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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Reichsgründung

vor dem Kriege war der, daß man Wirtschafts- und weltpolitisch über Bismarck
hinausging, indem man sich sagte, daß auf diesen Gebieten dem neuen Reiche
Aufgaben erwachsen seien, die in Bismarcks zeitgeschichtlichem Gesichtskreis noch
nicht oder doch noch nicht in diesem Umfange liegen konnten. Umsomehr aber
glaubte mau auf dem Gebiete der inneren und der europäischen Politik an
Bismarcks Vermächtnis festhalten zu müssen, und es ging nie ohne Gewissens¬
konflikte unserer öffentlichen Meinung ab, wenn die Verantwortlicher einmal
andere Bahnen einzuschlagen schienen. Nach der Bewährung in der schweren
Krise dieses Weltkrieges aber dürfen die Leiter unserer Geschicke nunmehr ruhig
sagen, daß sie sich das Recht auf Gewissensfreiheit gegenüber Bismarck erkämpft
haben. Das ist ein großer innerer Sieg, der bisher der Allgemeinheit noch
weniger zu Bewußtsein gekommen ist, als er es verdient.

Bismarcks Arbeit, nunmehr frei von politischer Tendenz, rein nach ihrer
historischen Bedeutung gewertet, ist mehr rückwärts gewandt als vorwärts. Sie
ist die große Summation unserer politischen Vergangenheit seit dem Zerfall
unserer alten Einheit. Bismarck hat uns das Reich zu gestalten gewußt, das
auf Grund der jahrhundertelangen politischen und geistigen Zersetzung unserer
nationalen Macht und auf Grund der vielgestaltigen territorialen Neubildung
unseres nationalen Bodens allein möglich war. Er war der Künstler, der aus
dem ungeheuren, aber chaotischen Erbe einer gewaltigen Vergangenheit diejenigen
geistigen und physischen Nationalkrüfte auszuwählen, zu beHauen und aneinander
zu fügen verstand, die geeignet waren, in diesem Gefüge zu beharren und die
Grundpfeiler für ein wohnliches Haus abzugeben. Er war auch der unbeirrbare,
geniale Wertkritiker des praktischen Handelns, der rücksichtslos verwerfen konnte,
was in seinen Entwurf nicht paßte und in seinem Gefüge keinen Halt geben
wollte, und wäre es an sich noch so groß und wertvoll gewesen. Es ist un¬
bestreitbar, daß Bismarcks Art, die deutsche Frage anzufassen, die einzig erfolg¬
versprechende war. Keiner von den Männern, die vor und neben ihm um ihre
Lösung ernstlich bemüht waren, hat wie er ein so klares Bewußtsein gehabt,
daß mau zu einer solchen Leistung vor allem die Macht hinter sich haben müsse,
sie zu vollbringen, und daß man. gestützt auf genaueste Kenntnis der vorhandenen
Tatsachen und Kräfte, aus diesen die Bausteine wählen müsse. Darum sagte
ich: Bismarck ist der große rückwärts schauende und in der Gegenwart handelnde
Summator der deutschen politischen Vergangenheit. Es ist kein Zufall, daß er
seine politische Tätigkeit als Reaktionär begann I

Nicht von völlig gleichem Werte ist die Arbeit, die Bismarck nach dem
großen Jahrzehnt der eigentlichen Reichsgründung zum Ausbau des von ihm
geschaffenen Reiches noch beigesteuert hat. Auch hier finden wir manche große
Leistung, aber einige der wichtigsten Bestrebungen, insbesondere seiner inneren
Politik, sind doch auch große Fehlschläge gewesen. Man wird das z. B. von
seinem Kampfe gegen die katholische Kirche wie von dem gegen die Sozial¬
demokratie in gleichem Maße sagen dürfen. Bismarck hat geglaubt, alle die


Die Reichsgründung

vor dem Kriege war der, daß man Wirtschafts- und weltpolitisch über Bismarck
hinausging, indem man sich sagte, daß auf diesen Gebieten dem neuen Reiche
Aufgaben erwachsen seien, die in Bismarcks zeitgeschichtlichem Gesichtskreis noch
nicht oder doch noch nicht in diesem Umfange liegen konnten. Umsomehr aber
glaubte mau auf dem Gebiete der inneren und der europäischen Politik an
Bismarcks Vermächtnis festhalten zu müssen, und es ging nie ohne Gewissens¬
konflikte unserer öffentlichen Meinung ab, wenn die Verantwortlicher einmal
andere Bahnen einzuschlagen schienen. Nach der Bewährung in der schweren
Krise dieses Weltkrieges aber dürfen die Leiter unserer Geschicke nunmehr ruhig
sagen, daß sie sich das Recht auf Gewissensfreiheit gegenüber Bismarck erkämpft
haben. Das ist ein großer innerer Sieg, der bisher der Allgemeinheit noch
weniger zu Bewußtsein gekommen ist, als er es verdient.

