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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

bewußt oder unbewußt mit reichsfeindlichen Tendenzen zusammenhängen, ist
ihm schwer klar zu machen. In der Schweiz gibt es keinen Schweizer, der
ernstlich etwa in den welschen Kantonen eine staatliche Angliederung an Frank¬
reich oder im Tessin an Italien oder in Schaffhausen an Deutschland befür¬
wortete. Er verkennt die eigenartig schwierige Lage Deutschlands oder löst sie
sehr einfach mit der Forderung eines Plebiszits für die Bevölkerung in Elsaß-
Lothringen, in den polnischen Gebieten und in Nord-Schleswig. Daß durch
jede Volksabstimmung eine Vergewaltigung beträchtlicher Minoritäten hervor¬
gerufen wird und die rechtlichen Schwierigkeiten unlösbar werden, wird
gewöhnlich übersehen. ,

Eine eigentliche Gefahr, daß etwa die deutsche Sprache und Kultur in
der Schweiz allmählich von der französischen aufgesogen werde, besteht nicht.
Zwar dringt an der Sprachgrenze im Kanton Bern das Französische um ein
weniges vor. Dies hängt mit der Ausbreitung der Uhrenindustrie zusammen,
die welsch'schweizerische Arbeiter in deutsch-schweizerische Gegenden führt. Dafür
weicht allmählich in Graubünden die zwischen dem Italienischen und Lateinischen
stehende romanische Sprache zugunsten des Deutschen, da sie einen zu kleinen
Sprachsplitter bildet und die romanisch Sprechenden daher auf eine zweite
Sprache angewiesen sind, wenn sie im sozialen Leben vorwärts kommen wollen.

Schon 1913 versicherte Albert Oeri in den Süddeutschen Monatsheften,
August S. 587: "Wir deutsche Schweizer wollen unsern welschen Landsleuten
durch Parteinahme für Deutschland nicht weh tun, so wenig wie sie uns durch
Parteinahme für Frankreich. Denn, was man auch draußen darüber denken
mag: der Schweizer fremder Zunge ist dem Schweizer lieber als der Ausländer
gleicher Zunge. Das beruht nicht auf kühlem Denken, sondern auf sicherm
seelischen Empfinden."

Diese Stimmung des Schweizer Volks haben wir uns vielleicht nicht
genügend klar gemacht. Und doch ist sie das einzig Mögliche für einen Staat,
der ernstlich zusammenhalten will. Der Staatsgedanke muß das zusammenhaltende
Moment sein. Wenn der Kulturgedanke in Konflikt mit dem Staatsgedanken
tritt, muß er so gewandelt werden, daß dieser Konflikt überwunden wird. So
ist auch aus dem Schweizer Staatsgedanken heraus der Kulturgedanke formuliert
worden. Die Schweiz hat die Aufgabe, das germanische und das romanische
Wesen zu versöhnen, die beiden sich gegenseitig bekämpfenden Kulturen, die
doch auf Ergänzung angewiesen sind, auszugleichen. *) In der Tat kann man
sagen, daß auf diese Weise aus der Not eine Tugend gemacht ist. Der Staats¬
gedanke muß mit dem Kulturgedanken innerlich ausgeglichen werden. Die
Kulturaufgabe der Schweiz läßt sich schwerlich anders formulieren. Deutsche
Gründlichkeit und Gedankenschwere soll mit französischer Eleganz und Form-



*) Eduard Blonder: Die Schweiz als Versöhnerin und Vermittlerin zwischen Frankreich
und Deutschland, Zürich 1915.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

bewußt oder unbewußt mit reichsfeindlichen Tendenzen zusammenhängen, ist
ihm schwer klar zu machen. In der Schweiz gibt es keinen Schweizer, der
ernstlich etwa in den welschen Kantonen eine staatliche Angliederung an Frank¬
reich oder im Tessin an Italien oder in Schaffhausen an Deutschland befür¬
wortete. Er verkennt die eigenartig schwierige Lage Deutschlands oder löst sie
sehr einfach mit der Forderung eines Plebiszits für die Bevölkerung in Elsaß-
Lothringen, in den polnischen Gebieten und in Nord-Schleswig. Daß durch
jede Volksabstimmung eine Vergewaltigung beträchtlicher Minoritäten hervor¬
gerufen wird und die rechtlichen Schwierigkeiten unlösbar werden, wird
gewöhnlich übersehen. ,

Eine eigentliche Gefahr, daß etwa die deutsche Sprache und Kultur in
der Schweiz allmählich von der französischen aufgesogen werde, besteht nicht.
Zwar dringt an der Sprachgrenze im Kanton Bern das Französische um ein
weniges vor. Dies hängt mit der Ausbreitung der Uhrenindustrie zusammen,
die welsch'schweizerische Arbeiter in deutsch-schweizerische Gegenden führt. Dafür
weicht allmählich in Graubünden die zwischen dem Italienischen und Lateinischen
stehende romanische Sprache zugunsten des Deutschen, da sie einen zu kleinen
Sprachsplitter bildet und die romanisch Sprechenden daher auf eine zweite
Sprache angewiesen sind, wenn sie im sozialen Leben vorwärts kommen wollen.

