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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

Spitteler den europäischen Krieg mit einer Tragödie und einem Leichenzuge.
"Wenn ein Leichenzug vorübergeht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut
ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da?
Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten sie sich dabei? Still, in er¬
griffenen, demütigen, ernstem Schweigen."

So sei es auch jetzt. "Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von
internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere
Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab! Dann stehen
wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt".

Ja, wenn nur der ganze Vortrag ein wenig von dieser Andacht und schweigenden
Ergriffenheit gehabt hätte! Statt dessen ist er in einem burschikosen, teils witzigen,
teils höhnisch'spottenden Ton gehalten. Man kann es keinem Deutschen verargen,
wenn er sich mit tiefer Betrübnis fragt: Ist denn hier die Kulturgemeinschaft,
die Spitteler bisher mit dem Deutschtum verbunden hat, so völlig verschwunden?
Ich will hier nicht noch einmal auf die beleidigenden Äußerungen Spittelers
eingehen, da sie längst zurückgewiesen sind. Spittelers Vortrag zeugt nicht von
einem politischen Verständnis für internationale Verwicklungen. Er äußert sich
möglichst unpolitisch, derb. "In der Tat läßt sich die ganze, Weisheit der
Weltgeschichte in einen einzigen Satz zusammenfassen: Jeder Staat raubt, so
viel er kann. Punktum. Mit Verdauungspausen und Ohnmachtsanfällen,
welche man .Frieden' nennt .... Und zwar je genialer ein Staatsmann,
desto ruchloser. Bitte diesen Satz nicht umkehren!" Kann man verständnisloser
von der Kulturaufgabe des Staates und von den tragischen Konflikten zwischen
den einzelnen Staaten reden? Es scheint, daß Spitteler die Schweiz für den
einzigen Staat hält, der sich von der unmoralischen Politik frei hält. "Wir
treiben ja keine hohe, auswärtige Politik" mit Bündnissen. Ich würde diese
Sätze des ganz unpolitisch denkenden Spitteler nicht anführen, wenn sie nicht
zeigten, wie schwer es in der Schweiz vielen ist, ein Verständnis für die Auf¬
gaben eines Großstaates wie Deutschland zu gewinnen, der allein schon durch
seine Existenz im Zentrum Europas und seine ungeschützten Grenzen zur mili¬
tärischen Machtentfaltung gezwungen ist, um sich zu verteidigen. Wir haben
es erlebt, daß ohne jeden deutschen Übergriff unsere steigende Industrie,
unser zunehmender Handel, unsere Schiffahrt nach fremden Weltteilen die Ge¬
lüste Englands erweckten, den unbequemen Konkurrenten loszuwerden. Die
Sorge eines Staates, wie seine wachsende Einwohnerzahl Brot finde, die kul¬
turelle Friedenstätigkeit, wird von Spitteler als nicht vorhanden betrachtet.


über den Krieg abzugeben und die Schuld der einzelnen Völker gerecht abzuwägen." Die¬
selbe Mahnung spricht die verständige Schrift von Roman Boos aus (Der europäische Krieg
und unser schweizer Krieg, Zürich 1915 Seite 24): In der Tat ist es eine große Versuchung
für ein neutrales Land, daß es seine passive Rolle zu einer Art Weltrichteramt benutzt.
Boos führt Anzeichen eines solchen hochmütigen Richters an.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

Spitteler den europäischen Krieg mit einer Tragödie und einem Leichenzuge.
„Wenn ein Leichenzug vorübergeht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut
ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da?
Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten sie sich dabei? Still, in er¬
griffenen, demütigen, ernstem Schweigen."

So sei es auch jetzt. „Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von
internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere
Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab! Dann stehen
wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt".

Ja, wenn nur der ganze Vortrag ein wenig von dieser Andacht und schweigenden
Ergriffenheit gehabt hätte! Statt dessen ist er in einem burschikosen, teils witzigen,
teils höhnisch'spottenden Ton gehalten. Man kann es keinem Deutschen verargen,
wenn er sich mit tiefer Betrübnis fragt: Ist denn hier die Kulturgemeinschaft,
die Spitteler bisher mit dem Deutschtum verbunden hat, so völlig verschwunden?
Ich will hier nicht noch einmal auf die beleidigenden Äußerungen Spittelers
eingehen, da sie längst zurückgewiesen sind. Spittelers Vortrag zeugt nicht von
einem politischen Verständnis für internationale Verwicklungen. Er äußert sich
möglichst unpolitisch, derb. „In der Tat läßt sich die ganze, Weisheit der
Weltgeschichte in einen einzigen Satz zusammenfassen: Jeder Staat raubt, so
viel er kann. Punktum. Mit Verdauungspausen und Ohnmachtsanfällen,
welche man .Frieden' nennt .... Und zwar je genialer ein Staatsmann,
desto ruchloser. Bitte diesen Satz nicht umkehren!" Kann man verständnisloser
von der Kulturaufgabe des Staates und von den tragischen Konflikten zwischen
den einzelnen Staaten reden? Es scheint, daß Spitteler die Schweiz für den
einzigen Staat hält, der sich von der unmoralischen Politik frei hält. „Wir
treiben ja keine hohe, auswärtige Politik" mit Bündnissen. Ich würde diese
Sätze des ganz unpolitisch denkenden Spitteler nicht anführen, wenn sie nicht
zeigten, wie schwer es in der Schweiz vielen ist, ein Verständnis für die Auf¬
gaben eines Großstaates wie Deutschland zu gewinnen, der allein schon durch
seine Existenz im Zentrum Europas und seine ungeschützten Grenzen zur mili¬
tärischen Machtentfaltung gezwungen ist, um sich zu verteidigen. Wir haben
es erlebt, daß ohne jeden deutschen Übergriff unsere steigende Industrie,
unser zunehmender Handel, unsere Schiffahrt nach fremden Weltteilen die Ge¬
lüste Englands erweckten, den unbequemen Konkurrenten loszuwerden. Die
Sorge eines Staates, wie seine wachsende Einwohnerzahl Brot finde, die kul¬
turelle Friedenstätigkeit, wird von Spitteler als nicht vorhanden betrachtet.


