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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Das lNannschcifts-Ariegsarchiv

den günstigsten Bedingungen zur Äußerung bringen. Man wird darum plan¬
mäßige Ermittelungen nicht bis zu Kriegsende hinausschieben, sondern sie so¬
lange die Masse der Krieger erreichbar ist vornehmen: in ruhiger Umgebung,
wenn der Mann bereits Abstand zu dem Erlebten gewann, und sich von den
Äußerungen der Kompagniegenossen überwacht weiß. Nicht etwa in der Nähe
der Front oder in Lazaretten wird man den günstigsten Ort dafür erblicke",
sondern in jenen Kompagnien der Stammbataillone, durch die der Strom der
auf der Rückkehr zur Front oder in der Entlassung befindlichen Krieger un¬
übersehbar hindurchflutet."

Als Verwirklichung solcher Gedankengänge entstand vor Jahresfrist eine
Gattung Kriegsarchive, die nur weniges mit den zentralen, bei einzelnen
Kriegsministerien befindlichen Einrichtungen gleichen Namens gemein hat, wohl
aber ihre natürliche Ergänzung bildet. Schon der technische Apparat ist ein
neuartiger. Bei dem Regiment, das ich hier vornehmlich im Auge habe, hat
sich jeder aus dem Feld oder dem Lazarett Anlangende auf dem Archiv zu
melden. Dort erfolgt eine zwanglose aber eingehende Unterhaltung, die dem
Mann die Zunge lösen soll, und dem Archivar bald sagt, was er von jenem
erwarten kann: ob er zur Abschrift Tagebuch, Kriegsgedichte, ausführlichere
Feldpostbriefe zur Verfügung zu stellen hat, oder über welches besondere Ereignis
er Bericht zu erstatten vermag. Grundsätzlich wird angestrebt, daß sogar der
völlig Schreibmigewandte sich mit der Niederschrift seiner Erlebnisse versucht. Eine
Weigerung erfolgt fast nie. Den einfachen Mann lockt meist die Aussicht, auf
solche persönliche Art zur Regimentsgeschichte beizutragen, und einen saubern
Schreibmaschinendurchschlag seiner Mitteilungen zu erlangen. Wie leicht zu
ersehen ist, liegt der Hauptwert dieser Sammeltätigkeit auf lokalgeschichtlichem
Gebiet. Im heutigen Krieg löst sich ja nicht nur die Gefechtshandlung des
Bataillons in die besondern Handlungen der Kompagnien und Züge auf,
sondern auch die Tätigkeit eines Zuges ist meist keine einheitliche mehr, und
zerfällt in eine Menge selbständiger Einzelhandlungen. Da ist es von nicht
zu unterschätzender Wichtigkeit, wenn die zusammenfassenden Berichte der Ba¬
taillone und Kompagnien eine Ergänzung erhalten in den Schilderungen der
einzelnen Teilnehmer. Zugleich bilden diese aber unersetzliche Beiträge zur
Kenntnis des Seelenlebens des deutschen Soldaten. Hier schillert das Front¬
erlebnis in vielen bunten und derben Farben, und gerade die seltenen ur¬
sprünglichen Äußerungen, die Kehrreimgedichte der Kompagnien, und die bald
sentimentalen, bald zu erstaunlicher Bildkraft sich aufraffenden Lieder, an denen
das Volk selbst im Schützengraben schuf, werden so der Vergessenheit entzogen.

Was in diesen Aufzeichnungen kriegstechnisch von Belang ist, wird nach
Stichworten vermerkt und liegt, in einer Kartothek geordnet, jederzeit zur Ver¬
wendung vor. Hauptzweck wird dieses Kriegstechnische in der eigentlichen
Erhebungsarbeit des Archivs. Sie erfolgt mittels eines Fragebogens, dessen
Wortlaut das Ergebnis überaus mühevoller und vorsichtiger Vorbereitungen


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den günstigsten Bedingungen zur Äußerung bringen. Man wird darum plan¬
mäßige Ermittelungen nicht bis zu Kriegsende hinausschieben, sondern sie so¬
lange die Masse der Krieger erreichbar ist vornehmen: in ruhiger Umgebung,
wenn der Mann bereits Abstand zu dem Erlebten gewann, und sich von den
Äußerungen der Kompagniegenossen überwacht weiß. Nicht etwa in der Nähe
der Front oder in Lazaretten wird man den günstigsten Ort dafür erblicke«,
sondern in jenen Kompagnien der Stammbataillone, durch die der Strom der
auf der Rückkehr zur Front oder in der Entlassung befindlichen Krieger un¬
übersehbar hindurchflutet."

