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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Volksmärchen der Bulgaren

Ort; sie werden umgedichtet, vertieft, verflacht, mit ähnlichen vermischt und schließlich
gar in Fetzen gerissen und endlich vergessen, bis dasselbe Märchen vielleicht
zum zweiten Male in einem oder dem andern Volke auftaucht. Ganz unver¬
ändert wird ein Märchen von keinem Volk, keiner dörflichen oder städtischen
Gemeinschaft, ja von keinem einzelnen aufgenommen und weitergegeben; und
insofern die Abänderungen des Überkommenen -- meist unbewußt -- unter der
Mitwirkung der völkischen und Stammesart erfolgen, kann man denn doch
wieder von englischen und deutschen, ja von schwäbischen und pommerschen
Märchen sprechen. Die Grundzüge und die meisten Stoffelemente bleiben bei¬
sammen und wandern von Land zu Land, höchstens in der Auswahl verrät
sich hier und da der Charakter dei einzelnen Stammes; aber der menschliche
Gehalt, mit dem die Handlung erfüllt wird, und der im letzten Grunde doch
die äußere und innere Form der Erzählung bestimmt, läßt die Sonderart
des Volkes eben schon stärker hervortreten.

So finden wir auch bei den Bulgaren alte Bekannte aus unserer Märchen¬
welt wieder; da ist das kluge Mädchen, das zum Zaren kommen soll: "Reitend
und nicht reitend, mit Geschenk und ohne Geschenk, von den Leuten empfangen
und nicht empfangen"; sie kommt rücklings auf einer Ziege sitzend, läßt ein
paar gefangene Hasen los, hinter denen die Leute, die sie empfangen sollen,
sofort herlaufen, und reicht dem Herrn ein paar Tauben hin, um sie alsbald
fliegen zu lassen. So hat sie alle Aufgaben gelöst und wird Zarin. Du
finden wir weiter dankbare Tote und dankbare Tiere, die dem Helden bei
schwierigen Proben helfen, die treuen Brüder, die einander aus Todesnot
helfen, und die ungetreuen Genossen, die den starken Helden doch nicht dauernd
unglücklich machen können. Da finden wir einzelne Züge aus dem Aschen¬
brödel- und Schneewittchenmärchen und vor allem die Menschen mit den wunder¬
baren Eigenschaften. Das bunte Gemisch der Märchentypen und der einzelnen
Züge, die bald da, bald dorr eingeflochten werden, ist nicht zu verwundern,
wenn wir bedenken, daß die Bulgaren von einem slavischen Volke abstammen,
das eine finnisch-ugrische Herrenkaste in sich aufgesogen hat; daß sie seit uralter
Zeit im Austausch mit den Magyaren, in neuerer Zeit mit den Türken und
der von ihnen vermittelten östlichen Kultur gestanden haben; daß sie in
Mazedonien mit Serben, Albanern und Aromunen zusammenstoßen; daß vor
allen Dingen von Süden her griechische Einflüsse einwirken und daß sich auf
ihrem Boden Islam und Christentum begegnen. So finden wir eine merk¬
würdige Geschichte von drei Brüdern in der Höhle eines Schuglan, das heißt
eines Ungeheuers, das in Felsklippen wohnt, nachts umgeht und auf
Menschen Jagd macht. Der Name ist nicht slavisch, die Gestalt selber aber
uns von Kindheit an vertraut: denn wenn der Dämon zwei von den Brüdern
des nachts nacheinander aufspießt, am Feuer brät und verzehrt, wenn der
dritte ihm den Spieß entreißt und ihn damit blendet, um sich am ander"
Morgen von einem feisten Widder aus der Mordhöhle schleppen zu lassen, so


Volksmärchen der Bulgaren

Ort; sie werden umgedichtet, vertieft, verflacht, mit ähnlichen vermischt und schließlich
gar in Fetzen gerissen und endlich vergessen, bis dasselbe Märchen vielleicht
zum zweiten Male in einem oder dem andern Volke auftaucht. Ganz unver¬
ändert wird ein Märchen von keinem Volk, keiner dörflichen oder städtischen
Gemeinschaft, ja von keinem einzelnen aufgenommen und weitergegeben; und
insofern die Abänderungen des Überkommenen — meist unbewußt — unter der
Mitwirkung der völkischen und Stammesart erfolgen, kann man denn doch
wieder von englischen und deutschen, ja von schwäbischen und pommerschen
Märchen sprechen. Die Grundzüge und die meisten Stoffelemente bleiben bei¬
sammen und wandern von Land zu Land, höchstens in der Auswahl verrät
sich hier und da der Charakter dei einzelnen Stammes; aber der menschliche
Gehalt, mit dem die Handlung erfüllt wird, und der im letzten Grunde doch
die äußere und innere Form der Erzählung bestimmt, läßt die Sonderart
des Volkes eben schon stärker hervortreten.

