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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Dichterische und unterhaltende Lrzäblungskunst

Romans ablehnt, da in ihm der Krieg doch gar zu sehr von der sensationellen
grauenhaften Seite und in der Art eines bis zum Ekel gehenden Naturalismus
bewältigt worden ist.

Man scheidet von Lily Brauns und Münzers Büchern mit aufrichtigem
Bedauern. Beide wollten den großzügigen Zeitroman geben, den wir heute
ersehnen, beide waren auf ihre Art dafür befähigt, beide aber gaben nur halb¬
fertige, journalistische Werke, weil sie auf die Wirkung der Aktualität ihres
Stoffes nicht verzichten wollten.

Zeit lassen, innerlich ausreifen: wie mancher Geist, der heute gangbare
Unterhaltungsliteratur liefert, hätte uns dann Bedeutendes geschenktI Aber diese
Charakter- und Verhältnisfrage kaun man wohl nur von Individuum zu In¬
dividuum entscheiden. Auch Arthur Brausewetters Roman "Don Juans Er¬
lösung" (Braunschweig, G. Westermann) wäre vielleicht über das Episodische,
das ihn kennzeichnet, hinausgewachsen. Allerdings fehlt diesem Autor im
Grunde doch die echte dichterische Natur. Bei ihm ist ein lebendiges Schrift¬
stellertalent im Werke; er stellt sich eine bestimmte Aufgabe und löst sie nach
bestem Können und Gewissen, hier den Liebes- und Lebensweg eines Provinzstadt-
Don Juans, früheren Offiziers und jetzt erfolgreichen Hoftheaterdramatikers, der
am Anfang des Buches eine große Liebesenttäuschung erlebt, darauf eine Reihe
vonAbenteuern "durchmacht", bei denen sein Herz stets bald wieder abgekühlt ist, bis
er seine große Liebe erfährt; aber nun ist die betreffende Frau ihm unerreichbar,
er muß resignieren . . . Der Titel, die Einkleidung ins Don Juan-Motiv ist.
wie man steht, innerlich nicht gerechtfertigt, denn darum, weil ein Mann eine
Reihe Liebesgeschichten erlebt, ist er noch lange kein Don Juan. Und tiefer
geht hier die Sache nicht. Der Roman löst sich vielmehr in eine Reihe lebendig
gezeichneter, hergebrachter Gesellschaftsbilder auf und würde uus gar nichts be¬
deuten, ginge nicht durch seine Welt die Gestalt jener Frau, an der der Roman¬
held scheitert; in dieser weiblichen Persönlichkeit hat Brausewetter ein psycho¬
logisches Meisterstück geschaffen, dem die Sympathie aller Leser gewiß ist und
wodurch das ganze Buch doch noch fruchtbar wird.

Freilich nicht fruchtbar im Sinne der Arbeit von Otto Ptetsch, einem Neu¬
ling in der literarischen Welt. Sem Ziel ist auch der große Zeitroman. Aber
nicht wie Lily Braun, wie Kurt Münzer, sondern wieder von einer anderen
Seite her: vom sozial-politischen, sogar weltpolitischen Standpunkte aus sucht er
ihn zu gestalten. Er entwirft in seinem wertvollen Buch "Das Gewissen der Welt"
(Cotta, Stuttgart) den Weg eines ostpreußischen Findlings, dessen Jugend in Ost-
preußen, die Auswanderung nach Amerika, den Eintritt in die Industrie der Neuen
Welt, den Aufstieg zum Journalismus, zum Zeitungsleiter und -besttzer in Chikago
und New Aork und die schließliche Beherrschung der Welt durch seine Zeitung
auf Grund seines untrüglichen Gewissens; der Held des Romans stirbt in der
Vorahnung des Weltkrieges, Englands Blutschuld erkennend. Eine starke epische
Kraft entwickelt sich hier, die die Zeitgeschehnisse und geistigen Zusammenhänge seit


Dichterische und unterhaltende Lrzäblungskunst

Romans ablehnt, da in ihm der Krieg doch gar zu sehr von der sensationellen
grauenhaften Seite und in der Art eines bis zum Ekel gehenden Naturalismus
bewältigt worden ist.