Schon 1913 versicherte Albert Oeri in den Süddeutschen Monatsheften,
August S. 587: „Wir deutsche Schweizer wollen unsern welschen Landsleuten
durch Parteinahme für Deutschland nicht weh tun, so wenig wie sie uns durch
Parteinahme für Frankreich. Denn, was man auch draußen darüber denken
mag: der Schweizer fremder Zunge ist dem Schweizer lieber als der Ausländer
gleicher Zunge. Das beruht nicht auf kühlem Denken, sondern auf sicherm
seelischen Empfinden."

Diese Stimmung des Schweizer Volks haben wir uns vielleicht nicht
genügend klar gemacht. Und doch ist sie das einzig Mögliche für einen Staat,
der ernstlich zusammenhalten will. Der Staatsgedanke muß das zusammenhaltende
Moment sein. Wenn der Kulturgedanke in Konflikt mit dem Staatsgedanken
tritt, muß er so gewandelt werden, daß dieser Konflikt überwunden wird. So
ist auch aus dem Schweizer Staatsgedanken heraus der Kulturgedanke formuliert
worden. Die Schweiz hat die Aufgabe, das germanische und das romanische
Wesen zu versöhnen, die beiden sich gegenseitig bekämpfenden Kulturen, die
doch auf Ergänzung angewiesen sind, auszugleichen. *) In der Tat kann man
sagen, daß auf diese Weise aus der Not eine Tugend gemacht ist. Der Staats¬
gedanke muß mit dem Kulturgedanken innerlich ausgeglichen werden. Die
Kulturaufgabe der Schweiz läßt sich schwerlich anders formulieren. Deutsche
Gründlichkeit und Gedankenschwere soll mit französischer Eleganz und Form-



*) Eduard Blonder: Die Schweiz als Versöhnerin und Vermittlerin zwischen Frankreich
und Deutschland, Zürich 1915.
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[0052] Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland bewußt oder unbewußt mit reichsfeindlichen Tendenzen zusammenhängen, ist ihm schwer klar zu machen. In der Schweiz gibt es keinen Schweizer, der ernstlich etwa in den welschen Kantonen eine staatliche Angliederung an Frank¬ reich oder im Tessin an Italien oder in Schaffhausen an Deutschland befür¬ wortete. Er verkennt die eigenartig schwierige Lage Deutschlands oder löst sie sehr einfach mit der Forderung eines Plebiszits für die Bevölkerung in Elsaß- Lothringen, in den polnischen Gebieten und in Nord-Schleswig. Daß durch jede Volksabstimmung eine Vergewaltigung beträchtlicher Minoritäten hervor¬ gerufen wird und die rechtlichen Schwierigkeiten unlösbar werden, wird gewöhnlich übersehen. , Eine eigentliche Gefahr, daß etwa die deutsche Sprache und Kultur in der Schweiz allmählich von der französischen aufgesogen werde, besteht nicht. Zwar dringt an der Sprachgrenze im Kanton Bern das Französische um ein weniges vor. Dies hängt mit der Ausbreitung der Uhrenindustrie zusammen, die welsch'schweizerische Arbeiter in deutsch-schweizerische Gegenden führt. Dafür weicht allmählich in Graubünden die zwischen dem Italienischen und Lateinischen stehende romanische Sprache zugunsten des Deutschen, da sie einen zu kleinen Sprachsplitter bildet und die romanisch Sprechenden daher auf eine zweite Sprache angewiesen sind, wenn sie im sozialen Leben vorwärts kommen wollen. Schon 1913 versicherte Albert Oeri in den Süddeutschen Monatsheften, August S. 587: „Wir deutsche Schweizer wollen unsern welschen Landsleuten durch Parteinahme für Deutschland nicht weh tun, so wenig wie sie uns durch Parteinahme für Frankreich. Denn, was man auch draußen darüber denken mag: der Schweizer fremder Zunge ist dem Schweizer lieber als der Ausländer gleicher Zunge. Das beruht nicht auf kühlem Denken, sondern auf sicherm seelischen Empfinden." Diese Stimmung des Schweizer Volks haben wir uns vielleicht nicht genügend klar gemacht. Und doch ist sie das einzig Mögliche für einen Staat, der ernstlich zusammenhalten will. Der Staatsgedanke muß das zusammenhaltende Moment sein. Wenn der Kulturgedanke in Konflikt mit dem Staatsgedanken tritt, muß er so gewandelt werden, daß dieser Konflikt überwunden wird. So ist auch aus dem Schweizer Staatsgedanken heraus der Kulturgedanke formuliert worden. Die Schweiz hat die Aufgabe, das germanische und das romanische Wesen zu versöhnen, die beiden sich gegenseitig bekämpfenden Kulturen, die doch auf Ergänzung angewiesen sind, auszugleichen. *) In der Tat kann man sagen, daß auf diese Weise aus der Not eine Tugend gemacht ist. Der Staats¬ gedanke muß mit dem Kulturgedanken innerlich ausgeglichen werden. Die Kulturaufgabe der Schweiz läßt sich schwerlich anders formulieren. Deutsche Gründlichkeit und Gedankenschwere soll mit französischer Eleganz und Form- *) Eduard Blonder: Die Schweiz als Versöhnerin und Vermittlerin zwischen Frankreich und Deutschland, Zürich 1915.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/52>, abgerufen am 15.01.2025.