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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Reichsgrimdnng

wichtigsten politischen und nationalen Probleme sich erheben, von grundlegender
Bedeutung. Auch ich möchte darum mit dem Verfasser wünschen, daß das
Buch "auch unter denen Leser finde, die an der Neugestaltung unseres öffent¬
lichen Lebens nach dem Kriege mitzuarbeiten berufen und gewillt sind."
Freilich vermag nicht jeder die gleiche Moral aus der Geschichte zu ziehen.

Wenn wir heute nach der Wendung Deutschlands zur Weltpolitik und
nach dem Erlebnis des Weltkriegs auf die Neichsgründungszeit zurückschauen, dann
werden wir die damals siegreiche kleindeutsche Politik als eine relative zeitliche
Notwendigkeit, aber nicht mehr als absolut höherwertig als die entgegen¬
gesetzten Tendenzen ansehen. Der Geschichtsbetrachtung der deutschen Ent¬
wicklung im 19. Jahrhundert ist in Zukunft vor allem eins zu wünschen:
mehr Herzensverständnis, mehr Liebe für die Mächte und Richtungen, die in
dem großen Kampfe um die deutsche Einheit unterlegen sind. Unser Urteil
ist bisher zu einseitig von den Normen der kleindeutschen Publizistik aus¬
gegangen. Das mag berechtigt gewesen sein, so lange der Bestand des
neuen Reiches nach innen oder außen nicht völlig gesichert schien. Aber nun
nach der großen Bewährung, die wir alle erlebt haben, nachdem sich alle
maßgebenden Parteien und Weltanschauungen zu positiver Arbeit endgültig auf
den Boden des Reiches gestellt haben, nachdem eine niedagewesene Riesen¬
koalition aller äußeren Feinde an diesem Reiche sich die Köpse blutig gestoßen
hat, nun ist es eine schöne Pflicht unserer Wissenschaft, die volle Unbefangen¬
heit des Urteils für die Männer zurückzugewinnen, die einst die deutsche
Einheit auf anderem Wege und mit anderen Mitteln erstrebt haben als
Bismarck und der Nationalverein, oder die überhaupt andere politische Ideale
im Herzen trugen. Wir haben nicht mehr nötig, über Friedrich Wilhelm IV.,
über Großdeutschtum, Partikularismus, Klerikalismus im Tone der kleindeuischen
Geschichtsschreibung und Publizistik zu reden. Wir sind in der Atmosphäre
des Weltkrieges, in dem Partikularsten, Katholiken, Sozialdemokraten und
nicht zum wenigsten auch die 1866 hinausgeworfenen Bundesbrüder aus dem
Donaureiche ebensogut ihre Pflicht getan haben, wie die Männer der Reichs-
gründungsparteien, doch wohl nun hoffentlich frei geworden für neues
historisches Verständnis für die ehemaligen "Reichsfeinde", die doch auch unser
eigenes gutes deutsches Blut in den Adern hatten und mit echtem deutschem
Geiste getauft waren! Diese Forderung einer gleichmäßigen Liebe erfüllt das
vor dem Kriege geschriebene Buch von Brandenburg noch nicht. Der Verfasser
ist überall gemäßigt im Urteil, aber Liebe hat er doch nur für die kleindeutsche
Partei, für die preußische Art, das nationale Problem in Angriff zu nehmen,
für Bismarck und diejenigen Achtundvierziger, die für seine Vorläufer
gelten können. Wenn nach dem Kriege wieder einmal ein Historiker über die Reichs-
gründung schreiben sollte, dann wäre zu wünschen, daß es ein Mann sei,
der Verständnis des Herzens, nicht nur des Kopfes hat auch für die Parti-
kularisten und Legitimisten, für die Katholiken und vor allen, für Osterreich.


Die Reichsgrimdnng

wichtigsten politischen und nationalen Probleme sich erheben, von grundlegender
Bedeutung. Auch ich möchte darum mit dem Verfasser wünschen, daß das
Buch „auch unter denen Leser finde, die an der Neugestaltung unseres öffent¬
lichen Lebens nach dem Kriege mitzuarbeiten berufen und gewillt sind."
Freilich vermag nicht jeder die gleiche Moral aus der Geschichte zu ziehen.

