dualismus hat in der deutschen Schweiz ein eigenartiges, selbständiges Kultur¬ zentrum geschaffen. Wenn auch Gottfried Keller nichts davon wissen wollte, daß es eine schweizerische Nationalliteratur gebe, so kann man doch mit dem¬ selben Recht wie von einer schwäbischen Dichtung und einer Münchener Kunst von Schweizer Literatur und Kunst reden. Der welsche Schweizer liest viel weniger die Literatur, die aus der deutschen Schweiz zu ihm kommt, als der deutsche Schweizer die Erzeugnisse der welschen Schweiz. Der Zusammenhalt der Schweiz beruht doch mehr auf den deutschsprechenden Kantonen. Ein dritter Grund wird von Rappard (a. a. O. Seite 33) so formuliert: Dem Franzosen wie dem französischen Schweizer eignet ein Hang zur logischen Klar¬ heit. "Sein lateinisches Bedürfnis nach Klarheit und seine geistige Ungeduld verführen ihn leicht im Erfassen komplizierter menschlicher Verhältnisse zu frag¬ lichen, oft ganz schablonenhaft verzerrenden Vereinfachungen." Das in Frank¬ reich fabrizierte Schreckbild deutscher Barbarei hat vielen eingeleuchtet. So herrscht bei vielen Welsch-Schweizern blinder Deutschenhaß. Die Gefahr, daß die geistige Gemeinschaft der Schweiz völlig in die Brüche ginge, war eine Zeit lang geradezu bedrohlich. Das Buch "Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg. Eine nationale Kundgebung", Zürich 1915, hat wesentlich zur Einigung beigetragen. 36 Verfasser haben sich der Hauptsache nach über¬ einstimmend zur Frage der Neutralität ausgesprochen, 5 davon in französischer Sprache. Die gemeinsame Überzeugung besteht darin: Neutralität verpflichtet die Schweizer nicht dazu, überhaupt keine Meinung zu haben, sondern sie mit Taktgefühl und Gerechtigkeitssinn zu äußern, nicht den blinden Haß der Par¬ teien mitzumachen, sondern das Gute bei allen Nationen anzuerkennen und die Verständigung unter den streitenden Parteien zu fördern. Auch der Vortrag von Karl Spitteler "Unser Schweizer Standpunkt", Zürich 1915, war zu dem Zweck gehalten, die drohende Kluft zwischen Deutsch-Schweizern und Welsch-Schweizern zu überbrücken. Der Vortrag war nicht an die Adresse der Deutschen gerichtet, sondern an die der Schweizer. In der Schweiz hat der Vortrag tatsächlich zur Einigung beigetragen, und wurde von manchen geradezu als das lösende Wort betrachtet. Er enthält die Mahnung, der Schweizer müsse zunächst den Schweizer verstehen. Erst in zweiter Linie komme die Verständigung mit den andern Nationen. Das beste an dem Vortrag ist der Schluß (Seite 22 bis 23). "Die patriotischen Phantasien von einer vor¬ bildlichen (oder schiedsrichterlichen) Mission der Schweiz, bitte möglichst leise! Ehe wir andern Völkern zum Vorbild dienen könnten, müßten wir erst unsere eigenen Aufgaben mustergültig lösen. Mir scheint aber, das jüngste Einigungs¬ examen haben wir nicht gerade sehr glänzend bestanden".*) Dann vergleicht
*) Ebenso versichert Professor Eberhard Bischer aus Basel (Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg Seite 211): "Wir geben uns nicht der törichten Einbildung hin, daß wir Schweizer vermöge unserer einzigartigen Lage befähigt seien, ein objektives Urteil
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland
dualismus hat in der deutschen Schweiz ein eigenartiges, selbständiges Kultur¬ zentrum geschaffen. Wenn auch Gottfried Keller nichts davon wissen wollte, daß es eine schweizerische Nationalliteratur gebe, so kann man doch mit dem¬ selben Recht wie von einer schwäbischen Dichtung und einer Münchener Kunst von Schweizer Literatur und Kunst reden. Der welsche Schweizer liest viel weniger die Literatur, die aus der deutschen Schweiz zu ihm kommt, als der deutsche Schweizer die Erzeugnisse der welschen Schweiz. Der Zusammenhalt der Schweiz beruht doch mehr auf den deutschsprechenden Kantonen. Ein dritter Grund wird von Rappard (a. a. O. Seite 33) so formuliert: Dem Franzosen wie dem französischen Schweizer eignet ein Hang zur logischen Klar¬ heit. „Sein lateinisches Bedürfnis nach Klarheit und seine geistige Ungeduld verführen ihn leicht im Erfassen komplizierter menschlicher Verhältnisse zu frag¬ lichen, oft ganz schablonenhaft verzerrenden Vereinfachungen." Das in Frank¬ reich fabrizierte Schreckbild deutscher Barbarei hat vielen eingeleuchtet. So herrscht bei vielen Welsch-Schweizern blinder Deutschenhaß. Die Gefahr, daß die geistige Gemeinschaft der Schweiz völlig in die Brüche ginge, war eine Zeit lang geradezu bedrohlich. Das Buch „Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg. Eine nationale Kundgebung", Zürich 1915, hat wesentlich zur Einigung beigetragen. 