über den Krieg abzugeben und die Schuld der einzelnen Völker gerecht abzuwägen." Die¬
selbe Mahnung spricht die verständige Schrift von Roman Boos aus (Der europäische Krieg
und unser schweizer Krieg, Zürich 1915 Seite 24): In der Tat ist es eine große Versuchung
für ein neutrales Land, daß es seine passive Rolle zu einer Art Weltrichteramt benutzt.
Boos führt Anzeichen eines solchen hochmütigen Richters an.
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[0056] Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland Spitteler den europäischen Krieg mit einer Tragödie und einem Leichenzuge. „Wenn ein Leichenzug vorübergeht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten sie sich dabei? Still, in er¬ griffenen, demütigen, ernstem Schweigen." So sei es auch jetzt. „Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab! Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt". Ja, wenn nur der ganze Vortrag ein wenig von dieser Andacht und schweigenden Ergriffenheit gehabt hätte! Statt dessen ist er in einem burschikosen, teils witzigen, teils höhnisch'spottenden Ton gehalten. Man kann es keinem Deutschen verargen, wenn er sich mit tiefer Betrübnis fragt: Ist denn hier die Kulturgemeinschaft, die Spitteler bisher mit dem Deutschtum verbunden hat, so völlig verschwunden? Ich will hier nicht noch einmal auf die beleidigenden Äußerungen Spittelers eingehen, da sie längst zurückgewiesen sind. Spittelers Vortrag zeugt nicht von einem politischen Verständnis für internationale Verwicklungen. Er äußert sich möglichst unpolitisch, derb. „In der Tat läßt sich die ganze, Weisheit der Weltgeschichte in einen einzigen Satz zusammenfassen: Jeder Staat raubt, so viel er kann. Punktum. Mit Verdauungspausen und Ohnmachtsanfällen, welche man .Frieden' nennt .... Und zwar je genialer ein Staatsmann, desto ruchloser. Bitte diesen Satz nicht umkehren!" Kann man verständnisloser von der Kulturaufgabe des Staates und von den tragischen Konflikten zwischen den einzelnen Staaten reden? Es scheint, daß Spitteler die Schweiz für den einzigen Staat hält, der sich von der unmoralischen Politik frei hält. „Wir treiben ja keine hohe, auswärtige Politik" mit Bündnissen. Ich würde diese Sätze des ganz unpolitisch denkenden Spitteler nicht anführen, wenn sie nicht zeigten, wie schwer es in der Schweiz vielen ist, ein Verständnis für die Auf¬ gaben eines Großstaates wie Deutschland zu gewinnen, der allein schon durch seine Existenz im Zentrum Europas und seine ungeschützten Grenzen zur mili¬ tärischen Machtentfaltung gezwungen ist, um sich zu verteidigen. Wir haben es erlebt, daß ohne jeden deutschen Übergriff unsere steigende Industrie, unser zunehmender Handel, unsere Schiffahrt nach fremden Weltteilen die Ge¬ lüste Englands erweckten, den unbequemen Konkurrenten loszuwerden. Die Sorge eines Staates, wie seine wachsende Einwohnerzahl Brot finde, die kul¬ turelle Friedenstätigkeit, wird von Spitteler als nicht vorhanden betrachtet. über den Krieg abzugeben und die Schuld der einzelnen Völker gerecht abzuwägen." Die¬ selbe Mahnung spricht die verständige Schrift von Roman Boos aus (Der europäische Krieg und unser schweizer Krieg, Zürich 1915 Seite 24): In der Tat ist es eine große Versuchung für ein neutrales Land, daß es seine passive Rolle zu einer Art Weltrichteramt benutzt. Boos führt Anzeichen eines solchen hochmütigen Richters an.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/56>, abgerufen am 15.01.2025.