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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Vie Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

Polemik oder Beschimpfung eines der kriegführenden Staaten. Auch dies liegt
natürlich im eigenen Interesse des Landes, denn eine offene Propaganda würde
die Bevölkerung selbst zerklüften oder das Land in kriegerische Verwicklungen
hineinziehen.

Von dieser offiziellen Neutralität ist die persönliche Stellungnahme scharf
zu unterscheiden. Auch hier liegt es ähnlich wie im Jahre 1870. Damals
ergriffen durchaus nicht alle Deutsch-Schweizer restlos für Deutschland Partei.
Es waren in erster Linie die Gebildeten, besonders die Gelehrten, deren Sym¬
pathien auf Deutschlands Seite standen. Viele Kaufleute hatten Handelsbeziehungen
nach Frankreich, und das hatte einen bedeutenden Einfluß auf die Stimmung.
So kam es, daß die Parteinahme für und wider manchen Stammtisch zerstörte,
ja zerklüftend bis in die Kreise der Familie wirkte. Damals stellten sich in
Zürich Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller auf Deutschlands Seite.
Meyer dichtete in jener Zeit "Huttens letzte Tage" und bekannte sein deutsches
Empfinden, als er schrieb: "Von einem innerlich gereiften Stammesgefühl jetzt
mächtig ergriffen, tat ich bei diesem weltgeschichtlichen Anlaß das französische
Wesen ab und innerlich genötigt, dieser Sinnesänderung Ausdruck zu geben,
dichtete ich Huttens letzte Tage". Aber C. F. Meyer und G. Keller schwammen
damals gegen den Strom in Zürich. Schon diese Erinnerungen halten uns
dazu führen sollen, nicht gar zu viel von der Stimmung in der Schweiz zu
erhoffen.

Wir müssen uns klar machen, daß für jeden Staat die Sorge um das
eigene Wohl und Wehe voranstehen muß. So wenig einer rein egoistischen
Politik damit das Wort geredet werden soll, steht doch für jeden Staatsbürger
die Einheit in seinem eigenen Lande voran. Hier liegen nun eigenartige
Schwierigkeiten für die Schweiz vor. Die Einheit des Landes ruht nicht auf
der Sprachgemeinschaft, sondern auf der Geschichte, die die 22 Kantone zu einem
Ganzen verschmolzen hat. 70 Prozent Deutschredende stehen 22 Prozent
französisch Sprechenden, 7 Prozent italienischen Schweizern und 1 Prozent Räto-
Romanen im Kanton Graubünden gegenüber. Ein eigentlicher Sprachenkampf
wird nicht geführt. Vielmehr gilt es als Pflicht, daß der Deutschschweizer sich
eine möglichst große Vollendung im Französischsprechen erwirbt. Der französische
Schweizer empfindet dieselbe Pflicht, wenn er auch im Durchschnitt nicht die¬
selbe Fähigkeit sich aneignet, die deutsche Sprache zu beherrschen. Wo Deutsch¬
und Welsch - Schweizer sich unterhalten, wird daher das Französische
vorherrschen. Der Schweizer pflegt es meist nicht zu verstehen, daß Deutschland
nicht dieselbe Gleichgültigkeit in der Sprachenfrage walten läßt wie er. Er
wundert sich, daß man im Elsaß, in Mülhausen und in Lothringen, in Metz
nicht jeden reden läßt wie er will; er zuckt die Achseln über die Bemühungen
des preußischen Staates in Posen, der deutschen Sprache zu ihrem Rechte zu
verhelfen. Daß Deutschland auf einer einheitlichen Kultur und Sprache beruht,
und daß die Versuche, eine fremde Sprache im Deutschen Reich zu stärken,


Vie Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

Polemik oder Beschimpfung eines der kriegführenden Staaten. Auch dies liegt
natürlich im eigenen Interesse des Landes, denn eine offene Propaganda würde
die Bevölkerung selbst zerklüften oder das Land in kriegerische Verwicklungen
hineinziehen.

Von dieser offiziellen Neutralität ist die persönliche Stellungnahme scharf
zu unterscheiden. Auch hier liegt es ähnlich wie im Jahre 1870. Damals
ergriffen durchaus nicht alle Deutsch-Schweizer restlos für Deutschland Partei.
Es waren in erster Linie die Gebildeten, besonders die Gelehrten, deren Sym¬
pathien auf Deutschlands Seite standen. Viele Kaufleute hatten Handelsbeziehungen
nach Frankreich, und das hatte einen bedeutenden Einfluß auf die Stimmung.
So kam es, daß die Parteinahme für und wider manchen Stammtisch zerstörte,
ja zerklüftend bis in die Kreise der Familie wirkte. Damals stellten sich in
Zürich Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller auf Deutschlands Seite.
Meyer dichtete in jener Zeit „Huttens letzte Tage" und bekannte sein deutsches
Empfinden, als er schrieb: „Von einem innerlich gereiften Stammesgefühl jetzt
mächtig ergriffen, tat ich bei diesem weltgeschichtlichen Anlaß das französische
Wesen ab und innerlich genötigt, dieser Sinnesänderung Ausdruck zu geben,
dichtete ich Huttens letzte Tage". Aber C. F. Meyer und G. Keller schwammen
damals gegen den Strom in Zürich. Schon diese Erinnerungen halten uns
dazu führen sollen, nicht gar zu viel von der Stimmung in der Schweiz zu
erhoffen.

Wir müssen uns klar machen, daß für jeden Staat die Sorge um das
eigene Wohl und Wehe voranstehen muß. So wenig einer rein egoistischen
Politik damit das Wort geredet werden soll, steht doch für jeden Staatsbürger
die Einheit in seinem eigenen Lande voran. Hier liegen nun eigenartige
Schwierigkeiten für die Schweiz vor. Die Einheit des Landes ruht nicht auf
der Sprachgemeinschaft, sondern auf der Geschichte, die die 22 Kantone zu einem
Ganzen verschmolzen hat. 70 Prozent Deutschredende stehen 22 Prozent
französisch Sprechenden, 7 Prozent italienischen Schweizern und 1 Prozent Räto-
Romanen im Kanton Graubünden gegenüber. Ein eigentlicher Sprachenkampf
wird nicht geführt. Vielmehr gilt es als Pflicht, daß der Deutschschweizer sich
eine möglichst große Vollendung im Französischsprechen erwirbt. Der französische
Schweizer empfindet dieselbe Pflicht, wenn er auch im Durchschnitt nicht die¬
selbe Fähigkeit sich aneignet, die deutsche Sprache zu beherrschen. Wo Deutsch¬
und Welsch - Schweizer sich unterhalten, wird daher das Französische
vorherrschen. Der Schweizer pflegt es meist nicht zu verstehen, daß Deutschland
nicht dieselbe Gleichgültigkeit in der Sprachenfrage walten läßt wie er. Er
wundert sich, daß man im Elsaß, in Mülhausen und in Lothringen, in Metz
nicht jeden reden läßt wie er will; er zuckt die Achseln über die Bemühungen
des preußischen Staates in Posen, der deutschen Sprache zu ihrem Rechte zu
verhelfen. Daß Deutschland auf einer einheitlichen Kultur und Sprache beruht,
und daß die Versuche, eine fremde Sprache im Deutschen Reich zu stärken,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/51>, abgerufen am 15.01.2025.