Man scheidet von Lily Brauns und Münzers Büchern mit aufrichtigem
Bedauern. Beide wollten den großzügigen Zeitroman geben, den wir heute
ersehnen, beide waren auf ihre Art dafür befähigt, beide aber gaben nur halb¬
fertige, journalistische Werke, weil sie auf die Wirkung der Aktualität ihres
Stoffes nicht verzichten wollten.

Zeit lassen, innerlich ausreifen: wie mancher Geist, der heute gangbare
Unterhaltungsliteratur liefert, hätte uns dann Bedeutendes geschenktI Aber diese
Charakter- und Verhältnisfrage kaun man wohl nur von Individuum zu In¬
dividuum entscheiden. Auch Arthur Brausewetters Roman „Don Juans Er¬
lösung" (Braunschweig, G. Westermann) wäre vielleicht über das Episodische,
das ihn kennzeichnet, hinausgewachsen. Allerdings fehlt diesem Autor im
Grunde doch die echte dichterische Natur. Bei ihm ist ein lebendiges Schrift¬
stellertalent im Werke; er stellt sich eine bestimmte Aufgabe und löst sie nach
bestem Können und Gewissen, hier den Liebes- und Lebensweg eines Provinzstadt-
Don Juans, früheren Offiziers und jetzt erfolgreichen Hoftheaterdramatikers, der
am Anfang des Buches eine große Liebesenttäuschung erlebt, darauf eine Reihe
vonAbenteuern „durchmacht", bei denen sein Herz stets bald wieder abgekühlt ist, bis
er seine große Liebe erfährt; aber nun ist die betreffende Frau ihm unerreichbar,
er muß resignieren . . . Der Titel, die Einkleidung ins Don Juan-Motiv ist.
wie man steht, innerlich nicht gerechtfertigt, denn darum, weil ein Mann eine
Reihe Liebesgeschichten erlebt, ist er noch lange kein Don Juan. Und tiefer
geht hier die Sache nicht. Der Roman löst sich vielmehr in eine Reihe lebendig
gezeichneter, hergebrachter Gesellschaftsbilder auf und würde uus gar nichts be¬
deuten, ginge nicht durch seine Welt die Gestalt jener Frau, an der der Roman¬
held scheitert; in dieser weiblichen Persönlichkeit hat Brausewetter ein psycho¬
logisches Meisterstück geschaffen, dem die Sympathie aller Leser gewiß ist und
wodurch das ganze Buch doch noch fruchtbar wird.

Freilich nicht fruchtbar im Sinne der Arbeit von Otto Ptetsch, einem Neu¬
ling in der literarischen Welt. Sem Ziel ist auch der große Zeitroman. Aber
nicht wie Lily Braun, wie Kurt Münzer, sondern wieder von einer anderen
Seite her: vom sozial-politischen, sogar weltpolitischen Standpunkte aus sucht er
ihn zu gestalten. Er entwirft in seinem wertvollen Buch „Das Gewissen der Welt"
(Cotta, Stuttgart) den Weg eines ostpreußischen Findlings, dessen Jugend in Ost-
preußen, die Auswanderung nach Amerika, den Eintritt in die Industrie der Neuen
Welt, den Aufstieg zum Journalismus, zum Zeitungsleiter und -besttzer in Chikago
und New Aork und die schließliche Beherrschung der Welt durch seine Zeitung
auf Grund seines untrüglichen Gewissens; der Held des Romans stirbt in der
Vorahnung des Weltkrieges, Englands Blutschuld erkennend. Eine starke epische
Kraft entwickelt sich hier, die die Zeitgeschehnisse und geistigen Zusammenhänge seit


