Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

Geßler, unter der Überschrift "Zwischen zwei Kulturen" (in dem Sammelband
"Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg" Seite 78 bis 88), wie
viel er der deutschen und der französischen Literatur verdanke. Diese Deutsch¬
schweizer beweisen damit die stärkere Fähigkeit des deutschen Geistes, fremden
Kulturen gerecht zu werden. Etwas äußerlich faßt Konrad Falke (Der
schweizerische Kulturwille, Zürich 1914) die schweizerische Kultur auf, wenn er
als ihr erstes Erfordernis den Unterricht in den drei Landessprachen für alle
Schweizer Gymnasien verlangt. Als wesentliches Hilfsmittel für die Schaffung
einer Schweizer Kultureinheit sieht er "ein für alle Gymnasien gleichlautendes
Lesebuch" an, "das aus den drei Literaturen in den drei Sprachen Original¬
proben enthält." (Seite 23). Er will sogar den Unterricht in den klassischen
Sprachen dieser Forderung zu Liebe einschränken. Falles Vorschlage
haben auch in der Schweiz Ablehnung erfahren.*) Als der nationale
Wille der Schweiz kann vielmehr gelten: 1. politisch zusammenzuhalten.
2. die demokratischen Einrichtungen des Landes zum Gedeihen des Vater¬
landes zu pflegen. 3. die kulturellen Gegensätze nicht gegen einander
auszuspielen, sondern zur Bereicherung des eigenen Wesens zu benutzen.
4. wenn möglich, darüber hinaus zur Versöhnung der Völker, vielleicht gar
zum Weltfrieden etwas beitragen zu können.

Eine starke Krisis bekam die nationale Einheit im Anfang des Weltkrieges.
Oeri hatte die Deutsch-Schweizer richtig beurteilt. Bei ihnen stand das Staats¬
gefühl voran. Aber über die Welsch-Schweizer hatte er sich getäuscht. Fast
ausnahmslos haben sie für Frankreich Partei ergriffen, ohne zu fragen, ob
dies den Deutsch-Schweizern gefallen werde. Die französischen Lügen über
deutsche Greuel sind dort in weitem Umfange geglaubt worden. Professor
Rappard in Genf erklärt selbst, es gelte den meisten Welsch-Schweizern als
eine ausgemachte Sache, "daß die Zentralmächte und in erster Linie Deutsch¬
land für diesen Krieg und für die ihn bezeichnende besondere Härte und grau¬
same Kriegführung verantwortlich sind." ("Zur nationalen Verständigung und
Einigkeit", Zürich, 1915 Seite 29). Woher diese erstaunliche Leichtgläubigkeit
und Urteilslosigkeit? Sie ging soweit, daß die eidgenössische PostVerwaltung die
Versendung von Drucksachen über deutsche Greuel von Lausanne aus untersagen
mußte. Der erste Grund ist die südländische Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit
im Urteilen und Verurteilen. Das heißere Blut verhindert ein ruhiges nach¬
prüfen, eine objektive Kritik. Der Deutsch-Schweizer ist viel nüchterner; der
deutsche Geist der Kritik und Selbstkritik eignet ihm viel mehr. Als zweiter
Grund kommt hinzu: die welsche Schweiz ist weit mehr in ihrer Literatur
von Frankreich abhängig als die deutsche Schweiz von Deutschland. Denn
trotz alles starken Kultureinflusses werden doch die Anregungen von Deutsch¬
land in der deutschen Schweiz selbständiger verarbeitet. Der deutsche Jndivi-



*) Z. B. von Roman Boos a, O. S. 66.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

Geßler, unter der Überschrift „Zwischen zwei Kulturen" (in dem Sammelband
„Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg" Seite 78 bis 88), wie
viel er der deutschen und der französischen Literatur verdanke. Diese Deutsch¬
schweizer beweisen damit die stärkere Fähigkeit des deutschen Geistes, fremden
Kulturen gerecht zu werden. Etwas äußerlich faßt Konrad Falke (Der
schweizerische Kulturwille, Zürich 1914) die schweizerische Kultur auf, wenn er
als ihr erstes Erfordernis den Unterricht in den drei Landessprachen für alle
Schweizer Gymnasien verlangt. Als wesentliches Hilfsmittel für die Schaffung
einer Schweizer Kultureinheit sieht er „ein für alle Gymnasien gleichlautendes
Lesebuch" an, „das aus den drei Literaturen in den drei Sprachen Original¬
proben enthält." (Seite 23). Er will sogar den Unterricht in den klassischen
Sprachen dieser Forderung zu Liebe einschränken. Falles Vorschlage
haben auch in der Schweiz Ablehnung erfahren.*) Als der nationale
Wille der Schweiz kann vielmehr gelten: 1. politisch zusammenzuhalten.
2. die demokratischen Einrichtungen des Landes zum Gedeihen des Vater¬
landes zu pflegen. 3. die kulturellen Gegensätze nicht gegen einander
auszuspielen, sondern zur Bereicherung des eigenen Wesens zu benutzen.
4. wenn möglich, darüber hinaus zur Versöhnung der Völker, vielleicht gar
zum Weltfrieden etwas beitragen zu können.

