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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Reichsgründung

Teile des deutschen Volkes und alle die Strömungen seines geistigen und
politischen Lebens, ohne oder sogar gegen die er sein Werk der Reichsgründung
hat durchführen müssen, auch nach Vollendung des Baues als "Reichsfeinde"
behandeln zu sollen. Diese aber meldeten ganz mit Recht, nachdem der Bau
nicht nach ihren Wünschen und Bedürfnissen geraten war, nun wenigstens für
den Ausbau ihre Ansprüche an, da sie doch nun einmal unabänderlich mit unter
dem neuen Dache wohnen müßten. Die großdeutschen Wünsche des Volkes
waren nicht tot trotz des vernichtenden Urteils, das die kleindeutsche Publizistik,
Heinrich von Treitschke an der Spitze, über sie für richtig hielt, und ebenso¬
wenig die demokratischen. Auch auf auswärtigem Gebiete hat es Bismarck z. B.
noch lange für gut befunden, aus Gründen der europäischen Politik die welt¬
politische Expansion Frankreichs zu fördern, obwohl unserer eigenen bald ein¬
setzenden Expansion der ohnehin schon schmale Raum damit weiter geschmälert
zu werden drohte. Die deutsche Weltpolitik haben nach Bismarck andere Männer
in die Wege geleitet und sie, so gut es ging, bis zur Schwelle des Weltkrieges
nicht verkümmern lassen. Nunmehr, schon im Kriege, kommt die Zeit, wo wir
auch in der inneren und europäischen Politik Bismarcks Bahnen in wesentlichen
Stücken verlassen müssen. Der Altreichskanzler war eben weniger der voraus¬
schauende Genius der deutschen politischen Zukunft, als vielmehr der gewaltig
gestaltende Vollender unserer politischen Vergangenheit. Die Reichsgründung ist
die algebraische Summe unserer vorherigen Geschichte, aber nicht zugleich ein
Produkt, aus dem wir die Faktoren unserer zukünftigen Entwicklung heraus¬
dividieren könnten. Bismarcks Gedanken sind heute nicht mehr Norm für unser
politisches, auch nicht für unser innerpolittsches Urteil.

Das neue zweibändige Werk von Brandenburg ("Die Reichsgründung",
Leipzig. Quelle u. Meyer 1916, geh. 12 M., geb. 14 M.), dem dieser Aufsatz
sein Thema verdankt, ist vor den, Weltkrieg geschrieben und gedruckt worden
und erscheint nun jetzt zu einer Zeit, wo es geeignet ist, das Nachdenken über
die von mir eben angeschnittenen Fragen anzuregen. Jedes Werk der Geschichts¬
schreibung, das über die rein fachwissenschaftliche Erörterung des Materials
hinausgeht, hat, ohne daß der Vorwurf der Tendenz irgendwie berechtigt wäre,
aus seiner Art heraus eine publizistische Bedeutung. Man wird diese den
Werken aller unserer großen Geschichtsschreiber: Ranke, auch Giesebrecht und erst
recht Sybel und Treitschke zubilligen. Man tut also auch dem neuen Werke
von Brandenburg kein Unrecht, wenn man auf seine publizistische Bedeutung
hinweist. Im Gegenteil, man würde ihm Unrecht tun, wenn man diese
Bedeutung übersehen wollte. Brandenburg selber erhofft in seinem anderthalb
Jahre nach der Vollendung geschriebenen Vorwort eine publizistische Neben-'
Wirkung seines Buches. Und ich meine, es erfüllt in dieser bei jetzigen
Zeitläuften eine sehr wichtige Mission. Denn die Frage, was wir aus der
Geschichte der Reichsgründung lernen können, ist an einem Wendepunkte
unseres Nationaldaseins, wo unendlich vieles neugestaltet werden muß und die


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Die Reichsgründung

Teile des deutschen Volkes und alle die Strömungen seines geistigen und
politischen Lebens, ohne oder sogar gegen die er sein Werk der Reichsgründung
hat durchführen müssen, auch nach Vollendung des Baues als „Reichsfeinde"
behandeln zu sollen. Diese aber meldeten ganz mit Recht, nachdem der Bau
nicht nach ihren Wünschen und Bedürfnissen geraten war, nun wenigstens für
den Ausbau ihre Ansprüche an, da sie doch nun einmal unabänderlich mit unter
dem neuen Dache wohnen müßten. Die großdeutschen Wünsche des Volkes
waren nicht tot trotz des vernichtenden Urteils, das die kleindeutsche Publizistik,
Heinrich von Treitschke an der Spitze, über sie für richtig hielt, und ebenso¬
wenig die demokratischen. Auch auf auswärtigem Gebiete hat es Bismarck z. B.
noch lange für gut befunden, aus Gründen der europäischen Politik die welt¬
politische Expansion Frankreichs zu fördern, obwohl unserer eigenen bald ein¬
setzenden Expansion der ohnehin schon schmale Raum damit weiter geschmälert
zu werden drohte. Die deutsche Weltpolitik haben nach Bismarck andere Männer
in die Wege geleitet und sie, so gut es ging, bis zur Schwelle des Weltkrieges
nicht verkümmern lassen. Nunmehr, schon im Kriege, kommt die Zeit, wo wir
auch in der inneren und europäischen Politik Bismarcks Bahnen in wesentlichen
Stücken verlassen müssen. Der Altreichskanzler war eben weniger der voraus¬
schauende Genius der deutschen politischen Zukunft, als vielmehr der gewaltig
gestaltende Vollender unserer politischen Vergangenheit. Die Reichsgründung ist
die algebraische Summe unserer vorherigen Geschichte, aber nicht zugleich ein
Produkt, aus dem wir die Faktoren unserer zukünftigen Entwicklung heraus¬
dividieren könnten. Bismarcks Gedanken sind heute nicht mehr Norm für unser
politisches, auch nicht für unser innerpolittsches Urteil.