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[0104] Dichterische und unterhaltende Lrzäblungskunst Romans ablehnt, da in ihm der Krieg doch gar zu sehr von der sensationellen grauenhaften Seite und in der Art eines bis zum Ekel gehenden Naturalismus bewältigt worden ist. Man scheidet von Lily Brauns und Münzers Büchern mit aufrichtigem Bedauern. Beide wollten den großzügigen Zeitroman geben, den wir heute ersehnen, beide waren auf ihre Art dafür befähigt, beide aber gaben nur halb¬ fertige, journalistische Werke, weil sie auf die Wirkung der Aktualität ihres Stoffes nicht verzichten wollten. Zeit lassen, innerlich ausreifen: wie mancher Geist, der heute gangbare Unterhaltungsliteratur liefert, hätte uns dann Bedeutendes geschenktI Aber diese Charakter- und Verhältnisfrage kaun man wohl nur von Individuum zu In¬ dividuum entscheiden. Auch Arthur Brausewetters Roman „Don Juans Er¬ lösung" (Braunschweig, G. Westermann) wäre vielleicht über das Episodische, das ihn kennzeichnet, hinausgewachsen. Allerdings fehlt diesem Autor im Grunde doch die echte dichterische Natur. Bei ihm ist ein lebendiges Schrift¬ stellertalent im Werke; er stellt sich eine bestimmte Aufgabe und löst sie nach bestem Können und Gewissen, hier den Liebes- und Lebensweg eines Provinzstadt- Don Juans, früheren Offiziers und jetzt erfolgreichen Hoftheaterdramatikers, der am Anfang des Buches eine große Liebesenttäuschung erlebt, darauf eine Reihe vonAbenteuern „durchmacht", bei denen sein Herz stets bald wieder abgekühlt ist, bis er seine große Liebe erfährt; aber nun ist die betreffende Frau ihm unerreichbar, er muß resignieren . . . Der Titel, die Einkleidung ins Don Juan-Motiv ist. wie man steht, innerlich nicht gerechtfertigt, denn darum, weil ein Mann eine Reihe Liebesgeschichten erlebt, ist er noch lange kein Don Juan. Und tiefer geht hier die Sache nicht. Der Roman löst sich vielmehr in eine Reihe lebendig gezeichneter, hergebrachter Gesellschaftsbilder auf und würde uus gar nichts be¬ deuten, ginge nicht durch seine Welt die Gestalt jener Frau, an der der Roman¬ held scheitert; in dieser weiblichen Persönlichkeit hat Brausewetter ein psycho¬ logisches Meisterstück geschaffen, dem die Sympathie aller Leser gewiß ist und wodurch das ganze Buch doch noch fruchtbar wird. Freilich nicht fruchtbar im Sinne der Arbeit von Otto Ptetsch, einem Neu¬ ling in der literarischen Welt. Sem Ziel ist auch der große Zeitroman. Aber nicht wie Lily Braun, wie Kurt Münzer, sondern wieder von einer anderen Seite her: vom sozial-politischen, sogar weltpolitischen Standpunkte aus sucht er ihn zu gestalten. Er entwirft in seinem wertvollen Buch „Das Gewissen der Welt" (Cotta, Stuttgart) den Weg eines ostpreußischen Findlings, dessen Jugend in Ost- preußen, die Auswanderung nach Amerika, den Eintritt in die Industrie der Neuen Welt, den Aufstieg zum Journalismus, zum Zeitungsleiter und -besttzer in Chikago und New Aork und die schließliche Beherrschung der Welt durch seine Zeitung auf Grund seines untrüglichen Gewissens; der Held des Romans stirbt in der Vorahnung des Weltkrieges, Englands Blutschuld erkennend. Eine starke epische Kraft entwickelt sich hier, die die Zeitgeschehnisse und geistigen Zusammenhänge seit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/104>, abgerufen am 23.12.2024.