So finden wir auch bei den Bulgaren alte Bekannte aus unserer Märchen¬
welt wieder; da ist das kluge Mädchen, das zum Zaren kommen soll: „Reitend
und nicht reitend, mit Geschenk und ohne Geschenk, von den Leuten empfangen
und nicht empfangen"; sie kommt rücklings auf einer Ziege sitzend, läßt ein
paar gefangene Hasen los, hinter denen die Leute, die sie empfangen sollen,
sofort herlaufen, und reicht dem Herrn ein paar Tauben hin, um sie alsbald
fliegen zu lassen. So hat sie alle Aufgaben gelöst und wird Zarin. Du
finden wir weiter dankbare Tote und dankbare Tiere, die dem Helden bei
schwierigen Proben helfen, die treuen Brüder, die einander aus Todesnot
helfen, und die ungetreuen Genossen, die den starken Helden doch nicht dauernd
unglücklich machen können. Da finden wir einzelne Züge aus dem Aschen¬
brödel- und Schneewittchenmärchen und vor allem die Menschen mit den wunder¬
baren Eigenschaften. Das bunte Gemisch der Märchentypen und der einzelnen
Züge, die bald da, bald dorr eingeflochten werden, ist nicht zu verwundern,
wenn wir bedenken, daß die Bulgaren von einem slavischen Volke abstammen,
das eine finnisch-ugrische Herrenkaste in sich aufgesogen hat; daß sie seit uralter
Zeit im Austausch mit den Magyaren, in neuerer Zeit mit den Türken und
der von ihnen vermittelten östlichen Kultur gestanden haben; daß sie in
Mazedonien mit Serben, Albanern und Aromunen zusammenstoßen; daß vor
allen Dingen von Süden her griechische Einflüsse einwirken und daß sich auf
ihrem Boden Islam und Christentum begegnen. So finden wir eine merk¬
würdige Geschichte von drei Brüdern in der Höhle eines Schuglan, das heißt
eines Ungeheuers, das in Felsklippen wohnt, nachts umgeht und auf
Menschen Jagd macht. Der Name ist nicht slavisch, die Gestalt selber aber
uns von Kindheit an vertraut: denn wenn der Dämon zwei von den Brüdern
des nachts nacheinander aufspießt, am Feuer brät und verzehrt, wenn der
dritte ihm den Spieß entreißt und ihn damit blendet, um sich am ander»
Morgen von einem feisten Widder aus der Mordhöhle schleppen zu lassen, so


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[0041] Volksmärchen der Bulgaren Ort; sie werden umgedichtet, vertieft, verflacht, mit ähnlichen vermischt und schließlich gar in Fetzen gerissen und endlich vergessen, bis dasselbe Märchen vielleicht zum zweiten Male in einem oder dem andern Volke auftaucht. Ganz unver¬ ändert wird ein Märchen von keinem Volk, keiner dörflichen oder städtischen Gemeinschaft, ja von keinem einzelnen aufgenommen und weitergegeben; und insofern die Abänderungen des Überkommenen — meist unbewußt — unter der Mitwirkung der völkischen und Stammesart erfolgen, kann man denn doch wieder von englischen und deutschen, ja von schwäbischen und pommerschen Märchen sprechen. Die Grundzüge und die meisten Stoffelemente bleiben bei¬ sammen und wandern von Land zu Land, höchstens in der Auswahl verrät sich hier und da der Charakter dei einzelnen Stammes; aber der menschliche Gehalt, mit dem die Handlung erfüllt wird, und der im letzten Grunde doch die äußere und innere Form der Erzählung bestimmt, läßt die Sonderart des Volkes eben schon stärker hervortreten. So finden wir auch bei den Bulgaren alte Bekannte aus unserer Märchen¬ welt wieder; da ist das kluge Mädchen, das zum Zaren kommen soll: „Reitend und nicht reitend, mit Geschenk und ohne Geschenk, von den Leuten empfangen und nicht empfangen"; sie kommt rücklings auf einer Ziege sitzend, läßt ein paar gefangene Hasen los, hinter denen die Leute, die sie empfangen sollen, sofort herlaufen, und reicht dem Herrn ein paar Tauben hin, um sie alsbald fliegen zu lassen. So hat sie alle Aufgaben gelöst und wird Zarin. Du finden wir weiter dankbare Tote und dankbare Tiere, die dem Helden bei schwierigen Proben helfen, die treuen Brüder, die einander aus Todesnot helfen, und die ungetreuen Genossen, die den starken Helden doch nicht dauernd unglücklich machen können. Da finden wir einzelne Züge aus dem Aschen¬ brödel- und Schneewittchenmärchen und vor allem die Menschen mit den wunder¬ baren Eigenschaften. Das bunte Gemisch der Märchentypen und der einzelnen Züge, die bald da, bald dorr eingeflochten werden, ist nicht zu verwundern, wenn wir bedenken, daß die Bulgaren von einem slavischen Volke abstammen, das eine finnisch-ugrische Herrenkaste in sich aufgesogen hat; daß sie seit uralter Zeit im Austausch mit den Magyaren, in neuerer Zeit mit den Türken und der von ihnen vermittelten östlichen Kultur gestanden haben; daß sie in Mazedonien mit Serben, Albanern und Aromunen zusammenstoßen; daß vor allen Dingen von Süden her griechische Einflüsse einwirken und daß sich auf ihrem Boden Islam und Christentum begegnen. So finden wir eine merk¬ würdige Geschichte von drei Brüdern in der Höhle eines Schuglan, das heißt eines Ungeheuers, das in Felsklippen wohnt, nachts umgeht und auf Menschen Jagd macht. Der Name ist nicht slavisch, die Gestalt selber aber uns von Kindheit an vertraut: denn wenn der Dämon zwei von den Brüdern des nachts nacheinander aufspießt, am Feuer brät und verzehrt, wenn der dritte ihm den Spieß entreißt und ihn damit blendet, um sich am ander» Morgen von einem feisten Widder aus der Mordhöhle schleppen zu lassen, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/41>, abgerufen am 15.01.2025.