Das neue zweibändige Werk von Brandenburg („Die Reichsgründung",
Leipzig. Quelle u. Meyer 1916, geh. 12 M., geb. 14 M.), dem dieser Aufsatz
sein Thema verdankt, ist vor den, Weltkrieg geschrieben und gedruckt worden
und erscheint nun jetzt zu einer Zeit, wo es geeignet ist, das Nachdenken über
die von mir eben angeschnittenen Fragen anzuregen. Jedes Werk der Geschichts¬
schreibung, das über die rein fachwissenschaftliche Erörterung des Materials
hinausgeht, hat, ohne daß der Vorwurf der Tendenz irgendwie berechtigt wäre,
aus seiner Art heraus eine publizistische Bedeutung. Man wird diese den
Werken aller unserer großen Geschichtsschreiber: Ranke, auch Giesebrecht und erst
recht Sybel und Treitschke zubilligen. Man tut also auch dem neuen Werke
von Brandenburg kein Unrecht, wenn man auf seine publizistische Bedeutung
hinweist. Im Gegenteil, man würde ihm Unrecht tun, wenn man diese
Bedeutung übersehen wollte. Brandenburg selber erhofft in seinem anderthalb
Jahre nach der Vollendung geschriebenen Vorwort eine publizistische Neben-'
Wirkung seines Buches. Und ich meine, es erfüllt in dieser bei jetzigen
Zeitläuften eine sehr wichtige Mission. Denn die Frage, was wir aus der
Geschichte der Reichsgründung lernen können, ist an einem Wendepunkte
unseres Nationaldaseins, wo unendlich vieles neugestaltet werden muß und die


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[0111] Die Reichsgründung Teile des deutschen Volkes und alle die Strömungen seines geistigen und politischen Lebens, ohne oder sogar gegen die er sein Werk der Reichsgründung hat durchführen müssen, auch nach Vollendung des Baues als „Reichsfeinde" behandeln zu sollen. Diese aber meldeten ganz mit Recht, nachdem der Bau nicht nach ihren Wünschen und Bedürfnissen geraten war, nun wenigstens für den Ausbau ihre Ansprüche an, da sie doch nun einmal unabänderlich mit unter dem neuen Dache wohnen müßten. Die großdeutschen Wünsche des Volkes waren nicht tot trotz des vernichtenden Urteils, das die kleindeutsche Publizistik, Heinrich von Treitschke an der Spitze, über sie für richtig hielt, und ebenso¬ wenig die demokratischen. Auch auf auswärtigem Gebiete hat es Bismarck z. B. noch lange für gut befunden, aus Gründen der europäischen Politik die welt¬ politische Expansion Frankreichs zu fördern, obwohl unserer eigenen bald ein¬ setzenden Expansion der ohnehin schon schmale Raum damit weiter geschmälert zu werden drohte. Die deutsche Weltpolitik haben nach Bismarck andere Männer in die Wege geleitet und sie, so gut es ging, bis zur Schwelle des Weltkrieges nicht verkümmern lassen. Nunmehr, schon im Kriege, kommt die Zeit, wo wir auch in der inneren und europäischen Politik Bismarcks Bahnen in wesentlichen Stücken verlassen müssen. Der Altreichskanzler war eben weniger der voraus¬ schauende Genius der deutschen politischen Zukunft, als vielmehr der gewaltig gestaltende Vollender unserer politischen Vergangenheit. Die Reichsgründung ist die algebraische Summe unserer vorherigen Geschichte, aber nicht zugleich ein Produkt, aus dem wir die Faktoren unserer zukünftigen Entwicklung heraus¬ dividieren könnten. Bismarcks Gedanken sind heute nicht mehr Norm für unser politisches, auch nicht für unser innerpolittsches Urteil. Das neue zweibändige Werk von Brandenburg („Die Reichsgründung", Leipzig. Quelle u. Meyer 1916, geh. 12 M., geb. 14 M.), dem dieser Aufsatz sein Thema verdankt, ist vor den, Weltkrieg geschrieben und gedruckt worden und erscheint nun jetzt zu einer Zeit, wo es geeignet ist, das Nachdenken über die von mir eben angeschnittenen Fragen anzuregen. Jedes Werk der Geschichts¬ schreibung, das über die rein fachwissenschaftliche Erörterung des Materials hinausgeht, hat, ohne daß der Vorwurf der Tendenz irgendwie berechtigt wäre, aus seiner Art heraus eine publizistische Bedeutung. Man wird diese den Werken aller unserer großen Geschichtsschreiber: Ranke, auch Giesebrecht und erst recht Sybel und Treitschke zubilligen. Man tut also auch dem neuen Werke von Brandenburg kein Unrecht, wenn man auf seine publizistische Bedeutung hinweist. Im Gegenteil, man würde ihm Unrecht tun, wenn man diese Bedeutung übersehen wollte. Brandenburg selber erhofft in seinem anderthalb Jahre nach der Vollendung geschriebenen Vorwort eine publizistische Neben-' Wirkung seines Buches. Und ich meine, es erfüllt in dieser bei jetzigen Zeitläuften eine sehr wichtige Mission. Denn die Frage, was wir aus der Geschichte der Reichsgründung lernen können, ist an einem Wendepunkte unseres Nationaldaseins, wo unendlich vieles neugestaltet werden muß und die 7'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/111>, abgerufen am 23.12.2024.