fremdvölkern durch kraftvolle Angriffskriege zu unterwerfen, ohne sie doch zu willfährigen Staats¬ bürgern machen zu können. Bei den zahllosen Erhebungen gegen die türkischen Herren blieben diese Fremdvölker nur selten auf ihre eigenen Kräfte angewiesen; zumeist fanden sie in dieser oder jener europäischen Großmacht starke Bundes¬ genossen. Auch heute noch, da die Ungarn und Rumänen, Serben und Bulgaren sich schon längst selbständig gemacht haben, bilden die Fremdvölker der Türkei, in erster Linie die Griechen und Armenier, eine schwere Gefahr für den Fort¬ bestand des Staates. Durch die Tatsache, daß hin und wieder Zeiten kommen, in denen auch sie ein rauschendes Loblied auf ihre osmanischen Gebieter singen, dürfen wir uns in der Erkenntnis nicht irre machen lassen, daß die einen wie die anderen auf den Zerfall des türkischen Reiches warten; die Armenier, weil sie, ungeachtet ihrer zerstreuten Siedelung, mit der Wiedergeburt des mithridaüschen Staates rechnen, und die Griechen, weil die Hoffnung auf ein kommendes Größeres Griechenland, das auch die von Hellenen besiedelten Teile Kleinasiens umfaßt, einen der wichtigsten Glaubensartikel ihres politischen Katechismus Grenzboten II 1916 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/141>, abgerufen am 23.12.2024.