Als Verwirklichung solcher Gedankengänge entstand vor Jahresfrist eine
Gattung Kriegsarchive, die nur weniges mit den zentralen, bei einzelnen
Kriegsministerien befindlichen Einrichtungen gleichen Namens gemein hat, wohl
aber ihre natürliche Ergänzung bildet. Schon der technische Apparat ist ein
neuartiger. Bei dem Regiment, das ich hier vornehmlich im Auge habe, hat
sich jeder aus dem Feld oder dem Lazarett Anlangende auf dem Archiv zu
melden. Dort erfolgt eine zwanglose aber eingehende Unterhaltung, die dem
Mann die Zunge lösen soll, und dem Archivar bald sagt, was er von jenem
erwarten kann: ob er zur Abschrift Tagebuch, Kriegsgedichte, ausführlichere
Feldpostbriefe zur Verfügung zu stellen hat, oder über welches besondere Ereignis
er Bericht zu erstatten vermag. Grundsätzlich wird angestrebt, daß sogar der
völlig Schreibmigewandte sich mit der Niederschrift seiner Erlebnisse versucht. Eine
Weigerung erfolgt fast nie. Den einfachen Mann lockt meist die Aussicht, auf
solche persönliche Art zur Regimentsgeschichte beizutragen, und einen saubern
Schreibmaschinendurchschlag seiner Mitteilungen zu erlangen. Wie leicht zu
ersehen ist, liegt der Hauptwert dieser Sammeltätigkeit auf lokalgeschichtlichem
Gebiet. Im heutigen Krieg löst sich ja nicht nur die Gefechtshandlung des
Bataillons in die besondern Handlungen der Kompagnien und Züge auf,
sondern auch die Tätigkeit eines Zuges ist meist keine einheitliche mehr, und
zerfällt in eine Menge selbständiger Einzelhandlungen. Da ist es von nicht
zu unterschätzender Wichtigkeit, wenn die zusammenfassenden Berichte der Ba¬
taillone und Kompagnien eine Ergänzung erhalten in den Schilderungen der
einzelnen Teilnehmer. Zugleich bilden diese aber unersetzliche Beiträge zur
Kenntnis des Seelenlebens des deutschen Soldaten. Hier schillert das Front¬
erlebnis in vielen bunten und derben Farben, und gerade die seltenen ur¬
sprünglichen Äußerungen, die Kehrreimgedichte der Kompagnien, und die bald
sentimentalen, bald zu erstaunlicher Bildkraft sich aufraffenden Lieder, an denen
das Volk selbst im Schützengraben schuf, werden so der Vergessenheit entzogen.

Was in diesen Aufzeichnungen kriegstechnisch von Belang ist, wird nach
Stichworten vermerkt und liegt, in einer Kartothek geordnet, jederzeit zur Ver¬
wendung vor. Hauptzweck wird dieses Kriegstechnische in der eigentlichen
Erhebungsarbeit des Archivs. Sie erfolgt mittels eines Fragebogens, dessen
Wortlaut das Ergebnis überaus mühevoller und vorsichtiger Vorbereitungen


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[0068] Das lNannschcifts-Ariegsarchiv den günstigsten Bedingungen zur Äußerung bringen. Man wird darum plan¬ mäßige Ermittelungen nicht bis zu Kriegsende hinausschieben, sondern sie so¬ lange die Masse der Krieger erreichbar ist vornehmen: in ruhiger Umgebung, wenn der Mann bereits Abstand zu dem Erlebten gewann, und sich von den Äußerungen der Kompagniegenossen überwacht weiß. Nicht etwa in der Nähe der Front oder in Lazaretten wird man den günstigsten Ort dafür erblicke«, sondern in jenen Kompagnien der Stammbataillone, durch die der Strom der auf der Rückkehr zur Front oder in der Entlassung befindlichen Krieger un¬ übersehbar hindurchflutet." Als Verwirklichung solcher Gedankengänge entstand vor Jahresfrist eine Gattung Kriegsarchive, die nur weniges mit den zentralen, bei einzelnen Kriegsministerien befindlichen Einrichtungen gleichen Namens gemein hat, wohl aber ihre natürliche Ergänzung bildet. Schon der technische Apparat ist ein neuartiger. Bei dem Regiment, das ich hier vornehmlich im Auge habe, hat sich jeder aus dem Feld oder dem Lazarett Anlangende auf dem Archiv zu melden. Dort erfolgt eine zwanglose aber eingehende Unterhaltung, die dem Mann die Zunge lösen soll, und dem Archivar bald sagt, was er von jenem erwarten kann: ob er zur Abschrift Tagebuch, Kriegsgedichte, ausführlichere Feldpostbriefe zur Verfügung zu stellen hat, oder über welches besondere Ereignis er Bericht zu erstatten vermag. Grundsätzlich wird angestrebt, daß sogar der völlig Schreibmigewandte sich mit der Niederschrift seiner Erlebnisse versucht. Eine Weigerung erfolgt fast nie. Den einfachen Mann lockt meist die Aussicht, auf solche persönliche Art zur Regimentsgeschichte beizutragen, und einen saubern Schreibmaschinendurchschlag seiner Mitteilungen zu erlangen. Wie leicht zu ersehen ist, liegt der Hauptwert dieser Sammeltätigkeit auf lokalgeschichtlichem Gebiet. Im heutigen Krieg löst sich ja nicht nur die Gefechtshandlung des Bataillons in die besondern Handlungen der Kompagnien und Züge auf, sondern auch die Tätigkeit eines Zuges ist meist keine einheitliche mehr, und zerfällt in eine Menge selbständiger Einzelhandlungen. Da ist es von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, wenn die zusammenfassenden Berichte der Ba¬ taillone und Kompagnien eine Ergänzung erhalten in den Schilderungen der einzelnen Teilnehmer. Zugleich bilden diese aber unersetzliche Beiträge zur Kenntnis des Seelenlebens des deutschen Soldaten. Hier schillert das Front¬ erlebnis in vielen bunten und derben Farben, und gerade die seltenen ur¬ sprünglichen Äußerungen, die Kehrreimgedichte der Kompagnien, und die bald sentimentalen, bald zu erstaunlicher Bildkraft sich aufraffenden Lieder, an denen das Volk selbst im Schützengraben schuf, werden so der Vergessenheit entzogen. Was in diesen Aufzeichnungen kriegstechnisch von Belang ist, wird nach Stichworten vermerkt und liegt, in einer Kartothek geordnet, jederzeit zur Ver¬ wendung vor. Hauptzweck wird dieses Kriegstechnische in der eigentlichen Erhebungsarbeit des Archivs. Sie erfolgt mittels eines Fragebogens, dessen Wortlaut das Ergebnis überaus mühevoller und vorsichtiger Vorbereitungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/68>, abgerufen am 15.01.2025.