Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Albaniens Enttäuschung und Erwartung

als dringend erforderlich, daß die Regierung von Durazzo diesen Vorgängen
ihre ganze, ernsteste Aufmerksamkeit zuwende. --

Die Kontrollkommission war für eine gütliche Verständigung und beauf¬
tragte den Oberst Thomson, den fähigsten unter den holländischen Offizieren,
der mit ganzer Seele an seiner Arbeit in Albanien hing, mit der provisorischen
epirotischen Regierung unter Zographos in Unterhandlungen zu treten.

Thomson war angesichts der Wehrlosigkeit der albanischen Negierung, deren
Geldmittel beschränkt und deren Truppen erst am Anfang ihrer Bildung waren,
überzeugt, daß auch ein ungünstiges Abkommen dem Streit vorzuziehen sei.
und gewährte Zographos fast alle Forderungen, sodaß Südalbanien tatsächlich
nur mehr in ganz losem Zusammenhang mit der Regierung von Durazzo
geblieben wäre. Er glaubte, daß in Zukunft Fürst Wilhelm vielleicht besser
in der Lage sein würde, diese gefährliche Situation wieder zu beseitigen, als
er es jetzt war, sie abzuwenden. Die Regierung in Durazzo aber hielt das
Abkommen für den Anfang einer griechischen Herrschaft über fast den ganzen
albanischen Süden und erkannte es nicht an, mit dem Bemerken, ein ähnliches
Abkommen könne in Albanien niemals zu Recht bestehen, wenn es nicht von
der Regierung in Durazzo geschlossen sei.

Im Ministerrat erbot sich Essad unter dem Druck der öffentlichen Meinung,
durch Einberufung der Redifs der ehemaligen türkischen Armee, 20 000 Mann
in zehn Tagen unter seinem Oberbefehl auf die Beine zu bringen.

Was nun folgte, ist seinem inneren Zusammenhang nach noch nicht völlig
geklärt und es bleibt nur übrig, die äußeren Ereignisse zu schildern, wenn man
sich nicht in Vermutungen und möglicherweise ungerechte Anklagen ver¬
lieren will.

AIs Essad von Worten zur Tat überging und als erste die Redifs der
Gegend von schlät und Tirana, also seiner ureigensten Einflußsphäre, unter die
Fahnen rief, weigerten sie sich, seinem Rufe Folge zu leisten. Essads geschwo¬
rene Feinde behaupten: weil er sie selbst dazu insgeheim aufgestachelt hat.
Sicher ist, daß schon in den nächsten Tagen Gendarmen, die unter ein¬
heimischen Offizieren zum Entsatze Koritzas von Durazzo abmarschierten, ihrer¬
seits den Gehorsam verweigerten und sich den Widerspenstigen von Tirana und
schlät zugesellt haben. Und zwar waren auch diese Gendarmen Leute aus den
Gegenden, in denen bis dahin Essads Einfluß unbestritten und unbestreitbar
war. Ein klarer Beweis für Essads Verrat liegt zur Stunde nicht vor und
es ist wohl möglich, daß jene die Dinge richtiger und leidenschaftsloser ein¬
schätzen, welche, obschon sonst in allem Gegner Essads, der Ansicht sind, daß
der Aufstand ausbrach, gerade unter Essads Leuten, weil diese sich an ihm
rächen wollten.

Essad hatte nämlich, um gegen seinen Nebenbuhler Ismail Kemal Bey
Vlora ein halbes Jahr früher eine Gegenregierung gründen zu können, die
ihm als fanatisch wohlbekannte Bevölkerung jener Gegenden, auf die religiös-


Albaniens Enttäuschung und Erwartung

als dringend erforderlich, daß die Regierung von Durazzo diesen Vorgängen
ihre ganze, ernsteste Aufmerksamkeit zuwende. —

Die Kontrollkommission war für eine gütliche Verständigung und beauf¬
tragte den Oberst Thomson, den fähigsten unter den holländischen Offizieren,
der mit ganzer Seele an seiner Arbeit in Albanien hing, mit der provisorischen
epirotischen Regierung unter Zographos in Unterhandlungen zu treten.

Thomson war angesichts der Wehrlosigkeit der albanischen Negierung, deren
Geldmittel beschränkt und deren Truppen erst am Anfang ihrer Bildung waren,
überzeugt, daß auch ein ungünstiges Abkommen dem Streit vorzuziehen sei.
und gewährte Zographos fast alle Forderungen, sodaß Südalbanien tatsächlich
nur mehr in ganz losem Zusammenhang mit der Regierung von Durazzo
geblieben wäre. Er glaubte, daß in Zukunft Fürst Wilhelm vielleicht besser
in der Lage sein würde, diese gefährliche Situation wieder zu beseitigen, als
er es jetzt war, sie abzuwenden. Die Regierung in Durazzo aber hielt das
Abkommen für den Anfang einer griechischen Herrschaft über fast den ganzen
albanischen Süden und erkannte es nicht an, mit dem Bemerken, ein ähnliches
Abkommen könne in Albanien niemals zu Recht bestehen, wenn es nicht von
der Regierung in Durazzo geschlossen sei.