Bismarcks Arbeit, nunmehr frei von politischer Tendenz, rein nach ihrer
historischen Bedeutung gewertet, ist mehr rückwärts gewandt als vorwärts. Sie
ist die große Summation unserer politischen Vergangenheit seit dem Zerfall
unserer alten Einheit. Bismarck hat uns das Reich zu gestalten gewußt, das
auf Grund der jahrhundertelangen politischen und geistigen Zersetzung unserer
nationalen Macht und auf Grund der vielgestaltigen territorialen Neubildung
unseres nationalen Bodens allein möglich war. Er war der Künstler, der aus
dem ungeheuren, aber chaotischen Erbe einer gewaltigen Vergangenheit diejenigen
geistigen und physischen Nationalkrüfte auszuwählen, zu beHauen und aneinander
zu fügen verstand, die geeignet waren, in diesem Gefüge zu beharren und die
Grundpfeiler für ein wohnliches Haus abzugeben. Er war auch der unbeirrbare,
geniale Wertkritiker des praktischen Handelns, der rücksichtslos verwerfen konnte,
was in seinen Entwurf nicht paßte und in seinem Gefüge keinen Halt geben
wollte, und wäre es an sich noch so groß und wertvoll gewesen. Es ist un¬
bestreitbar, daß Bismarcks Art, die deutsche Frage anzufassen, die einzig erfolg¬
versprechende war. Keiner von den Männern, die vor und neben ihm um ihre
Lösung ernstlich bemüht waren, hat wie er ein so klares Bewußtsein gehabt,
daß mau zu einer solchen Leistung vor allem die Macht hinter sich haben müsse,
sie zu vollbringen, und daß man. gestützt auf genaueste Kenntnis der vorhandenen
Tatsachen und Kräfte, aus diesen die Bausteine wählen müsse. Darum sagte
ich: Bismarck ist der große rückwärts schauende und in der Gegenwart handelnde
Summator der deutschen politischen Vergangenheit. Es ist kein Zufall, daß er
seine politische Tätigkeit als Reaktionär begann I

Nicht von völlig gleichem Werte ist die Arbeit, die Bismarck nach dem
großen Jahrzehnt der eigentlichen Reichsgründung zum Ausbau des von ihm
geschaffenen Reiches noch beigesteuert hat. Auch hier finden wir manche große
Leistung, aber einige der wichtigsten Bestrebungen, insbesondere seiner inneren
Politik, sind doch auch große Fehlschläge gewesen. Man wird das z. B. von
seinem Kampfe gegen die katholische Kirche wie von dem gegen die Sozial¬
demokratie in gleichem Maße sagen dürfen. Bismarck hat geglaubt, alle die


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[0110] Die Reichsgründung vor dem Kriege war der, daß man Wirtschafts- und weltpolitisch über Bismarck hinausging, indem man sich sagte, daß auf diesen Gebieten dem neuen Reiche Aufgaben erwachsen seien, die in Bismarcks zeitgeschichtlichem Gesichtskreis noch nicht oder doch noch nicht in diesem Umfange liegen konnten. Umsomehr aber glaubte mau auf dem Gebiete der inneren und der europäischen Politik an Bismarcks Vermächtnis festhalten zu müssen, und es ging nie ohne Gewissens¬ konflikte unserer öffentlichen Meinung ab, wenn die Verantwortlicher einmal andere Bahnen einzuschlagen schienen. Nach der Bewährung in der schweren Krise dieses Weltkrieges aber dürfen die Leiter unserer Geschicke nunmehr ruhig sagen, daß sie sich das Recht auf Gewissensfreiheit gegenüber Bismarck erkämpft haben. Das ist ein großer innerer Sieg, der bisher der Allgemeinheit noch weniger zu Bewußtsein gekommen ist, als er es verdient. Bismarcks Arbeit, nunmehr frei von politischer Tendenz, rein nach ihrer historischen Bedeutung gewertet, ist mehr rückwärts gewandt als vorwärts. Sie ist die große Summation unserer politischen Vergangenheit seit dem Zerfall unserer alten Einheit. Bismarck hat uns das Reich zu gestalten gewußt, das auf Grund der jahrhundertelangen politischen und geistigen Zersetzung unserer nationalen Macht und auf Grund der vielgestaltigen territorialen Neubildung unseres nationalen Bodens allein möglich war. Er war der Künstler, der aus dem ungeheuren, aber chaotischen Erbe einer gewaltigen Vergangenheit diejenigen geistigen und physischen Nationalkrüfte auszuwählen, zu beHauen und aneinander zu fügen verstand, die geeignet waren, in diesem Gefüge zu beharren und die Grundpfeiler für ein wohnliches Haus abzugeben. Er war auch der unbeirrbare, geniale Wertkritiker des praktischen Handelns, der rücksichtslos verwerfen konnte, was in seinen Entwurf nicht paßte und in seinem Gefüge keinen Halt geben wollte, und wäre es an sich noch so groß und wertvoll gewesen. Es ist un¬ bestreitbar, daß Bismarcks Art, die deutsche Frage anzufassen, die einzig erfolg¬ versprechende war. Keiner von den Männern, die vor und neben ihm um ihre Lösung ernstlich bemüht waren, hat wie er ein so klares Bewußtsein gehabt, daß mau zu einer solchen Leistung vor allem die Macht hinter sich haben müsse, sie zu vollbringen, und daß man. gestützt auf genaueste Kenntnis der vorhandenen Tatsachen und Kräfte, aus diesen die Bausteine wählen müsse. Darum sagte ich: Bismarck ist der große rückwärts schauende und in der Gegenwart handelnde Summator der deutschen politischen Vergangenheit. Es ist kein Zufall, daß er seine politische Tätigkeit als Reaktionär begann I Nicht von völlig gleichem Werte ist die Arbeit, die Bismarck nach dem großen Jahrzehnt der eigentlichen Reichsgründung zum Ausbau des von ihm geschaffenen Reiches noch beigesteuert hat. Auch hier finden wir manche große Leistung, aber einige der wichtigsten Bestrebungen, insbesondere seiner inneren Politik, sind doch auch große Fehlschläge gewesen. Man wird das z. B. von seinem Kampfe gegen die katholische Kirche wie von dem gegen die Sozial¬ demokratie in gleichem Maße sagen dürfen. Bismarck hat geglaubt, alle die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/110>, abgerufen am 22.12.2024.