Wenn wir heute nach der Wendung Deutschlands zur Weltpolitik und
nach dem Erlebnis des Weltkriegs auf die Neichsgründungszeit zurückschauen, dann
werden wir die damals siegreiche kleindeutsche Politik als eine relative zeitliche
Notwendigkeit, aber nicht mehr als absolut höherwertig als die entgegen¬
gesetzten Tendenzen ansehen. Der Geschichtsbetrachtung der deutschen Ent¬
wicklung im 19. Jahrhundert ist in Zukunft vor allem eins zu wünschen:
mehr Herzensverständnis, mehr Liebe für die Mächte und Richtungen, die in
dem großen Kampfe um die deutsche Einheit unterlegen sind. Unser Urteil
ist bisher zu einseitig von den Normen der kleindeutschen Publizistik aus¬
gegangen. Das mag berechtigt gewesen sein, so lange der Bestand des
neuen Reiches nach innen oder außen nicht völlig gesichert schien. Aber nun
nach der großen Bewährung, die wir alle erlebt haben, nachdem sich alle
maßgebenden Parteien und Weltanschauungen zu positiver Arbeit endgültig auf
den Boden des Reiches gestellt haben, nachdem eine niedagewesene Riesen¬
koalition aller äußeren Feinde an diesem Reiche sich die Köpse blutig gestoßen
hat, nun ist es eine schöne Pflicht unserer Wissenschaft, die volle Unbefangen¬
heit des Urteils für die Männer zurückzugewinnen, die einst die deutsche
Einheit auf anderem Wege und mit anderen Mitteln erstrebt haben als
Bismarck und der Nationalverein, oder die überhaupt andere politische Ideale
im Herzen trugen. Wir haben nicht mehr nötig, über Friedrich Wilhelm IV.,
über Großdeutschtum, Partikularismus, Klerikalismus im Tone der kleindeuischen
Geschichtsschreibung und Publizistik zu reden. Wir sind in der Atmosphäre
des Weltkrieges, in dem Partikularsten, Katholiken, Sozialdemokraten und
nicht zum wenigsten auch die 1866 hinausgeworfenen Bundesbrüder aus dem
Donaureiche ebensogut ihre Pflicht getan haben, wie die Männer der Reichs-
gründungsparteien, doch wohl nun hoffentlich frei geworden für neues
historisches Verständnis für die ehemaligen „Reichsfeinde", die doch auch unser
eigenes gutes deutsches Blut in den Adern hatten und mit echtem deutschem
Geiste getauft waren! Diese Forderung einer gleichmäßigen Liebe erfüllt das
vor dem Kriege geschriebene Buch von Brandenburg noch nicht. Der Verfasser
ist überall gemäßigt im Urteil, aber Liebe hat er doch nur für die kleindeutsche
Partei, für die preußische Art, das nationale Problem in Angriff zu nehmen,
für Bismarck und diejenigen Achtundvierziger, die für seine Vorläufer
gelten können. Wenn nach dem Kriege wieder einmal ein Historiker über die Reichs-
gründung schreiben sollte, dann wäre zu wünschen, daß es ein Mann sei,
der Verständnis des Herzens, nicht nur des Kopfes hat auch für die Parti-
kularisten und Legitimisten, für die Katholiken und vor allen, für Osterreich.


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[0112] Die Reichsgrimdnng wichtigsten politischen und nationalen Probleme sich erheben, von grundlegender Bedeutung. Auch ich möchte darum mit dem Verfasser wünschen, daß das Buch „auch unter denen Leser finde, die an der Neugestaltung unseres öffent¬ lichen Lebens nach dem Kriege mitzuarbeiten berufen und gewillt sind." Freilich vermag nicht jeder die gleiche Moral aus der Geschichte zu ziehen. Wenn wir heute nach der Wendung Deutschlands zur Weltpolitik und nach dem Erlebnis des Weltkriegs auf die Neichsgründungszeit zurückschauen, dann werden wir die damals siegreiche kleindeutsche Politik als eine relative zeitliche Notwendigkeit, aber nicht mehr als absolut höherwertig als die entgegen¬ gesetzten Tendenzen ansehen. Der Geschichtsbetrachtung der deutschen Ent¬ wicklung im 19. Jahrhundert ist in Zukunft vor allem eins zu wünschen: mehr Herzensverständnis, mehr Liebe für die Mächte und Richtungen, die in dem großen Kampfe um die deutsche Einheit unterlegen sind. Unser Urteil ist bisher zu einseitig von den Normen der kleindeutschen Publizistik aus¬ gegangen. Das mag berechtigt gewesen sein, so lange der Bestand des neuen Reiches nach innen oder außen nicht völlig gesichert schien. Aber nun nach der großen Bewährung, die wir alle erlebt haben, nachdem sich alle maßgebenden Parteien und Weltanschauungen zu positiver Arbeit endgültig auf den Boden des Reiches gestellt haben, nachdem eine niedagewesene Riesen¬ koalition aller äußeren Feinde an diesem Reiche sich die Köpse blutig gestoßen hat, nun ist es eine schöne Pflicht unserer Wissenschaft, die volle Unbefangen¬ heit des Urteils für die Männer zurückzugewinnen, die einst die deutsche Einheit auf anderem Wege und mit anderen Mitteln erstrebt haben als Bismarck und der Nationalverein, oder die überhaupt andere politische Ideale im Herzen trugen. Wir haben nicht mehr nötig, über Friedrich Wilhelm IV., über Großdeutschtum, Partikularismus, Klerikalismus im Tone der kleindeuischen Geschichtsschreibung und Publizistik zu reden. Wir sind in der Atmosphäre des Weltkrieges, in dem Partikularsten, Katholiken, Sozialdemokraten und nicht zum wenigsten auch die 1866 hinausgeworfenen Bundesbrüder aus dem Donaureiche ebensogut ihre Pflicht getan haben, wie die Männer der Reichs- gründungsparteien, doch wohl nun hoffentlich frei geworden für neues historisches Verständnis für die ehemaligen „Reichsfeinde", die doch auch unser eigenes gutes deutsches Blut in den Adern hatten und mit echtem deutschem Geiste getauft waren! Diese Forderung einer gleichmäßigen Liebe erfüllt das vor dem Kriege geschriebene Buch von Brandenburg noch nicht. Der Verfasser ist überall gemäßigt im Urteil, aber Liebe hat er doch nur für die kleindeutsche Partei, für die preußische Art, das nationale Problem in Angriff zu nehmen, für Bismarck und diejenigen Achtundvierziger, die für seine Vorläufer gelten können. Wenn nach dem Kriege wieder einmal ein Historiker über die Reichs- gründung schreiben sollte, dann wäre zu wünschen, daß es ein Mann sei, der Verständnis des Herzens, nicht nur des Kopfes hat auch für die Parti- kularisten und Legitimisten, für die Katholiken und vor allen, für Osterreich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/112>, abgerufen am 23.12.2024.