Im Ministerrat erbot sich Essad unter dem Druck der öffentlichen Meinung,
durch Einberufung der Redifs der ehemaligen türkischen Armee, 20 000 Mann
in zehn Tagen unter seinem Oberbefehl auf die Beine zu bringen.

Was nun folgte, ist seinem inneren Zusammenhang nach noch nicht völlig
geklärt und es bleibt nur übrig, die äußeren Ereignisse zu schildern, wenn man
sich nicht in Vermutungen und möglicherweise ungerechte Anklagen ver¬
lieren will.

AIs Essad von Worten zur Tat überging und als erste die Redifs der
Gegend von schlät und Tirana, also seiner ureigensten Einflußsphäre, unter die
Fahnen rief, weigerten sie sich, seinem Rufe Folge zu leisten. Essads geschwo¬
rene Feinde behaupten: weil er sie selbst dazu insgeheim aufgestachelt hat.
Sicher ist, daß schon in den nächsten Tagen Gendarmen, die unter ein¬
heimischen Offizieren zum Entsatze Koritzas von Durazzo abmarschierten, ihrer¬
seits den Gehorsam verweigerten und sich den Widerspenstigen von Tirana und
schlät zugesellt haben. Und zwar waren auch diese Gendarmen Leute aus den
Gegenden, in denen bis dahin Essads Einfluß unbestritten und unbestreitbar
war. Ein klarer Beweis für Essads Verrat liegt zur Stunde nicht vor und
es ist wohl möglich, daß jene die Dinge richtiger und leidenschaftsloser ein¬
schätzen, welche, obschon sonst in allem Gegner Essads, der Ansicht sind, daß
der Aufstand ausbrach, gerade unter Essads Leuten, weil diese sich an ihm
rächen wollten.