Eine starke Krisis bekam die nationale Einheit im Anfang des Weltkrieges.
Oeri hatte die Deutsch-Schweizer richtig beurteilt. Bei ihnen stand das Staats¬
gefühl voran. Aber über die Welsch-Schweizer hatte er sich getäuscht. Fast
ausnahmslos haben sie für Frankreich Partei ergriffen, ohne zu fragen, ob
dies den Deutsch-Schweizern gefallen werde. Die französischen Lügen über
deutsche Greuel sind dort in weitem Umfange geglaubt worden. Professor
Rappard in Genf erklärt selbst, es gelte den meisten Welsch-Schweizern als
eine ausgemachte Sache, „daß die Zentralmächte und in erster Linie Deutsch¬
land für diesen Krieg und für die ihn bezeichnende besondere Härte und grau¬
same Kriegführung verantwortlich sind." („Zur nationalen Verständigung und
Einigkeit", Zürich, 1915 Seite 29). Woher diese erstaunliche Leichtgläubigkeit
und Urteilslosigkeit? Sie ging soweit, daß die eidgenössische PostVerwaltung die
Versendung von Drucksachen über deutsche Greuel von Lausanne aus untersagen
mußte. Der erste Grund ist die südländische Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit
im Urteilen und Verurteilen. Das heißere Blut verhindert ein ruhiges nach¬
prüfen, eine objektive Kritik. Der Deutsch-Schweizer ist viel nüchterner; der
deutsche Geist der Kritik und Selbstkritik eignet ihm viel mehr. Als zweiter
Grund kommt hinzu: die welsche Schweiz ist weit mehr in ihrer Literatur
von Frankreich abhängig als die deutsche Schweiz von Deutschland. Denn
trotz alles starken Kultureinflusses werden doch die Anregungen von Deutsch¬
land in der deutschen Schweiz selbständiger verarbeitet. Der deutsche Jndivi-