36 Verfasser haben sich der Hauptsache nach über¬ einstimmend zur Frage der Neutralität ausgesprochen, 5 davon in französischer Sprache. Die gemeinsame Überzeugung besteht darin: Neutralität verpflichtet die Schweizer nicht dazu, überhaupt keine Meinung zu haben, sondern sie mit Taktgefühl und Gerechtigkeitssinn zu äußern, nicht den blinden Haß der Par¬ teien mitzumachen, sondern das Gute bei allen Nationen anzuerkennen und die Verständigung unter den streitenden Parteien zu fördern. Auch der Vortrag von Karl Spitteler „Unser Schweizer Standpunkt", Zürich 1915, war zu dem Zweck gehalten, die drohende Kluft zwischen Deutsch-Schweizern und Welsch-Schweizern zu überbrücken. Der Vortrag war nicht an die Adresse der Deutschen gerichtet, sondern an die der Schweizer. In der Schweiz hat der Vortrag tatsächlich zur Einigung beigetragen, und wurde von manchen geradezu als das lösende Wort betrachtet. Er enthält die Mahnung, der Schweizer müsse zunächst den Schweizer verstehen. Erst in zweiter Linie komme die Verständigung mit den andern Nationen. Das beste an dem Vortrag ist der Schluß (Seite 22 bis 23). „Die patriotischen Phantasien von einer vor¬ bildlichen (oder schiedsrichterlichen) Mission der Schweiz, bitte möglichst leise! Ehe wir andern Völkern zum Vorbild dienen könnten, müßten wir erst unsere eigenen Aufgaben mustergültig lösen. Mir scheint aber, das jüngste Einigungs¬ examen haben wir nicht gerade sehr glänzend bestanden".*) Dann vergleicht
*) Ebenso versichert Professor Eberhard Bischer aus Basel (Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg Seite 211): „Wir geben uns nicht der törichten Einbildung hin, daß wir Schweizer vermöge unserer einzigartigen Lage befähigt seien, ein objektives Urteil
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Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland
dualismus hat in der deutschen Schweiz ein eigenartiges, selbständiges Kultur¬
zentrum geschaffen. Wenn auch Gottfried Keller nichts davon wissen wollte,
daß es eine schweizerische Nationalliteratur gebe, so kann man doch mit dem¬
selben Recht wie von einer schwäbischen Dichtung und einer Münchener Kunst
von Schweizer Literatur und Kunst reden. Der welsche Schweizer liest viel
weniger die Literatur, die aus der deutschen Schweiz zu ihm kommt, als der
deutsche Schweizer die Erzeugnisse der welschen Schweiz. Der Zusammenhalt
der Schweiz beruht doch mehr auf den deutschsprechenden Kantonen. Ein
dritter Grund wird von Rappard (a. a. O. Seite 33) so formuliert: Dem
Franzosen wie dem französischen Schweizer eignet ein Hang zur logischen Klar¬
heit. „Sein lateinisches Bedürfnis nach Klarheit und seine geistige Ungeduld
verführen ihn leicht im Erfassen komplizierter menschlicher Verhältnisse zu frag¬
lichen, oft ganz schablonenhaft verzerrenden Vereinfachungen." Das in Frank¬
reich fabrizierte Schreckbild deutscher Barbarei hat vielen eingeleuchtet. So
herrscht bei vielen Welsch-Schweizern blinder Deutschenhaß. Die Gefahr, daß
die geistige Gemeinschaft der Schweiz völlig in die Brüche ginge, war eine
Zeit lang geradezu bedrohlich. Das Buch „Wir Schweizer, unsere Neutralität
und der Krieg. Eine nationale Kundgebung", Zürich 1915, hat wesentlich
zur Einigung beigetragen. 36 Verfasser haben sich der Hauptsache nach über¬
einstimmend zur Frage der Neutralität ausgesprochen, 5 davon in französischer
Sprache. Die gemeinsame Überzeugung besteht darin: Neutralität verpflichtet
die Schweizer nicht dazu, überhaupt keine Meinung zu haben, sondern sie mit
Taktgefühl und Gerechtigkeitssinn zu äußern, nicht den blinden Haß der Par¬
teien mitzumachen, sondern das Gute bei allen Nationen anzuerkennen und die
Verständigung unter den streitenden Parteien zu fördern. Auch der Vortrag
von Karl Spitteler „Unser Schweizer Standpunkt", Zürich 1915, war zu dem
Zweck gehalten, die drohende Kluft zwischen Deutsch-Schweizern und
Welsch-Schweizern zu überbrücken. Der Vortrag war nicht an die Adresse
der Deutschen gerichtet, sondern an die der Schweizer. In der Schweiz hat
der Vortrag tatsächlich zur Einigung beigetragen, und wurde von manchen
geradezu als das lösende Wort betrachtet. Er enthält die Mahnung, der
Schweizer müsse zunächst den Schweizer verstehen. Erst in zweiter Linie komme
die Verständigung mit den andern Nationen. Das beste an dem Vortrag ist
der Schluß (Seite 22 bis 23). „Die patriotischen Phantasien von einer vor¬
bildlichen (oder schiedsrichterlichen) Mission der Schweiz, bitte möglichst leise!
Ehe wir andern Völkern zum Vorbild dienen könnten, müßten wir erst unsere
eigenen Aufgaben mustergültig lösen. Mir scheint aber, das jüngste Einigungs¬
examen haben wir nicht gerade sehr glänzend bestanden".*) Dann vergleicht
*) Ebenso versichert Professor Eberhard Bischer aus Basel (Wir Schweizer, unsere
Neutralität und der Krieg Seite 211): „Wir geben uns nicht der törichten Einbildung hin,
daß wir Schweizer vermöge unserer einzigartigen Lage befähigt seien, ein objektives Urteil
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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/55>, abgerufen am 25.01.2025.
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