Essad hatte nämlich, um gegen seinen Nebenbuhler Ismail Kemal Bey
Vlora ein halbes Jahr früher eine Gegenregierung gründen zu können, die
ihm als fanatisch wohlbekannte Bevölkerung jener Gegenden, auf die religiös-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0120" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330220"/>
          <fw type="header" place="top"> Albaniens Enttäuschung und Erwartung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_372" prev="#ID_371"> als dringend erforderlich, daß die Regierung von Durazzo diesen Vorgängen<lb/>
ihre ganze, ernsteste Aufmerksamkeit zuwende. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_373"> Die Kontrollkommission war für eine gütliche Verständigung und beauf¬<lb/>
tragte den Oberst Thomson, den fähigsten unter den holländischen Offizieren,<lb/>
der mit ganzer Seele an seiner Arbeit in Albanien hing, mit der provisorischen<lb/>
epirotischen Regierung unter Zographos in Unterhandlungen zu treten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_374"> Thomson war angesichts der Wehrlosigkeit der albanischen Negierung, deren<lb/>
Geldmittel beschränkt und deren Truppen erst am Anfang ihrer Bildung waren,<lb/>
überzeugt, daß auch ein ungünstiges Abkommen dem Streit vorzuziehen sei.<lb/>
und gewährte Zographos fast alle Forderungen, sodaß Südalbanien tatsächlich<lb/>
nur mehr in ganz losem Zusammenhang mit der Regierung von Durazzo<lb/>
geblieben wäre. Er glaubte, daß in Zukunft Fürst Wilhelm vielleicht besser<lb/>
in der Lage sein würde, diese gefährliche Situation wieder zu beseitigen, als<lb/>
er es jetzt war, sie abzuwenden. Die Regierung in Durazzo aber hielt das<lb/>
Abkommen für den Anfang einer griechischen Herrschaft über fast den ganzen<lb/>
albanischen Süden und erkannte es nicht an, mit dem Bemerken, ein ähnliches<lb/>
Abkommen könne in Albanien niemals zu Recht bestehen, wenn es nicht von<lb/>
der Regierung in Durazzo geschlossen sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_375"> Im Ministerrat erbot sich Essad unter dem Druck der öffentlichen Meinung,<lb/>
durch Einberufung der Redifs der ehemaligen türkischen Armee, 20 000 Mann<lb/>
in zehn Tagen unter seinem Oberbefehl auf die Beine zu bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_376"> Was nun folgte, ist seinem inneren Zusammenhang nach noch nicht völlig<lb/>
geklärt und es bleibt nur übrig, die äußeren Ereignisse zu schildern, wenn man<lb/>
sich nicht in Vermutungen und möglicherweise ungerechte Anklagen ver¬<lb/>
lieren will.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_377"> AIs Essad von Worten zur Tat überging und als erste die Redifs der<lb/>
Gegend von schlät und Tirana, also seiner ureigensten Einflußsphäre, unter die<lb/>
Fahnen rief, weigerten sie sich, seinem Rufe Folge zu leisten. Essads geschwo¬<lb/>
rene Feinde behaupten: weil er sie selbst dazu insgeheim aufgestachelt hat.<lb/>
Sicher ist, daß schon in den nächsten Tagen Gendarmen, die unter ein¬<lb/>
heimischen Offizieren zum Entsatze Koritzas von Durazzo abmarschierten, ihrer¬<lb/>
seits den Gehorsam verweigerten und sich den Widerspenstigen von Tirana und<lb/>
schlät zugesellt haben. Und zwar waren auch diese Gendarmen Leute aus den<lb/>
Gegenden, in denen bis dahin Essads Einfluß unbestritten und unbestreitbar<lb/>
war. Ein klarer Beweis für Essads Verrat liegt zur Stunde nicht vor und<lb/>
es ist wohl möglich, daß jene die Dinge richtiger und leidenschaftsloser ein¬<lb/>
schätzen, welche, obschon sonst in allem Gegner Essads, der Ansicht sind, daß<lb/>
der Aufstand ausbrach, gerade unter Essads Leuten, weil diese sich an ihm<lb/>
rächen wollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_378" next="#ID_379"> Essad hatte nämlich, um gegen seinen Nebenbuhler Ismail Kemal Bey<lb/>
Vlora ein halbes Jahr früher eine Gegenregierung gründen zu können, die<lb/>
ihm als fanatisch wohlbekannte Bevölkerung jener Gegenden, auf die religiös-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0120] Albaniens Enttäuschung und Erwartung als dringend erforderlich, daß die Regierung von Durazzo diesen Vorgängen ihre ganze, ernsteste Aufmerksamkeit zuwende. — Die Kontrollkommission war für eine gütliche Verständigung und beauf¬ tragte den Oberst Thomson, den fähigsten unter den holländischen Offizieren, der mit ganzer Seele an seiner Arbeit in Albanien hing, mit der provisorischen epirotischen Regierung unter Zographos in Unterhandlungen zu treten. Thomson war angesichts der Wehrlosigkeit der albanischen Negierung, deren Geldmittel beschränkt und deren Truppen erst am Anfang ihrer Bildung waren, überzeugt, daß auch ein ungünstiges Abkommen dem Streit vorzuziehen sei. und gewährte Zographos fast alle Forderungen, sodaß Südalbanien tatsächlich nur mehr in ganz losem Zusammenhang mit der Regierung von Durazzo geblieben wäre. Er glaubte, daß in Zukunft Fürst Wilhelm vielleicht besser in der Lage sein würde, diese gefährliche Situation wieder zu beseitigen, als er es jetzt war, sie abzuwenden. Die Regierung in Durazzo aber hielt das Abkommen für den Anfang einer griechischen Herrschaft über fast den ganzen albanischen Süden und erkannte es nicht an, mit dem Bemerken, ein ähnliches Abkommen könne in Albanien niemals zu Recht bestehen, wenn es nicht von der Regierung in Durazzo geschlossen sei. Im Ministerrat erbot sich Essad unter dem Druck der öffentlichen Meinung, durch Einberufung der Redifs der ehemaligen türkischen Armee, 20 000 Mann in zehn Tagen unter seinem Oberbefehl auf die Beine zu bringen. Was nun folgte, ist seinem inneren Zusammenhang nach noch nicht völlig geklärt und es bleibt nur übrig, die äußeren Ereignisse zu schildern, wenn man sich nicht in Vermutungen und möglicherweise ungerechte Anklagen ver¬ lieren will. AIs Essad von Worten zur Tat überging und als erste die Redifs der Gegend von schlät und Tirana, also seiner ureigensten Einflußsphäre, unter die Fahnen rief, weigerten sie sich, seinem Rufe Folge zu leisten. Essads geschwo¬ rene Feinde behaupten: weil er sie selbst dazu insgeheim aufgestachelt hat. Sicher ist, daß schon in den nächsten Tagen Gendarmen, die unter ein¬ heimischen Offizieren zum Entsatze Koritzas von Durazzo abmarschierten, ihrer¬ seits den Gehorsam verweigerten und sich den Widerspenstigen von Tirana und schlät zugesellt haben. Und zwar waren auch diese Gendarmen Leute aus den Gegenden, in denen bis dahin Essads Einfluß unbestritten und unbestreitbar war. Ein klarer Beweis für Essads Verrat liegt zur Stunde nicht vor und es ist wohl möglich, daß jene die Dinge richtiger und leidenschaftsloser ein¬ schätzen, welche, obschon sonst in allem Gegner Essads, der Ansicht sind, daß der Aufstand ausbrach, gerade unter Essads Leuten, weil diese sich an ihm rächen wollten. Essad hatte nämlich, um gegen seinen Nebenbuhler Ismail Kemal Bey Vlora ein halbes Jahr früher eine Gegenregierung gründen zu können, die ihm als fanatisch wohlbekannte Bevölkerung jener Gegenden, auf die religiös-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/120
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/120>, abgerufen am 23.12.2024.