*) Z. B. von Roman Boos a, O. S. 66.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329720"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_116" prev="#ID_115"> Geßler, unter der Überschrift &#x201E;Zwischen zwei Kulturen" (in dem Sammelband<lb/>
&#x201E;Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg" Seite 78 bis 88), wie<lb/>
viel er der deutschen und der französischen Literatur verdanke. Diese Deutsch¬<lb/>
schweizer beweisen damit die stärkere Fähigkeit des deutschen Geistes, fremden<lb/>
Kulturen gerecht zu werden. Etwas äußerlich faßt Konrad Falke (Der<lb/>
schweizerische Kulturwille, Zürich 1914) die schweizerische Kultur auf, wenn er<lb/>
als ihr erstes Erfordernis den Unterricht in den drei Landessprachen für alle<lb/>
Schweizer Gymnasien verlangt. Als wesentliches Hilfsmittel für die Schaffung<lb/>
einer Schweizer Kultureinheit sieht er &#x201E;ein für alle Gymnasien gleichlautendes<lb/>
Lesebuch" an, &#x201E;das aus den drei Literaturen in den drei Sprachen Original¬<lb/>
proben enthält." (Seite 23). Er will sogar den Unterricht in den klassischen<lb/>
Sprachen dieser Forderung zu Liebe einschränken. Falles Vorschlage<lb/>
haben auch in der Schweiz Ablehnung erfahren.*) Als der nationale<lb/>
Wille der Schweiz kann vielmehr gelten: 1. politisch zusammenzuhalten.<lb/>
2. die demokratischen Einrichtungen des Landes zum Gedeihen des Vater¬<lb/>
landes zu pflegen. 3. die kulturellen Gegensätze nicht gegen einander<lb/>
auszuspielen, sondern zur Bereicherung des eigenen Wesens zu benutzen.<lb/>
4. wenn möglich, darüber hinaus zur Versöhnung der Völker, vielleicht gar<lb/>
zum Weltfrieden etwas beitragen zu können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_117" next="#ID_118"> Eine starke Krisis bekam die nationale Einheit im Anfang des Weltkrieges.<lb/>
Oeri hatte die Deutsch-Schweizer richtig beurteilt. Bei ihnen stand das Staats¬<lb/>
gefühl voran. Aber über die Welsch-Schweizer hatte er sich getäuscht. Fast<lb/>
ausnahmslos haben sie für Frankreich Partei ergriffen, ohne zu fragen, ob<lb/>
dies den Deutsch-Schweizern gefallen werde. Die französischen Lügen über<lb/>
deutsche Greuel sind dort in weitem Umfange geglaubt worden. Professor<lb/>
Rappard in Genf erklärt selbst, es gelte den meisten Welsch-Schweizern als<lb/>
eine ausgemachte Sache, &#x201E;daß die Zentralmächte und in erster Linie Deutsch¬<lb/>
land für diesen Krieg und für die ihn bezeichnende besondere Härte und grau¬<lb/>
same Kriegführung verantwortlich sind." (&#x201E;Zur nationalen Verständigung und<lb/>
Einigkeit", Zürich, 1915 Seite 29). Woher diese erstaunliche Leichtgläubigkeit<lb/>
und Urteilslosigkeit? Sie ging soweit, daß die eidgenössische PostVerwaltung die<lb/>
Versendung von Drucksachen über deutsche Greuel von Lausanne aus untersagen<lb/>
mußte. Der erste Grund ist die südländische Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit<lb/>
im Urteilen und Verurteilen. Das heißere Blut verhindert ein ruhiges nach¬<lb/>
prüfen, eine objektive Kritik. Der Deutsch-Schweizer ist viel nüchterner; der<lb/>
deutsche Geist der Kritik und Selbstkritik eignet ihm viel mehr. Als zweiter<lb/>
Grund kommt hinzu: die welsche Schweiz ist weit mehr in ihrer Literatur<lb/>
von Frankreich abhängig als die deutsche Schweiz von Deutschland. Denn<lb/>
trotz alles starken Kultureinflusses werden doch die Anregungen von Deutsch¬<lb/>
land in der deutschen Schweiz selbständiger verarbeitet. Der deutsche Jndivi-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_12" place="foot"> *) Z. B. von Roman Boos a, O. S. 66.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland Geßler, unter der Überschrift „Zwischen zwei Kulturen" (in dem Sammelband „Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg" Seite 78 bis 88), wie viel er der deutschen und der französischen Literatur verdanke. Diese Deutsch¬ schweizer beweisen damit die stärkere Fähigkeit des deutschen Geistes, fremden Kulturen gerecht zu werden. Etwas äußerlich faßt Konrad Falke (Der schweizerische Kulturwille, Zürich 1914) die schweizerische Kultur auf, wenn er als ihr erstes Erfordernis den Unterricht in den drei Landessprachen für alle Schweizer Gymnasien verlangt. Als wesentliches Hilfsmittel für die Schaffung einer Schweizer Kultureinheit sieht er „ein für alle Gymnasien gleichlautendes Lesebuch" an, „das aus den drei Literaturen in den drei Sprachen Original¬ proben enthält." (Seite 23). Er will sogar den Unterricht in den klassischen Sprachen dieser Forderung zu Liebe einschränken. Falles Vorschlage haben auch in der Schweiz Ablehnung erfahren.*) Als der nationale Wille der Schweiz kann vielmehr gelten: 1. politisch zusammenzuhalten. 2. die demokratischen Einrichtungen des Landes zum Gedeihen des Vater¬ landes zu pflegen. 3. die kulturellen Gegensätze nicht gegen einander auszuspielen, sondern zur Bereicherung des eigenen Wesens zu benutzen. 4. wenn möglich, darüber hinaus zur Versöhnung der Völker, vielleicht gar zum Weltfrieden etwas beitragen zu können. Eine starke Krisis bekam die nationale Einheit im Anfang des Weltkrieges. Oeri hatte die Deutsch-Schweizer richtig beurteilt. Bei ihnen stand das Staats¬ gefühl voran. Aber über die Welsch-Schweizer hatte er sich getäuscht. Fast ausnahmslos haben sie für Frankreich Partei ergriffen, ohne zu fragen, ob dies den Deutsch-Schweizern gefallen werde. Die französischen Lügen über deutsche Greuel sind dort in weitem Umfange geglaubt worden. Professor Rappard in Genf erklärt selbst, es gelte den meisten Welsch-Schweizern als eine ausgemachte Sache, „daß die Zentralmächte und in erster Linie Deutsch¬ land für diesen Krieg und für die ihn bezeichnende besondere Härte und grau¬ same Kriegführung verantwortlich sind." („Zur nationalen Verständigung und Einigkeit", Zürich, 1915 Seite 29). Woher diese erstaunliche Leichtgläubigkeit und Urteilslosigkeit? Sie ging soweit, daß die eidgenössische PostVerwaltung die Versendung von Drucksachen über deutsche Greuel von Lausanne aus untersagen mußte. Der erste Grund ist die südländische Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit im Urteilen und Verurteilen. Das heißere Blut verhindert ein ruhiges nach¬ prüfen, eine objektive Kritik. Der Deutsch-Schweizer ist viel nüchterner; der deutsche Geist der Kritik und Selbstkritik eignet ihm viel mehr. Als zweiter Grund kommt hinzu: die welsche Schweiz ist weit mehr in ihrer Literatur von Frankreich abhängig als die deutsche Schweiz von Deutschland. Denn trotz alles starken Kultureinflusses werden doch die Anregungen von Deutsch¬ land in der deutschen Schweiz selbständiger verarbeitet. Der deutsche Jndivi- *) Z. B. von Roman Boos a, O. S. 66.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/54
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/54>, abgerufen am 15.01.2025.